Brasiliens sagenhafter Absturz
Vor zehn Jahren galt Brasilien als Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts. Jetzt steht es kurz davor, einen Faschisten zum Präsidenten zu wählen. Wie konnte es so weit kommen?
Von Philipp Lichterbeck, 19.09.2018
Es waren keine 48 Stunden seit dem Messerangriff vergangen, da sass der brasilianische Präsidentschaftskandidat der Sozial-Liberalen Partei PSL, Jair Messias Bolsonaro, in einem Krankenhaussessel und grinste. Er wirkte nicht wie jemand, der dem Tod gerade von der Schippe gesprungen war. Er formte seine Hände zu einer imaginären Waffe.
Ein geistig verwirrter Mann hatte Bolsonaro während eines Wahlkampfauftritts mit einem Küchenmesser attackiert. Eine Notoperation rettete dem rechtsextremen Politiker das Leben. Danach stand der brasilianische Wahlkampf kurz still. Mit Bolsonaros provokanter Geste begann er wieder.
Bolsonaro ist ein Waffennarr. Er sagt, dass Kinder gar nicht früh genug lernen könnten, wie man schiesst. Dann wüssten sie, wie man mit Kriminellen umzugehen habe. Er glaubt, dass Jesus eine Pistole getragen hätte, hätte es zu seiner Zeit schon welche gegeben. Einmal hielt er auf einer Wahlkampfbühne ein Kamerastativ wie ein Sturmgewehr und brüllte ins Publikum: «Wir werden die Petralhada füsilieren!» Er meinte die Anhänger der linken Arbeiterpartei.
Seine Anhängerinnen lieben Bolsonaro für solche Momente und skandieren seinen Kampfnamen: «Mito, Mito!» Das bedeutet Mythos. Für Bolsonaros Gegner ist es nur ein Beweis mehr, dass der Mann brandgefährlich ist. Er sei «ein klassischer Faschist», sagt der brasilianisch-chilenische Philosoph Vladimir Safatle.
Ein Rechtspopulist im Aufwind
Dieser Mann, Jair Bolsonaro, könnte das nächste Staatsoberhaupt Brasiliens werden. Am 7. Oktober findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt – und Bolsonaro liegt in allen Umfragen vor seinen zwölf Mitbewerberinnen und Mitbewerbern. Der Messerangriff verschaffte ihm zusätzliche Aufmerksamkeit und Sympathien. Er, der sonst so gerne attackiert, war auf einmal das Opfer – und für seine Gegner wurde es noch schwieriger, ihn zu kritisieren.
Einzig ein Mann bekäme laut Umfragen noch mehr Stimmen als Bolsonaro: Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Doch Lula sitzt seit April im Gefängnis und darf nicht antreten. Es ist daher sicher, dass Bolsonaro in die Stichwahl am 28. Oktober kommt.
Sollte er auch dort die Nase vorne behalten, wäre dies nicht nur ein Schock für Brasilien. Es wäre nach der Wahl Donald Trumps ein weiteres geopolitisches Erdbeben: Brasilien ist das mit Abstand grösste, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich bedeutendste Land Lateinamerikas. Mit Bolsonaro würde es von einem rechtsradikalen Abenteurer regiert, der aus der Uno austreten will und Adolf Hitler für einen «grossen Strategen» hält. Er hetzt regelmässig gegen Schwarze, Schwule, Frauen, Indigene und politisch Andersdenkende.
Der Mythos der brasilianischen «Rassendemokratie»
Wieso wünschen sich Millionen von Brasilianerinnen diesen Mann zum Staatsoberhaupt? Brasilien galt bislang als tolerante Nation mit einer gemischten Bevölkerung voller Lebensfreude: Als «herzlichen Menschen» beschrieb der Historiker Sérgio Buarque 1936 den Archetyp des Brasilianers in seinem Schlüsseltext «Die Wurzeln Brasiliens». Und für den Wiener Schriftsteller Stefan Zweig war Brasilien ja vor allem deswegen «ein Land der Zukunft», weil er hier weder Rassenwahn noch Nationalismus zu finden glaubte.
So verzerrt diese Wahrnehmung war, so wollten doch Generationen von Brasilianerinnen und Ausländern daran glauben. Als «Rassendemokratie» sah Brasilien sich gerne als Gegensatz zu den USA mit ihren Rassenunruhen. Doch nun ist aus dem herzlichen Brasilianer der hässliche Brasilianer geworden. Das Land ist weit nach rechts gerückt. Und selbst wenn Bolsonaro am Ende nicht gewinnen sollte, stellt sich die Frage: Wie konnte es bloss so weit kommen?
