Die vorletzten Tage der Menschheit

In Österreich gibt es einen Ort, in dem einmal im Jahr nachgedacht wird: das Bergdorf Alpbach. Hier versuchen Intellektuelle einen Sommer lang, die Welt zu retten – bis die Elite aufkreuzt.

Von Solmaz Khorsand (Text) und Andrei Pungovschi (Bilder), 25.09.2018

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Die vorletzten Tage der Menschheit
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Der «Tiroltag» ist der offizielle Beginn des Forums Alpbach. Nichts entfesselt mehr den Geist des Europäischen Forums als Tiroler Schützen und Blasmusikkapelle.

975 Meter über dem Meeresspiegel liegt Österreichs «safe space». Auf dieser Höhe traut man sich seit 73 Jahren, den Mund aufzumachen. Hier, in den Kitzbüheler Alpen, findet jeden Sommer siebzehn Tage lang das Europäische Forum Alpbach statt.

Alpbach hat viele Spitznamen. Als «Davos für Nette» wird der Kongress bezeichnet, als «Summersplash für Erwachsene», als «Ferienlager für Elitekinder». Ursprünglich hatten sich hier nach dem Zweiten Weltkrieg Österreichs hellste Köpfe aus allen Disziplinen getroffen. Sie wollten den Geist eines vereinten Europas beschwören. Ohne Maulkorb, ohne Denkverbote, ohne Hemmungen. Sie philosophierten, stritten und betranken sich in dem kleinen Bergdorf für eine bessere Welt. Zu den Teilnehmern gehörten anfangs vor allem junge Menschen aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Das Forum war ihre Oase. Es war der Gegenentwurf zu den Scheuklappen Österreichs. Auch heuer will es das sein, in einer Zeit, in der Österreich unter dem Motto «ein Europa, das schützt» den EU-Ratsvorsitz innehat.

5300 Menschen sind dieses Jahr nach Alpbach gekommen, in das Dorf mit den 2300 Einwohnern, den schmucken Holzhäuschen und den grünen Almen. Unter den Gästen: knapp 700 eingeladene Studenten aus 92 Ländern. Sie, wird betont, sind das Herzstück des Forums. Sie sollen hier in Seminaren lernen, sich austauschen und Kontakte knüpfen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, so das Mantra.

Das ist die eine Seite von Alpbach.

Die Utopie.

Die andere Seite zeigt sich nach der ersten Woche, wenn die Seminare der Studenten ihren Ausklang finden. Dann starten die Panels zu Gesundheit, Technologie, Politik, Wirtschaft und Finanzen.

Dann wird aus dem Dorf der Denker über Nacht das Dorf des österreichischen Klüngels.

Die Realität.

Alles, was Rang und Namen hat oder gerne hätte, tanzt hier an. Präsidenten, Ministerinnen, Chefredaktoren, Grossindustrielle, Generäle. Und ihre Entourage. Keiner lässt sich das alljährliche Schaulaufen nehmen. Die Profis geben den Takt an, die Anfänger stolpern nach. Am Ende tanzen sie alle den Walzer unter Freunden oder, wie man hier sagt, den Walzer der «Verhaberung». Ihr Parkett sind die 200 Meter zwischen Kongresszentrum und Absturzkaschemme Jakober. Auf diesen 200 Metern offenbart sich Österreich.

Für Karl Kraus eine ideale Kulisse. 1922 hat der Autor seinen Landsleuten den Spiegel vorgehalten. In seinem Untergangsdrama «Die letzten Tage der Menschheit» rekapituliert er in 220 losen Szenen den Ersten Weltkrieg. Bissig und resignierend zieht er alle für die Katastrophe zur Verantwortung: die geltungssüchtige Elite, die kriegsgeilen Medien und die ignoranten Zivilisten. Das Europäische Forum Alpbach hat Kraus’ Monumentalwerk dieses Jahr einen Schwerpunkt gewidmet.

Wäre er noch am Leben, hätte sein Epos in Alpbach eine Fortsetzung gefunden. In den folgenden zwölf Szenen etwa.

I. Europas Patriotin

«Kommt euer Präsident? Eigentlich bin ich nur seinetwegen da», sagt Rongkun. Sie hätte ausschlafen können. Heute ist Sonntag, und die Seminare starten erst um 11 Uhr, nicht um 9.30 Uhr wie in den vergangenen vier Tagen. Rongkun gähnt. Es ist 10 Uhr, und die chinesische Linguistikstudentin steht in der prallen Sonne auf dem Dorfplatz. Um sie herum Männer in Tracht, Frauen im Dirndl. Selbst ihre Kolleginnen haben sich ins alpine Korsett gezwängt. Rongkun steht verschlafen da mit ausgewaschenen Jeans und weiter, gestreifter Bluse. Sie schaut auf die Bühne. Die Sonne blendet sie. Es ist Zeit, den Schirm aufzuspannen. Sie weiss, sie sieht aus wie ein Klischee. Eine zierliche Chinesin mit Kamera und Regenschirm in einem europäischen Bergdorf. Egal.

Hinter die Tiroler Schützen hat sie sich platziert. Sie mustert die Männer mit der ledrigen Haut, den weissen Stützstrümpfen und den kunstvollen Hüten, die drapiert sind mit Federn, Blumen und Borsten und aussehen, als hätte alles, was bisher im Leben seines Trägers erlegt wurde, auf den wenigen Zentimetern Filzstoff verewigt werden müssen.

Die Schützen sind das Highlight des «Tiroltages», der offiziellen Eröffnung des Europäischen Forums Alpbach. Zweimal schiessen sie am Dorfplatz in die Luft, dann marschieren die Gäste hinauf zum Kongresszentrum. So will es der Brauch.

Die Würdenträger täten sich auf die Begegnungen mit den Studenten freuen, versichern sie. Ihre Securitys weniger.

