Lost in Vibration
Von Michael Rüegg, 21.09.2018
Wir sind Geschwister im Geiste. Mimi vermisst ihren Koffer seit vier Tagen, seit sie aus Spanien zurückflog. Seither ruft sie mehrmals täglich überall an. Die Gepäckhandlingfirma Dnata verweist jeweils auf die Airline Iberia, Iberia wiederum auf Dnata. «’s intressiert kei Sau», klagt Mimi.
Mimi macht sich Gedanken über die Diamantohrringe ihrer Mutter, die im Koffer liegen. Oder vielleicht lagen.
Ich fühle mit. Mein Koffer steht mutmasslich auf dem Flughafengelände beim JFK-Airport in New York. Vor drei Tagen bin ich gelandet. Am zweiten Tag wurde mir mitgeteilt, mein Gepäck sei in München gesichtet worden und fliege mit Lufthansa zu mir nach New York City. Danach hat mich kein Lebenszeichen meines Koffers mehr erreicht.
Es ist erstaunlich, wie wenig wir zum Leben brauchen. Eine Zahnbürste. Eine Seife. Ein Paar Hosen, T-Shirts, Unterwäsche.
Ich würde gerne meine Fingernägel schneiden. Wehmütig denke ich an meinen Nagelclipper. In meinem prall gefüllten Toilettenbeutel. Neben meinen polierten Lederschuhen. Die unter meinem geliebten Sommerpulli liegen.
Irgendwo da draussen. Keine Stunde von meinem Zimmer entfernt.
Mimi schreibt mir gerade. «S Ladegrät vo mim Lieblingsvibrator», klagt sie, sei auch im Koffer. Und jetzt sei der Akku leer. Wir sprechen uns gegenseitig per Whatsapp Mut zu.
Mein Gepäck dürfte wieder auftauchen. Mimis Koffer wird wohl eines Tages irgendwo versteigert. Der neue Besitzer kann sich auf die Diamantohrringe freuen. Aber ohne den zugehörigen Vibrator wird er am Ladegerät wohl keine Freude haben.