Von der Boomnation zum Krisenstaat
Die Erklärungen sind vielfältig, eines haben sie gemeinsam: Sie handeln von einem Land, das noch vor zehn Jahren als Aufsteigernation des 21. Jahrhunderts gefeiert wurde, das aber um das Jahr 2012 herum in eine existenzielle Krise rutschte. Was als Wirtschaftskrise begann, wuchs sich zu einer Krise des Staats und der Gesellschaft aus.
Sie ist eng mit einem gigantischen Korruptionsskandal verbunden, der die Kleptomanie der politischen und ökonomischen Elite offenbarte. Sie beinhaltete die fragwürdige Absetzung der demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff. Ausserdem die Inhaftierung von Ex-Präsident Lula da Silva nach einem umstrittenen Gerichtsverfahren. Lula ist der Mann, der Brasilien in den Boomjahren führte und den eine Mehrheit immer noch wählte, wenn man sie liesse.
Die Krise hat Millionen Brasilianerinnen die Arbeit geraubt und fast allen die Hoffnung, dass sich die Dinge in absehbarer Zeit zum Besseren wenden könnten. Denn sie erleben täglich die Zumutung des öffentlichen Nahverkehrs. Sie stellen fest, dass ihre Kinder in den Schulen nichts lernen. Sie merken, dass es in den Krankenhäusern keine Medikamente mehr gibt. Sie haben Angst, weil der Staat es nicht schafft, sie vor Kriminellen zu schützen. Und dann erleben sie, wie das älteste Museum des Landes in Rio de Janeiro einfach niederbrennt, weil der Staat kein Geld für seine Instandhaltung zahlte und die Hydranten in der Umgebung kein Wasser führten.
Das Phänomen Bolsonaro
In dieser Situation verspricht Bolsonaro: Ordnung! «Ich werde ausmisten», sagt er. Und viele wollen es ihm glauben. Denn da ist sonst niemand, der einen Kompass zu haben scheint. Einer, der eine positive Vision von Zukunft formulieren und Mut machen könnte. Es sind für gewöhnlich diese Momente der Orientierungslosigkeit, in denen die Stunde der Zyniker, Extremistinnen und Zerstörungswütigen schlägt. Und so hat sich Brasiliens Gesellschaft auch extrem polarisiert, ein Dialog zwischen links und rechts, Schwarz und Weiss, Arm und Reich ist kaum mehr möglich.
Kurz: Die jüngste Geschichte Brasiliens ist die eines Absturzes. Jair Bolsonaro ist dessen Symptom und Profiteur zugleich. Der Abstieg Brasiliens ist sein Aufstieg. Bleiben wir also zunächst bei diesem doch recht ordinären, kleingeistigen wie engherzigen Mann, der es geschafft hat, die Brasilianer in seinen Bann zu schlagen.
Jair Messias Bolsonaro ist 63 Jahre alt und hat 27 davon als Hinterbänkler im brasilianischen Parlament verbracht. Er hat in dieser Zeit zwei unbedeutende Gesetze durchgebracht und ist trotzdem zu einem der bekanntesten Politiker des Landes geworden. Seinen Wahlkreis in Rio de Janeiro gewann er 2014 mit 464’000 Stimmen, nur zwei Abgeordnete in Brasilien bekamen mehr.
Seine grosse Bekanntheit hat Bolsonaro mit einer Taktik erzielt, die von radikalen Rechten weltweit erfolgreich angewandt wird: Provokation, verbale Gewalt, Antiaufklärung. So verteidigt Bolsonaro, selbst Oberst der Reserve, bei jeder Gelegenheit die brasilianische Militärdiktatur, die von 1964 bis 1985 währte. Es sei «eine ruhmreiche Periode in der brasilianischen Geschichte» gewesen, betont er. Die Diktatur habe lediglich den Fehler begangen, zu foltern und nicht zu töten.
Diese Aussage ist so schlimm wie falsch. Die Militärs ermordeten politische Gegnerinnen, Brasiliens Wahrheitskommission hat 434 Opfer ermittelt, darunter 210 Verschwundene. Hinzu kommen 1200 getötete oder verschwundene Kleinbauern sowie 8350 Indigene, die umgebracht wurden oder dringend benötigte medizinische Hilfe von der Regierung nicht erhielten.