Vor ein paar Tagen fand schon einmal eine «offizielle» Eröffnung statt. Da hat Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz im grossen Saal des Kongresszentrums eine Rede zur Welt gehalten. Den Geist von Alpbach konnte das nicht entfesseln. Das gelingt nur Tiroler Schützen.

Rongkun stöhnt. Sie erkennt niemanden der Gäste. Vorne bei der Kirche, beim kleinen Abstellhäuschen, haben sich alle Persönlichkeiten auf der provisorischen Bühne aufgefädelt. Der Bischof, der Bürgermeister, die Landeshauptleute aus Tirol, Südtirol und dem Trentino und der Präsident des Forums. Den erkennt sie, den hat sie schon einmal gesehen, «Santa Claus» nennen ihn einige Studenten.

Rongkun ist enttäuscht. Kein österreichischer Bundespräsident. Dafür Reden in Sprachen, die sie nicht versteht. Das Wort Europa fällt immer wieder. Auch die Worte Resilienz und Diversität. Das kriegt sie noch mit, sind es doch die Themen des diesjährigen Forums. Den Teil von der offenen Gesellschaft, Tirols Energieautonomie bis 2050 und einem Europa der Kompromisse versteht sie schon nicht mehr.

Nach einer Stunde ist die Show vorbei.
Es folgt der Einsatz der Blasmusikkapelle.
Die Musiker stimmen die Tiroler Landeshymne an.
Die Politiker singen mit.
Danach folgt die österreichische Nationalhymne.
Die Politiker bewegen ihre Lippen.
Zum Schluss kommt die Europahymne.
Die Lippen der Politiker bleiben verschlossen.

Rongkun jauchzt. Sie erkennt Beethovens Neunte, «Ode an die Freude». Leise singt sie zur Melodie. Europas Hymne beseelt die Chinesin.

Immerhin eine.

II. Jurassic Park

Erhard Busek zittert mit seinem Stock durch das Foyer des Kongresszentrums. Heute war die offizielle Eröffnung des Forums. Die Tiroler Schützen haben zweimal in die Luft geschossen, die Landesfürsten Marillenschnaps getrunken, und jetzt sind sie alle hier, um bei Weisswurst und Brezeln den europäischen Gedanken zu zelebrieren.

Erhard Busek durchforstet den Raum nach bekannten Gesichtern. Er strahlt wie ein Junge vor dem Ausblasen der Kerzen auf der Geburtstagsfeier.
Busek war einmal Chef des Forums Alpbach. Er war auch Österreichs Wissenschaftsminister, Vizekanzler und Obmann der konservativen ÖVP. Kurz: Er war einmal wer in Österreich.

Heute ist er 77 Jahre alt. Und ihn sucht keiner mehr. Keine Journalistin sucht das Hintergrundgespräch mit ihm, kein Parteikollege seinen Rat, kein Student seine Aura. Erhard Busek hat sein politisches Ablaufdatum längst erreicht. Nirgendwo sonst wird das sichtbarer als in Alpbach.

Während Österreichs ehemaliger Präsident Heinz Fischer und der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wie Maskottchen auf Empfängen von Selfie zu Selfie dackeln, fristet der Rest der Politprominenz a. D. ein Dasein am Ende der Buffetschlange.

Caspar Einem, der ehemalige Innen- und Verkehrsminister und SPÖ-Vorzeigeintellektuelle, musste am Eingang die Frage einer jungen Rezeptionistin nach «Teilnehmer oder Besucher» mit «Vizepräsident des Forums» beantworten, um seinen Badge zu bekommen.

Karel Schwarzenberg, der ehemalige tschechische Aussenminister, wandert verwaist durch die Eingangshalle, auf der Suche nach jemandem, der ihn in den Hauptsaal bringt, wo er als Juror der «Speaker’s Night» rhetorische Talente küren soll. Er, der 80-Jährige, der kaum noch hört.

Zu stören scheint sie ihr Schattendasein nicht, zumindest jenseits der siebzig nehmen sie es gelassen. Die etwas jüngeren Auslaufmodelle dürsten noch nach der einstigen Aufmerksamkeit. Sie wollen noch einmal die Litanei ihres Lebens abspielen, all die Brutus-Momente in ihrer Partei rekonstruieren und ihre Legacy zurechtrücken.

Sie fürchten, dass der eine Fauxpas, die eine Spitze, das eine Foto das Einzige ist, was von ihrer Karriere übrig bleibt.

Doch was sie viel mehr fürchten, ist, dass am Ende noch nicht einmal das übrig bleibt und dass auch sie eines Tages durch das Foyer des Forums Alpbach zittern und sie keiner mehr anspricht.

III. Alpbachs Held

«Sie haben meine Frage nicht beantwortet», sagt Miroslav laut. Er steht am Türeingang des Seminars für «Ethics in Action: Economics and Sustainable Development». Der Raum im Erdgeschoss der Hauptschule ist voll belegt, inklusive Fussboden und Fensterbank. Auf den Flur dampft der Schweiss der knapp hundert Studenten heraus. Ihre Körper dünsten das Bier und die Käsespätzle der Vortage aus.

«Beantworten Sie meine Frage!», fordert Miroslav den Vortragenden noch einmal auf. «Ihre Meinung ist valide, aber ihr Argument stimmt einfach nicht», kontert Anthony Annett bestimmt. Für ihn ist die Diskussion beendet. Seit einer Stunde referiert der Amerikaner über die verkannte christliche Soziallehre und bricht eine Lanze für Geldleistungen an sozial Schwache. Wer sie finanziell unterstütze, tue auch dem Allgemeinwohl etwas Gutes, da sie das Geld für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände nutzen würden.

1600 Euro für alle Veranstaltungen: Wie elitär ist Alpbach eigentlich, und stützt man dieses System mit seiner Anwesenheit?

Miroslav, der junge Jurist aus Prag, glaubt nicht daran. Manche Menschen wollten kein besseres Leben, sagt er. Sie würden das Geld verschwenden für Drogen und Alkohol. Nur weil wir das Beste für sie im Sinn hätten, heisse das nicht, dass auch sie das Beste für sich im Sinn hätten, so sein Argument.