In seinem Abgeordnetenbüro in Brasília hat Bolsonaro die Porträts der Präsidenten der Diktatur aufgehängt. Er nennt sie «meine Gurus». Die Demokratie wiederum hält er für eine «Schweinerei». Am Tag, an dem er an die Macht käme, würde er den Kongress dichtmachen, sagte er 1999. Den konservativen Ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso liesse er am liebsten «mit 30’000 anderen Korrupten» an die Wand stellen.
In anderen Ländern würden solche Ungeheuerlichkeiten zu Haftstrafen führen. In Brasilien brachten sie Bolsonaro Aufmerksamkeit und Fans. Vom einflussreichen Militärapparat, der dank einer Amnestie nie für seine Verbrechen bezahlen musste, wird Bolsonaro hofiert. Wann immer er in Kasernen auftaucht, bejubeln ihn die Soldaten.
Begeisterung schlägt Bolsonaro auch auf der Strasse entgegen. Es bilden sich Menschentrauben, jeder will ein Selfie mit ihm machen. Bolsonaro geniesst das, er gibt sich volksnah. «Er spricht unsere Sprache», sagen seine Anhängerinnen. T-Shirts, die ihn als Rächer Brasiliens mit Lederjacke und Sturmgewehr zeigen, finden reissenden Absatz.
Es ist nicht neu, dass weite Teile des konservativen Brasiliens das Gedankengut Bolsonaros teilen. Anwälte in Rio erzählen einem ebenso wie Grossgrundbesitzerinnen im Hinterland São Paulos, dass der Militärputsch eine «notwendige Revolution zur Verhinderung des Kommunismus» gewesen sei.
Neu ist, dass Bolsonaro mit solchen Ansichten den Status eines Popstars erhalten hat. Er wird von Schülern im Unterricht zitiert, die ihre Lehrerinnen provozieren wollen. Irgendeiner filmt dann, wie der Lehrer ausflippt, was in den sozialen Netzwerken wiederum als Beweis für die Hysterie der Linken geteilt wird. War die Provokation 1968 links und antiautoritär, so ist sie fünfzig Jahre später rechts, präpotent und reaktionär.
In Bolsonaros Gesellschaftsmodell haben heterosexuelle weisse Männer das Sagen. Alle anderen beschimpft er regelmässig, man könnte fast von einem politischen Tourettesyndrom sprechen. Seine Fans sehen es freilich so: Er schere sich nicht um die politische Korrektheit und sage, was er denke. Zum Beispiel:
Über Homosexuelle, 2011 in einem Interview mit dem «Playboy»: «Ich könnte einen schwulen Sohn nicht lieben. Ich ziehe es vor, er würde bei einem Unfall sterben.»
Über Schwarze, 2017 im Jüdischen Club von Rio de Janeiro über ein Quilombo (so heissen die Siedlungen von Nachkommen schwarzer Sklaven): «Der leichteste Afrostämmige dort wog sieben Arrobas (einst die Gewichtseinheit, um Sklaven zu wiegen, Anm. d. Red.). Die machen gar nichts! Der taugt nicht mal zur Reproduktion.»
Über Frauen, 2014 sagte er im Parlament zu der linken Abgeordneten Maria do Rosário: «Ich würde dich nicht vergewaltigen, weil du es nicht verdienst.»
Über Indigene, 2017 im Jüdischen Club von Rio de Janeiro: «Es wird keinen Zentimeter mehr für Reservate ausgewiesen.»
Über Einwanderer, 2015 in einem Zeitungsinterview: «Haitianer, Senegalesen, Bolivianer und all der andere Abschaum kommen zu uns, und jetzt auch noch die Syrer.»
Politische Gegner
Als 2016 die Präsidentin Dilma Rousseff abgewählt wurde, widmete Bolsonaro seine Stimme dem Chef einer berüchtigten Foltereinheit. Rousseff war während der Diktatur gefoltert worden.
Natürlich regt sich gegen solche Widerwärtigkeiten auch Widerstand. Der Schriftsteller Luiz Ruffato attestiert Bolsonaro einen «Diskurs des Hasses». Der liberale Mitbewerber um die Präsidentschaft, Ciro Gomes, bezeichnet Bolsonaro als «tropisches Hitlerchen». Und die konservative Zeitschrift «Isto É» warnt vor einer «totalitären Bedrohung».
Bolsonaro reagiert gelassen darauf. «Ich werde es wie Trump machen», sagt er. «Ihr werdet so viel auf mich einprügeln, dass ich keine Kampagne mehr brauche.» Wie Donald Trump verachtet auch Bolsonaro die traditionellen Medien und nutzt die sozialen Netzwerke, um seine «Wahrheiten» zu verbreiten. Bei Facebook hat er mehr als 6 Millionen Abonnentinnen, bei Instagram folgen ihm 2,7 Millionen Menschen und auf Twitter 1,4 Millionen. Das Bemerkenswerte: 2015 hatte er insgesamt nur 44’000 Follower.
Das verleiht natürlich Selbstbewusstsein, und es scheint nichts zu geben, was Bolsonaro aus der Fassung bringen könnte. Nicht einmal die eigene Ahnungslosigkeit. «Ich verstehe nichts von Wirtschaft», hat er mehrfach bekräftigt. Geschadet hat es ihm nicht. Denn es sind keine rationalen Überlegungen, die dafür entscheidend sind, dass so viele Brasilianer einen hasserfüllten und inkompetenten Mann zum Präsidenten machen wollen. Es sind Emotionen.
Das Spiel mit der Angst
Zwei Gefühle sind bei der kommenden Wahl ausschlaggebend: die Angst und die Wut.
Zunächst zur Angst: Im vergangenen Jahr wurden in Brasilien 63’880 Menschen ermordet. Ein neuer Rekordwert – nirgendwo auf der Welt werden mehr Morde verübt. Die Mordrate liegt in Brasilien nun bei über 30 Morden pro 100’000 Einwohner (in der Schweiz beträgt sie 0,5). Hinzu kommen jeden Tag: Raubüberfälle, Einbrüche, Autodiebstähle, Entführungen von LKW, Schiessereien und Tote in den Favelas.
Die Aufklärungsrate der Verbrechen ist gering: Nur in zehn Prozent der Morde kommt es zu einer Festnahme. Lediglich in vier Prozent wird Anklage erhoben. Bei den geringeren Delikten ist es noch dramatischer. Beispiel Rio de Janeiro: Hier werden laut Polizei durchschnittlich zwei Handys pro Stunde geraubt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, weil kaum jemand noch zur Polizei geht. Die Ansicht ist verbreitet: Die Polizisten würden ohnehin nichts unternehmen.
Jair Bolsonaro hat es verstanden, das generelle Gefühl der Unsicherheit zu kanalisieren. Sein zentrales Wahlkampfversprechen lautet: Jede Brasilianerin darf eine Waffe tragen, um sich zu verteidigen. Bolsonaro befürwortet die Todesstrafe und die Folter. Und er will der Polizei eine Lizenz zum Töten erteilen. In einem Interview mit Brasiliens grösstem Fernsehsender Globo TV sagte er: «Wenn ein Polizist zwanzig Kriminelle tötet, gehört er ausgezeichnet und nicht untersucht.»
Tatsächlich tötet Brasiliens Polizei bereits heute überdurchschnittlich häufig. 2017 starben jeden Tag 14 Mensch en durch Polizeikugeln. Auch diese Fälle werden fast nie aufgeklärt. Bei den Opfern handelt es sich meist um schwarze und arme Favelabewohner, deren Leben – man muss das so sagen – in Brasilien kaum etwas zählen.
Wer einmal brutal überfallen wurde, hat danach ohnehin meist wenig Sinn für Menschenrechte. Er will, dass die Verbrecher aus dem Verkehr gezogen werden – egal wie. So kommt es, dass der schwarze Taxifahrer in Rio de Janeiro einem erklärt, dass er Bolsonaro wähle. «Dann rasselt der Knüppel auf die Vagabunden», sagt er. «Dann ist Schluss mit lustig.»
Wut als Antrieb
Schluss mit lustig! Der Satz beschreibt die Stimmung in Brasilien gut. Und das ist das zweite so wichtige Gefühl in Brasilien: die Wut. Viele Brasilianerinnen haben die Nase voll von einem Land, das ihnen so viel verspricht und ihnen so wenig bietet.
Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Brasilien hat die meisten Steuern und Abgaben der Welt. Aber nicht etwa die Einkommen werden stark besteuert (Spitzensteuersatz 27,5 Prozent), sondern der Konsum. Das trifft die unteren und mittleren Haushalte überproportional. Wenn man etwa einen Kaffee trinkt, zahlt man 16,5 Prozent Steuern auf das Kaffeepulver, 30,6 Prozent auf den Zucker und 37,8 Prozent auf das Wasser.