In der Pause kommen ein paar Studenten auf Miroslav zu. «Ich salutiere dir für deinen Mut», sagt ein Amerikaner und schlägt bei ihm ein. Eindrucksvoll sei das gewesen, wie er dem Lehrer da vor versammelter Mannschaft die Stirn geboten habe. Miroslav lächelt schüchtern und versucht noch einmal, seinen Standpunkt klarzumachen. Die anderen Studenten entfernen sich langsam. Zu kurz ist die Kaffeepause, um weiter zu diskutieren.

Miroslav lässt nicht locker. Er geht zurück zum Türeingang und wartet, bis Annett weiterspricht. Bis zum Schluss des Seminars klammert er sich wie ein Äffchen an den Türpfosten des Eingangs und hängt Annett an den Lippen. Jede Ungenauigkeit registriert er, jede Flapsigkeit prägt er sich ein. Annett schaut immer wieder nervös zum Eingang. Dann ist die Stunde vorbei. Es ist 18 Uhr, die Studenten erheben sich langsam vom Boden.

Es ist Zeit für die nächste Session. Ihr Programm ist dicht. Sie können wählen zwischen einem Voguing-Tanzworkshop, einem Sitzkreis unter dem «Baum der Erkenntnisse» hinter dem Kongresszentrum oder einem Meeting in der Volksschule, um noch einmal die eigenen Privilegien zu reflektieren und zu hinterfragen, wie elitär Alpbach eigentlich ist und ob man dieses elitäre System mit seiner Anwesenheit legitimiert.

Miroslav bleibt bei der Tür. Er wartet, bis alle den Raum verlassen haben. Verschwitzt und dehydriert. Er will mit Annett das Dilemma der Armen ein für alle Mal klären.

Egal, wann sein Bus zurück ins Quartier zurückfährt. Egal, wann die nächste Party losgeht. Das wird hier und jetzt ausdiskutiert. Egal, wie lange es dauert.

Das ist sein Alpbach-Moment.

IV. Der Selfie

«Nur für ihn brauchen wir nicht Englisch zu sprechen», poltert Martin Kušej. Sein Gast Ayad Akhtar grinst und winkt ab. Ihm wird eine Übersetzerin zur Seite gesetzt, wenn sein Kollege Kušej an diesem Dienstagabend zum Kamingespräch auf Deutsch bittet.

Kušej, der Theater- und Opernregisseur, wird am Forum einen «Kulturtag» bestreiten. Einen Tag lang gibt er sich Tête-à-Têtes mit fünf verschiedenen Gesprächspartnern, darunter sind eine Spitzenköchin, eine Schauspielerin und eben Akhtar, der Autor des Theaterstücks «Disgraced», für das er 2013 den Pulitzer-Theaterpreis bekommen hat.

Wer 400 Euro lockermachen kann, ist dabei und darf Kušej, der im September 2019 seine Stelle als Direktor des Wiener Burgtheaters annimmt, beim Reden zusehen.

Einen Vorgeschmack gibt der 57-Jährige am Vorabend vor knapp dreissig Leuten. Er lässt sein Schaffen Revue passieren, zeigt Trailer seiner Arbeiten, unter anderem «Faust», eine Geschichte, die er unbedingt erzählen wollte, weil er gerne Geschichten erzählt, die von Männern wie ihm handeln. Männern, die alles haben und die Welt beherrschen und sich fragen: «Was kommt jetzt?»

Er hält inne. Er wartet auf die kehligen Lacher von Männern wie ihm, die sagen: «Kumpel, ich versteh dich, mir geht es genauso.» Er wird nicht enttäuscht. Die Lacher kommen.

Ihnen gefällt der Mann im altrosa Hemd mit den weissen Hosen, wie er betont entspannt vor der deutschen Kulturjournalistin sitzt und ganz erwachsen das Enfant terrible mimt. Wie er als Kärntner Slowene, der es nicht immer leicht hatte in Österreich, bald einem Nationaltheater in Wien vorstehen wird. Dass er, der sich vor wenigen Minuten weigerte, auf einem Europäischen Forum Englisch zu sprechen, in Wien nicht nur Theater in deutscher Sprache machen will, sondern auch in anderen Sprachen, um die dort lebenden Menschen gebührend zu vertreten.

Von Haltung spricht Martin Kušej viel. Wie wichtig es sei, sie in diesen Zeiten zu zeigen. Konkrete Adressaten für diese Haltung hat er nicht. Oder schon? Wie ist seine Haltung gegenüber der eigenen Regierung? Nach acht Monaten im Amt hat Sebastian Kurz’ Mannschaft so einigen Künstlern Material für ihre Arbeit geliefert.

Kušej stutzt. Als designierter Burgtheater-Direktor verliert er kein Wort über Österreichs Politik. Stattdessen schimpft er auf die EU, dass sie es nicht auf die Reihe kriege, dass sich einzelne Regierungschefs an EU-Recht halten. «Die EU muss diese Idioten in die Schranken weisen, und da spreche ich ganz klar vom italienischen Innenminister.»

Der «Idiot» Matteo Salvini hat entschieden, dass Schiffe von Hilfsorganisationen mit Flüchtlingen an Bord nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Schützenhilfe bekommt er aus Österreich. Bundeskanzler Kurz fordert, dass alle EU-Länder Schiffe mit Flüchtlingen an Bord nicht anlegen lassen sollen.

Das sagt Martin Kušej nicht.

Gelegentlich darf auch miteinander gedöst werden, wie Sloweniens Präsident Borut Pahor und Österreichs First Lady Doris Schmidauer im unteren Bild demonstrieren.