Geht es aber um die Verwendung der Einnahmen zum Wohle der Bevölkerung, belegt Brasilien den letzten Platz unter den dreissig Ländern der Welt mit dem höchsten Steueraufkommen. Und das spüren die Brasilianer: in öffentlichen Schulen, in denen Papier fehlt; in Bussen, die überfüllt sind; in Spitälern, in denen Schwangere im Wartesaal gebären, weil Betten fehlen; in Vorortzügen, die alle zehn Minuten stehen bleiben, weil irgendwo entlang der Strecke eine Schiesserei stattfindet.
Gleichzeitig erleben sie, dass sich Politikerinnen und Richter die Gehälter erhöhen. Der Durchschnittslohn in Brasilien beträgt umgerechnet 600 Franken. Aber eine Abgeordnete in Brasília verdient 8100 Franken und kassiert obendrein noch Wohn- und Reisegeld. Dass man eine Bombe in den Kongress werfen sollte, hört man derzeit bei Gesprächen immer wieder.
Um die Wut und die Angst der Brasilianer zu verstehen, muss man in die Nullerjahre zurückblicken. Es war die Dekade des Aufbruchs und der Hoffnung.
In den Nullerjahren: der Aufstieg
Im Jahr 2002 wurde der ehemalige Metallarbeiter Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Lula war Chef der linken Arbeiterpartei (PT) und hatte die Menschen mit einem Versprechen überzeugt: Er werde eine gerechtere Nation schaffen. Der immense Reichtum Brasiliens sollte endlich allen zugutekommen und nicht mehr nur der kleinen Elite aus Grossgrundbesitzern, Industriellen und Bankern.
Bald rief seine Regierung gross angelegte Sozialprogramme ins Leben, etwa «Bolsa Família» (Familienstipendium). Die Idee: Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken, erhalten eine monatliche Unterstützung. Gleichzeitig expandierte die Wirtschaft jedes Jahr um durchschnittlich vier Prozent. Brasilien eliminierte seine Schulden beim IWF, und der Mindestlohn wurde kontinuierlich angehoben. 40 Millionen Menschen stiegen in dieser Zeit laut offizieller Statistik in die Mittelklasse auf, die sogenannte Classe C. Diese wurde allerdings grosszügig definiert: ab einem Einkommen von umgerechnet 550 Franken.
Damals war Lula der beliebteste Staatschef der Welt. Barack Obama sagte: «Ich bewundere ihn.»
Als Lula 2011 aus dem Amt schied, waren Millionen versicherungspflichtiger Jobs entstanden. Seine Regierung hatte den Hunger so gut wie ausgerottet und Brasilien zum zweitgrössten Nahrungsmittelexporteur der Welt gemacht. Das Land überschwemmte den Globus mit Soja, Zucker, Kaffee und Orangen. Es lieferte das Eisenerz, aus dem die Chinesinnen den Stahl für ihre Städte gossen. Und es wollte mit der Ausbeutung der riesigen Ölfelder vor seinen Küsten beginnen. Auch der Binnenkonsum wuchs. Die Brasilianer kauften wie blöde Waschmaschinen, Computer, Autos und Fernseher. Sie verschuldeten sich dabei, aber sie wollten dazugehören. 2011 überholte Brasilien England und wurde sechstgrösste Volkswirtschaft der Welt.
Das «Land der Zukunft», von dem Stefan Zweig 1942 geschwärmt hatte, schien endlich seine Rolle gefunden zu haben: multiethnisch, tolerant, demokratisch – und wirtschaftlich erfolgreich. Mit einem unerschöpflichen Potenzial an Rohstoffen und Arbeitskräften. Zu guter Letzt bekam Brasilien die Fussball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 zugesprochen. Der britische «Economist» titelte 2009 zum Bild einer fliegenden Christusstatue: «Brasilien hebt ab».
Wirtschaftsboom ohne die grosse Masse
Es konnte nur der Niedergang folgen. 2010 wählten die Brasilianer Lulas Parteifreundin Dilma Rousseff zur Präsidentin. Sie setzte seinen Kurs fort: Exporte und Sozialprogramme. Umso überraschender kamen die Massenproteste im Sommer 2013, als Millionen junger Brasilianerinnen für eine andere Nation auf die Strasse gingen. Sie verlangten bessere Schulen, bessere Krankenhäuser, bessere Transportsysteme, mehr Sicherheit und vor allem: ein Ende der Korruption. «Entschuldigen Sie die Störung», las man damals auf Plakaten, «wir verändern gerade Brasilien.»