Nach einer Stunde ist das Kamingespräch beendet. Das Publikum schiebt sich langsam zur Tür. «Was für ein arrogantes Arschloch», brummt ein Student mit runder Hornbrille. Er schüttelt angewidert den Kopf. Wenige Minuten später steht er am Eingang des Saales. Kušej plaudert dort mit seinem ausländischen Gast. Der Student geht auf Kušej zu und lächelt ihn an. Fast demütig drängt er sich an seine Seite. Dann holt er sein Handy heraus. Und beide grinsen in die Kamera.

V. Der Geist von Alpbach

Sehen, aber nicht gesehen werden: Das Bedürfnis haben nicht viele, die beim Böglerhof einkehren. Das Hotel ist die Edelunterkunft in Alpbach. Wer hier schläft, frühstückt oder diniert, will, dass es alle mitbekommen. Egal, ob draussen an der Bar oder drinnen im Restaurant. Es wird bei offenen Fenstern mit dem Gesicht zur Strasse so konferiert, dass auch jeder weiss, welche «geschlossene Gesellschaft» sich gerade bedeutungsschwer anlacht.

Hanna Molden interessiert das nicht. Sie setzt sich auf den Balkon des Hotels. Von oben hat die Autorin das Geschehen im Blick. Keiner bemerkt sie. Molden bestellt sich einen Sommer-Spritzer und wartet auf ihre Freunde.

Hanna Molden gehört zum Kongressadel. Die 78-Jährige ist die Witwe von Fritz Molden, dem österreichischen Verlegerzar. Sein Bruder Otto Molden ist Mitbegründer des Forums. Gemeinsam mit Simon Moser, einem Philosophiedozenten, wollte der einstige Widerstandskämpfer 1945 mit den Internationalen Hochschulwochen das geistige Leben in Österreich wiederbeleben und «gegen das nationalistische und faschistische Gift» vorgehen.

«Es hatte etwas Festliches», erinnert sich Hanna Molden an ihr erstes Mal in Alpbach 1966, «aber es war auch viel kämpferischer als heute.» Das lag an ihrem Schwager Otto. Er wollte die Reibung. Alle sollten sich hier oben treffen. Die Rechten wie die Linken, die oben wie die da unten. Nur wenn alle miteinander reden, greift vielleicht auch die «Nie wieder»-Prophylaxe, so die These.

Genossen hat Hanna Molden dieses Alpbach von früher. Ein anderer Geist war das damals, wenn ein Friedrich von Hayek, ein Theodor Adorno oder ein Sir Karl Popper hier entlangspazierten. Wenn man sich in den Gasthäusern einfach zu ihnen setzen konnte und bis zum Morgengrauen vollkommen besoffen noch weiterdiskutierte.

Es war keine Rede von geschlossener Gesellschaft. Die intellektuelle Quarantäne am Berg hat alle zusammengeschweisst. Am Ende waren alle gleich. Und keiner gleicher.

Heute ist das anders. Das Forum ist grösser geworden, pompöser, kommerzieller, exklusiver. Drei Millionen Euro kostet es, die Hälfte nimmt die Leitung über den Ticketverkauf ein – 1600 Euro kostet eine Karte für die gesamte Teilnahme am Forum –, die andere über Sponsoren. Für 15’000 Euro kann man als Sponsor bereits ein Panel – einen sogenannten Arbeitskreis – während der Technologie- und Wirtschaftsgespräche bestreiten. Sie finanzierten die Seminarwoche der 700 Studenten, anders liesse sich das nicht machen, sagen die Organisatoren.

Hanna Molden ist versöhnlich. «Für mich ist das Forum immer noch der Versuch der Wohlgesinnten», sagt sie. «Es ist nun einmal abhängig von Geld, und weil es abhängig ist, wird den Geldgebern um den Bart gegangen.» Molden nimmt es gelassen und hält es mit ihrer 2015 verstorbenen Freundin Elisabeth Herz-Kremenak. Nach der Ärztin ist der Hauptsaal im Kongresszentrum benannt. Ein paar Jahre vor ihrem Tod hat sie sich Hanna Molden anvertraut. «Es ist alles anders geworden», hat sie geklagt. Gerne besuchte sie das Forum, setzte sich in jeden Vortrag, debattierte angeregt mit allen. Doch irgendwann hatte sie genug. Spätestens nach der Seminarwoche hat Herz-Kremenak ihre Koffer gepackt. «Jetzt möchte ich wieder zurück nach Wien. Jetzt kommen die Männer in den dunklen Anzügen mit den Aktentaschen und die Frauen mit den hohen Stöckeln.»

Sie kommen auch dieses Jahr. Ihre Porsches werden die Strasse zum Böglerhof wie motorisierte Echsen entlangschleichen. Sie werden sich mit ihren manikürten Männerhänden auf die Terrasse setzen und ein Absperrband drum herumziehen lassen, sodass nur ihresgleichen in den Genuss des von ihnen gesponserten Alkohols kommt. Sie werden den Habitus der «geschlossenen Gesellschaft» ad absurdum führen, indem sie sich in Almhütten verstecken, um dort unter Auserwählten Hof zu halten.

Das ist dann ihr Alpbach. Aber nicht Hanna Moldens. Dann flüchtet auch sie. Sie zieht sich zurück in ihr altes Bauernhaus weiter oben in den Bergen. Dort schneidet sie wie jedes Jahr Speck auf. Und schart in einer geschlossenen Gesellschaft alle jene um sich, die noch einmal den alten Geist von Alpbach hochleben lassen wollen.

VI. Der Heilige Gral

Die Italienerin hat genug geplaudert. Ihre Gesprächspartnerin ist fast fertig mit dem Mittagessen, und die junge Frau ist ihrem Ziel kein Stück näher. Zu sehr geniessen es ihre beiden Sitznachbarn, mit einer ehemaligen EU-Kommissarin zu fachsimpeln, mit ihr mit Blick auf die Berge und für die Nebentische hörbar darüber zu philosophieren, wie träge der Wohlstand die jungen Europäer doch gemacht habe und dass erst eine Krise, vielleicht gar ein Krieg, sie einmal so richtig aus der Lethargie holen würde.

Die Italienerin wird nervös. Die Zeit rennt ihr davon. Sie kann sich nicht länger an das Smalltalk-Protokoll halten. «I am not from a rich family. I net­work, so I can break into the elite», sagt sie, unüberhörbar für die Gäste an den Nebentischen.

Die ehemalige Kommissarin lächelt. Sie ist eine strenge Frau, keine, mit der man spricht, wenn man nichts zu sagen hat. Sieben Tage lang hat die Politikerin die Studenten über ökonomische Schocks aufgeklärt. Heute, an diesem Mittag, hat sie sich Zeit genommen, wofür Alpbach bekannt ist: für den informellen Teil, inklusive des exklusiven Karrierecoachings bei Mozzarella, Tomaten und Basilikum mit Bergpanorama.

Klein solle sie anfangen, rät die Kommissarin der Italienerin. In ihrem eigenen Land, am besten in ihrer eigenen Stadt. Sie komme doch aus Milan, dort solle sie andocken, dort könne sie sich eine Basis aufbauen. Wie sie das anstelle? Sie solle sich doch bei Herrn X vorstellen. Den kenne sie von früher, als sie noch Kommissarin war, ein guter Mann. Sie solle ihn um ein Praktikum bitten, sie könne ruhig ihren Namen nennen.

Die Italienerin schaut sie ungläubig an: «Wirklich, darf ich das?»

«Sicher.»

Wohlwollend beobachtet sie die drei Studenten, die vor ihr sitzen. Sie haben sich herausgeputzt, das Mädchen im dunklen Etuikleid und den sorgfältig ausgeföhnten Haaren, die zwei Jungs in den gebügelten Hemden. Sie haben ihren Mut zusammengenommen, um sie ein Mittagessen lang von der Herde der anderen Studenten zu trennen. Sie wollen einen Eindruck hinterlassen, zeigen, dass sie die Etikette ihres Zirkels kennen und dass sie würdig sind, eines Tages darin aufgenommen zu werden.

Und die Diplomatin würdigt ihren Einsatz. Sie kramt in ihrer Tasche.
Die drei Studenten glucksen. Sie haben sich gut geschlagen. Ihr Preis liegt nun auf dem Tisch: die Visitenkarte einer ehemaligen EU-Kommissarin.

VII. Auf Augenhöhe

«People are people, so why should it be. You and I should get along so awfully», dröhnt Depeche Mode aus den Lautsprechern. Adil Embabys Körper vibriert zur Musik. Vor knapp 200 Menschen lässt er sein Fleisch beben. Zwei Frauen und ein Mann tun es ihm gleich. Sie wackeln, zittern und zucken.

«Ich will eine politische Nachwuchshoffnung sein», stellen sich junge Anzugträger bei Abendempfängen vor.

Sie und ihre vier Rollstühle. Die vier Künstler sind der Eröffnungsact der «Gesundheitsgespräche». In wenigen Minuten werden sich die Gäste zu ihren Diskussionspanels einfinden.

Bis dahin geniesst Adil Embaby seinen Auftritt. Seine Bühne ist eine schwarze Gummifläche, die zu einem Rechteck auf den Boden geklebt wurde. Drumherum sitzen die Anwesenden und verfolgen die Performance, viele wippen beherzt mit, manche rollen die Augen.

Embaby grinst. Seine Kollegin hat ihre Einlage beendet. Nun ist er dran. Sein grosses Finale. Er fährt in die Mitte der Bühne und hievt sich aus dem Rollstuhl. Er ist nackt. Er liegt mit dem Rücken auf dem Boden. Die Arme sind ausgebreitet, der Penis auf eine Seite des Publikums gerichtet.

Sein Körper ist weich und pulsiert weiter im Rhythmus der Musik. Das Publikum beobachtet ihn. Niemand lässt sich anmerken, wie sehr man den jungen Mann mustert. Wie sehr er fasziniert, ja irritiert, vielleicht auch verstört. Wann sieht man denn schon einen nackten Mann ohne Beine, dessen Körper wie ein Fisch auf dem Trockenen vor einem liegt und zuckt?

Nach dreissig Minuten endet der Auftritt. Das Publikum jubelt. Schweissgebadet rollen die vier Künstler von der Gummimatte. Das Publikum nimmt auf der anderen Seite des Raumes Platz.

Dort wartet bereits der Hausherr des Forums auf der richtigen Bühne. Bevor er die Gespräche offiziell eröffnet, bittet er die Choreografin der «berührenden» Performance zu sich. «In jedem Körper stecken Schönheit und Kraft», erklärt sie. Die Anwesenden nicken.

«Wie haben Sie die ...», der Hausherr stockt. «Ja, wie soll man sie denn nennen?» Die Anwesenden lachen. Die Choreografin lächelt nachsichtig. «Diese wunderbaren Menschen» hätten einmal in einem ihrer Workshops mitgemacht, antwortet die Choreografin. So habe sie sie gefunden.
Bevor sie von der Bühne geht, bedankt sie sich noch bei den Mitwirkenden, bei der Co-Choreografin und dem Soundtechniker. Mit Vor- und Nachnamen.

Die vier «wunderbaren Menschen» bleiben namenlos.

VIII. Subversive Klopause

Zwanzig Minuten hat Annas Widerstand gedauert. Zwanzig Minuten hat sie auf der Damentoilette ausgeharrt. Zwanzig Minuten nur sie mit einem Weissen Spritzer in der Hand.

Anna heisst nicht Anna, weil Anna die Konsequenzen ihres Widerstands fürchtet. Anna ist Stipendiatin, und wie bei allen anderen 688 Stipendiaten ist auch ihr dreiwöchiger Aufenthalt am Forum von jemandem gesponsert. In ihrem Fall vom Verkehrsministerium. Seit Dezember 2017 steht das unter der Führung von Norbert Hofer, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der FPÖ.

Auch er ist dieses Jahr am Forum vertreten, als Verkehrs-, Technologie-und Innovationsminister sitzt er in einem Panel. Als Auftakt zur Eröffnung der Technologiegespräche lädt er am Vorabend zum Empfang, zu einem Gartenfest im Hotel Alpbacherhof.

Für viele ist das eine Premiere, ein Empfang eines FPÖ-Ministers, hier am Forum, das habe es noch nie gegeben, wird getuschelt. «Können die intellektuell überhaupt mithalten?», wird über den Gastgeber und sein Gefolge mit den Schmissen im Gesicht und dem Schäferhund an der Leine gespottet.

Direktorinnen weisen ihre Fotografen an, doch nicht zu viele Fotos mit den FPÖ-Würdenträgern zu machen, wer weiss, wie das später einmal ausgelegt werden könnte. Den kostenlos kredenzten Wein trinken sie trotzdem gerne.

Mittendrin steht eine Gruppe junger Männer und Frauen. Es sind die Stipendiaten. Für den Empfang hat man ihnen Kapuzenwesten gereicht mit dem Logo des Verkehrsministeriums, passend in Blau, der Parteifarbe der FPÖ.

Sie dürften sie nach dem Foto wieder ausziehen. Nur für das Foto mit dem Herrn Minister sollten sie die Pullover doch bitte tragen. Die Stipendiaten gehorchen. Gierig löffeln sie die kleinen Lachs- und Roastbeefhäppchen und schlürfen den Wein.

Dann ist es so weit.

Die Showeinlagen sind beendet, die Begrüssungsworte gesprochen, die Stipendiaten beim Schokokuchen. Es ist Zeit, sich erkenntlich zu zeigen für die finanzielle Unterstützung des Ministeriums. Ein Foto für ein bisschen Geld. Ein fairer Deal.

Die Organisatorinnen trommeln die Studenten zusammen. Artig trotten sie hinter die Bühne. Mit ihren blauen Westen posieren sie lachend mit dem Verkehrsminister.

Nur Anna fehlt.

Sie schlürft im Damenklo ihren Weissen Spritzer. Und feiert ihre Rebellion.

IX. Eine Prise Eleganz

Montag, 10 Uhr, Hauptschule, zweiter Stock, letzte Klasse. Der Raum ist brechend voll. Die Journalisten zwängen sich auf die letzten freien Plätze. Österreichs Aussen- und Integrationsministerin Karin Kneissl diskutiert heute mit Experten zum Thema «Kultur und Identität: Wie viel Anpassung ist für eine erfolgreiche Integration notwendig?».

Aufmarsch der neuen und der alten Elite: Alexander Van der Bellen, der österreichische Bundespräsident (Mitte erstes Bild) hat seine Kollegen aus Südosteuropa mitgebracht, unter anderen Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić (links aussen), Sloweniens Präsidenten Borut Pahor (rechts aussen) und Kosovos Präsidenten Hashim Thaçi (daneben).

Am Vortag hatte sie einen Schwächeanfall. Heute ist sie wieder fit. Aufgeweckt steht sie vor der Gruppe, kämmt sich vor dem Spiegel die schulterlangen blonden Haare, begrüsst ihren Ehemann und ihren Hund, die in der ersten Reihe Platz genommen haben.

Dann geht es los. Um 10.35, also in einer halben Stunde, müsse sie wieder gehen, nicht weil sie sich drücke, sie wisse ja, wie diese Dinge von den Medien immer interpretiert würden. Sie müsse los, weil der nächste Termin auf sie warte.

Sachte führt der Moderator in das Thema ein, fragt die Anwesenden, was der Begriff Heimat für sie bedeute. «Wenn ich nicht im Libanon gelebt hätte, wäre ich nicht die, die ich heute bin», erzählt Kneissl.

Kneissl studierte Jus und Arabistik, arbeitete als Diplomatin und machte sich später als Nahostexpertin einen Namen, bevor sie von der FPÖ als «Unabhängige» für den Posten der Aussenministerin nominiert wurde. Davor unterrichtete sie noch an unterschiedlichen Institutionen, unter anderem im Libanon.

Sie erinnert sich, wie sie damals mit den Studenten in den Bunker hätten fliehen müssen und sie sich dort weiter über Montesquieu unterhalten hätten. Sie lächelt. «Es geht nicht darum, irgendwie zu überleben, sondern es mit einer Prise von Würde und Eleganz zu tun», sagt sie. Mit Mitte dreissig habe sie sich gesagt, dass sie überall leben könnte. Später nicht mehr. Da wollte sie geerdet sein und ist auf einen Bauernhof nach Niederösterreich gezogen.

Wohl fühlt sie sich in den Metropolen des Nahen Ostens. Und genauso wohl fühlt sie sich auf ihrem Bauernhof mit dem Stall, den sie ab morgen wieder selbst ausmisten wird. Doch nicht jedermann sei der geborene Kosmopolit, sagt sie. Vor allem sei es schwer für die Kinder von Diplomaten, sich immer wieder in neuen Ländern zurechtfinden zu müssen, jedes Mal eine neue Sprache zu lernen. Das sei nicht leicht. Einige zerbrächen sogar daran.

Ein Zuhörer unterbricht sie. Was sie dazu sage, dass die Regierung den Erlass, wonach Asylwerber in Mangelberufen eine Lehre beginnen dürfen, aufgehoben habe. Ob das nicht eine dumpfblöde populistische Massnahme sei. Kneissl kontert, wie sie es schon in zahlreichen Interviews getan hat: Die Unternehmen sollten Lehrlinge aufnehmen, die einen positiven Asylbescheid haben. Nach zwei Nachfragen stoppt der Moderator den Zuhörer und betont, dass die aktuelle Tagespolitik heute und hier nicht zur Debatte stehe.

Für Karin Kneissl ist die Zeit ohnehin um. Es ist 10.35 Uhr.

An der Tür passt sie ein Student ab. Er stammt aus Afghanistan. Vor ein paar Jahren ist er nach Österreich geflohen. Eine Frage hätte er noch. Kneissl bietet ihm an, sie zum Wagen zu begleiten und seine Frage noch zu stellen.
«Wie soll man integrieren, wenn kein Zugang zu Gesellschaft haben?», habe er sie in gebrochenem Deutsch gefragt, erzählt er später seinen Kollegen. Kneissl habe ihn korrigiert: «Wie soll man sich integrieren, wenn man keinen Zugang zur Gesellschaft hat?» Nachdem er seine Frage grammatikalisch korrekt wiederholt habe, habe sie ihm eine Antwort gegeben:

«Das Leben ist scheisshart und ein verdammter Kampf.»

X. Busenfreunde

Ein Mann und eine Frau, beide Ende fünfzig, haben sich an einen der Stehtische im Restaurant des Alpbacherhofs gestellt. Das Justizministerium hat an diesem Abend zum Empfang geladen im Hotel, dessen Interieur mit den getäfelten Wänden aus dunklem Holz und den tiefen Sitzstühlen an einen Gentleman’s Club aus den Achtzigern erinnert. Es wimmelt von Juristen, Notaren und Richterinnen. Dazwischen jungen Referenten und Studentinnen. Das Paar hat sich bei einem der Stehtische nahe der Balkontür platziert. Um ihren Hals hängen nicht die üblichen Badges der Forumsteilnehmer. Besucher seien sie, kämen immer wieder nach Alpbach, wenn es der Job erlaube, viel mehr ins Detail gehen sie nicht. Zufrieden mampfen sie die kleinen Schnitzelhäppchen mit Kartoffelsalat, die Frauen im Dirndl in kleinen Schälchen an ihnen vorbei servieren.

«Das war hier draussen am Balkon», murmelt der Mann.
«Bist du sicher? War das nicht im Bögler?», fragt die Frau.
«Nein, das war hier. Ich weiss das von dem einen Kollegen, der war damals auch da.»
«Und was hat er gesagt?»
«Na, gesehen hat er nix, nur dass der Pilz halt bedient war.»

Die Rede ist von Peter Pilz, dem ehemaligen Politiker der Grünen, der bei der vergangenen Nationalratswahl im Oktober 2017 mit einer eigenen Liste angetreten ist. Im Wahlkampf wurden Vorwürfe sexueller Belästigung publik, unter anderem von einer ehemaligen Mitarbeiterin und einer Referentin der Europäischen Volkspartei (EVP), die er 2013 auf einem Empfang in Alpbach begrapscht haben soll. Pilz verzichtete anfangs auf sein gewonnenes Parlamentsmandat. Nachdem das Verfahren gegen ihn eingestellt worden war – die Frauen hatten der Anklagebehörde keine Ermächtigung zur Strafverfolgung erteilt –, nahm er im Juni seinen Sitz im Parlament ein.

«Wegen so einer Geschichte ruiniert er sich nicht die Karriere», sagt die Frau. «Das war eine aufgelegte Geschicht’», antwortet der Mann.
«Er war halt besoffen.»
«Er war blunznfett, keine Ahnung, was ich in dem Zustand alles tun würde.»

«Fräulein, haben Sie noch was von dem Schnitzel?»

XI. Happy Birthday, lieber Sebastian!

Es ist kurz nach Mitternacht vor dem Gasthaus Jakober. Es ist das einzige Lokal in Alpbach, das um die Zeit und noch viel länger geöffnet hat. Seit das Hallenbad gegenüber der Hauptschule als Partylocation während des Kongresses nicht mehr zur Verfügung steht, muss das allabendliche Besäufnis in der letzten Bergbar des Dorfes seinen Ausklang finden.

Eine riesige Menschentraube hat sich an diesem Montagabend versammelt. Bis zum Gehsteig reicht sie. Es wird getrunken, geraucht und geflirtet. So wie jeden Abend. Nur etwas ist anders. Es stehen vor allem junge Männer da. Junge Männer in Tracht und Anzügen, die zueinander gewandt sind, als hätten sie Wichtiges zu besprechen.

«Der Kurz ist da.»
«Wo?»
«Na drinnen.»
«Ich war vorher bei seinem Geburtstag im Rossmoos.»
«Und?»
«Der N. hat wieder zwei Jung-ÖVPlerinnen angegraben.»

Die zwei jungen Männer rollen die Augen. Sie stehen ein bisschen abseits auf der Anhöhe des Gehsteigs und schauen auf das Lokal und seine Gäste hinab. Mit ihren Frisuren und dunklen Sakkos sehen sie aus, als hätte das britische Privatschulsystem sie ausgespuckt. Der eine ähnelt einem jungen Edward Norton, der andere einem noch jüngeren Louis Garrel. Beide arbeiten in Österreichs Politmedialkomplex. So genau muss das nirgendwo vermerkt sein. Anfang zwanzig sind sie und sprechen mit der Abgebrühtheit alter Männer. Nichts bringt sie aus der Fassung. Keine notgeilen Chefredaktoren, die sich Jungpolitikerinnen aufdrängen, keine neue Elite und auch nicht ihre Lemminge, die um Mitternacht Alpgasthäuser in Bergdörfern belagern.

Durchs Reden kommen d Leut zam. Durch Schnaps erst recht.

«Ja, sie sind vielleicht Karrieristen, aber sie haben es faustdick hinter den Ohren», sagt Louis Garrel. Es klingt anerkennend. Er geht oft im Kanzleramt ein und aus. Da kriege man so einiges mit, gegen wen gerade intrigiert werde und wo die Fetzen fliegen würden. Nach aussen dringt davon nichts. Dafür ist der Block rund um Sebastian Kurz zu professionell.

Sie sind erschreckend professionell. Den Satz hört man oft dieser Tage.

Vor allem von den Alten. In zwei Lager haben sie sich gespalten. In die einen, die sich anbiedern an die Teflon-Talente, ihnen mit glasigen Augen zu später Stunde noch beweisen wollen, dass sie relevant sind, egal, in welcher Funktion, ob als Journalist oder Parteifreund. Und die anderen, die befremdet am Rand stehen und noch immer verstört die Übernahme der Macht in der Republik durch diese Kinder und ihre Heilsfigur beobachten und nur schmallippig ein «Er ist ja ein rhetorisches Talent. Da kann man nichts sagen» hervorpressen.

Mit Ehrfurcht wird vom Kurz-Block gesprochen, wie er dem Chef die Mauer macht, egal ob in Wien oder in Alpbach, wo er vor wenigen Stunden einen Vortrag zum Thema «Die Zukunft der EU» hielt.

Sechzig seiner Anhänger wurden für eine Stunde Entourage-Einsatz aus dem ganzen Land herangekarrt. Gratis durften sie die Veranstaltung besuchen. Vorab haben sie die Lage noch sondiert und den Protest entfernt, der sich wenige Minuten vor Saaleinlass auf den Stühlen breitgemacht hatte. Kleine gefaltete Papierboote haben einige Studierende dort platziert. Mit blauen Filzstiften haben sie «We all sit in the same boat. Solidarity. #Zukurz gekommen» draufgeschrieben.

Auch vor dem Eingang des Forums wollte man protestieren. Auf eine mit Kreide aufgezeichnete Europakarte, die die Balkanroute darstellen sollte, hat man die Schiffchen gelegt. Kurz, der selbst einmal Stipendiat in Alpbach war, sollte über die Balkanroute, die er so erfolgreich geschlossen hat, ins Forum eintreten.

Dazu kam es nicht. Kurz nahm den hinteren Eingang. Er genoss sein Heimspiel. Und sein Block auch.

XII. Spieglein, Spieglein

220 Ratten hat Deborah Sengl für ihre Ausstellung ausstopfen lassen. Sie stehen in 39 Schaukästen im Erdgeschoss des Kongresszentrums. In jedem Schaukasten stellt sie eine Szene aus Karl Kraus’ «Die letzten Tage der Menschheit» dar. Offiziere, die sich für die Presse als Kriegsherren inszenieren, Journalistinnen, die Soldaten an der Front interviewen, Zivilisten, die sich betrinken und den Schrecken des Ersten Weltkriegs negieren. Alle sind als weisse Ratten dargestellt. Die Kriegstreiber genauso wie jene, die sich haben treiben lassen. Sie alle seien gleich, keiner könne sich aus der Verantwortung stehlen, erklärt Sengl.

Dass ihre Ausstellung ausgerechnet hier in Alpbach gezeigt wird, freut die Künstlerin. Vielleicht geht ja der eine oder andere Politiker, Medienvertreter oder CEO vorbei, wird stutzig und fragt sich: Bin auch ich nur eine Ratte, die den Lauf der Dinge nicht nur nicht verhindert, sondern vielleicht gar beschleunigt hat?

Vielleicht.

Epilog

Siebzehn Tage verändern einen Menschen. Aus kritischen Künstlern werden Diplomaten, die den österreichischen Kompromiss loben. Aus Populismusforschern selige Sommerfrischler, die über die Berge schwärmen. Aus urbanen Aristoprolls leutselige Ziegenpeter, die sich mit den Einheimischen anfreunden, ohne zu merken, dass deren Lächeln von Tag zu Tag immer mehr gefriert, weil ihr Engagement als Statist im «Dorf der Denker» ausgereizt ist.

Der Geist von Alpbach steckt an. Anfangs hält die urbane Rüstung stand. Der eigene Geist dominiert. Er ist noch aufmerksam, wenn in den ersten Reden dem Rechtspopulismus offen der Kampf angesagt wird und in den letzten nur mehr ein «Alles Gute zum heutigen Geburtstag, lieber Sebastian» übrig bleibt.

Siebzehn Tage verändern einen Menschen. Wenn das Zeitgefühl aussetzt, übernimmt der Geist von Alpbach.

Er ist noch fit, wenn er Besuchern zuhört, wie sie im Gasthaus über das Programm herziehen, nur um einige Minuten später zu sehen, wie sie dem Forumspräsidenten die Hand schütteln und breit grinsend versichern, wie herrlich doch alles sei.

Und er ist noch wach, wenn alte Sozialdemokraten die Homogenität der Anwesenden am Berg quittieren mit einem «Es muss nicht immer alles Arbeiterkinderförderung sein. Es geht auch darum, Eliten zu bilden, die in der Lage sind, die Gesellschaft in eine andere Richtung zu entwickeln.»

Doch irgendwann ist die mentale Staffelübergabe. Dann, wenn das Zeitgefühl aussetzt, übernimmt der Geist von Alpbach. Er ist diplomatisch, jovial, subversiv servil. Wer hier oben in der Isolation der Berge siebzehn Tage lang ausharren möchte, kapituliert vor diesem Geist. Freiwillig oder unfreiwillig. Plötzlich duzt man Leute, die man nie duzen wollte, schubst die Langsamen an der Buffetschlange zum Backhendl wie ein amerikanischer Quarterback, überlegt zweimal, ob man die Visitenkarte an den Langweiler an der Bar verschwenden soll, und verwischt alle Grenzen, von der nur Naive glaubten, dass sie je existiert hätten.

Der Geist von Alpbach macht alle gleich.
Er fördert das zutage, was schon immer da war.
Am Ende sind wir alle gleich.
Am Ende sind wir alle weisse Ratten.

Hinweis der Redaktion:
In einer früheren Version wurde der Preis für die Teilnahme am Forum fälschlicherweise mit 1100 Euro angegeben. Ausserdem gibt es beim Forum Plenarveranstaltungen und spezielle Panels – sogenannte Arbeitskreise. Letztere werden nur bei den Technologie- und Wirtschaftsgesprächen gesponsert. Dies bereits ab einem Betrag von 15’000 (nicht erst ab 20’000) Euro.