Tatsächlich hatte die Euphorie der Nullerjahre lange über Brasiliens strukturelle Defizite hinweggetäuscht. Der wirtschaftliche Aufstieg hatte zwar für viele ein persönliches Fortkommen bedeutet, sich aber nicht in eine Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur übersetzt. Wieso, fragten sich viele Menschen, hat der Bus bei 37 Grad Celsius keine Klimaanlage, obwohl das Ticket schon wieder 20 Centavos teurer geworden ist?
Die einfache Antwort lautete im Fall Rio de Janeiros: Weil ein Grossteil des Betrags in den Taschen des Gouverneurs verschwindet, der dem Chef des Busunternehmens die Erhöhung bewilligt hat, der wiederum seine Wahlkämpfe mitfinanziert. Es war die übliche, seit Jahrzehnten gut geölte Korruptionsmaschine Brasiliens. Vor allem junge Menschen wollten das nicht mehr hinnehmen.
Gleichzeitig vertieften sich erneut die Gräben einer Gesellschaft, die auf einer quasifeudalen Ordnung basiert. Obwohl Brasilien (als letztes Land des amerikanischen Kontinents) die Sklaverei 1888 abschaffte, herrscht bis heute eine weisse Elite in Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz und Universitäten. Die grosse Masse der Schwarzen hingegen ist arm, lebt in Favelas und dient als billiges Reservoir an Arbeitskräften. Eine 2018 veröffentlichte Uno-Studie kam zum Schluss, dass Brasilien zu den fünf ungerechtesten Ländern der Welt zählt: Auf nur 0,1 Prozent der Bevölkerung konzentrierten sich 23 Prozent der Einkommen.
Die Gegensätze zeigen sich bei der Verteilung des Landes, bei Bildung, Gesundheit und Sicherheit. Wer weiss und reich ist, hat Zugang. Wer schwarz und arm ist, hat wenig Chancen, aufzusteigen. Diesen Gegensatz konnte die Arbeiterpartei PT nie aufheben. Was auch damit zu tun hatte, dass in Brasiliens Parlament rund dreissig Parteien vertreten sind. Jede Regierung ist auf eine Vielzahl von Koalitionspartnern angewiesen, die wiederum unterschiedlichste Interessen verfolgen. So werden strukturelle Reformen fast unmöglich.
«Hat Brasilien es vergeigt?»
Der Kristallisationspunkt für die Demonstrationen war 2013 die bevorstehende Fussball-WM. Man empfand ihre Kosten als pervers. Doch genauso schnell, wie die Proteste gekommen waren, verebbten sie auch wieder. Das hatte viel mit dem brutalen Vorgehen der Militärpolizei zu tun, die Unmengen von Tränengas verschoss. Die Szenen dienten der Politik und konservativen Medien dazu, die Demonstranten als «Terroristen» zu brandmarken. Gleichzeitig versuchte die konservative Opposition die Unzufriedenheit in ihre Bahnen zu lenken.
Dabei half ihr der Beginn einer ökonomischen Krise. 2012 wuchs die brasilianische Wirtschaft nur noch um magere 0,9 Prozent. Die Chinesen kauften weniger Rohstoffe, und die Preise sanken. Brasiliens grösstes Problem wurde deutlich: die Abhängigkeit vom Export unverarbeiteter Rohstoffe.
2013 fragte der «Economist» rhetorisch: «Hat Brasilien es vergeigt?» Dazu zeigte man eine abstürzende Christusstatue.
Tatsächlich vergeigte Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff einiges. Sie tat nichts oder reagierte falsch, versuchte die Krise etwa mit Benzinpreis-Festlegungen von den Brasilianerinnen fernzuhalten. So schlitterte das Land schliesslich in eine Rezession. Die Inflation nahm wöchentlich zu, ebenso die Arbeitslosigkeit. Ehemalige Ölarbeiter fanden sich plötzlich als Strassenverkäufer wieder.
Dennoch gelang es Rousseff 2014 nach einem erbitterten Wahlkampf, noch einmal Präsidentin zu werden. Zu ihrem Pech war es aber auch das Jahr, in dem sich einer der grössten Korruptionsskandale der Welt zu entfalten begann: «Lava Jato» nannten die Ermittler ihre Untersuchungen, Autowaschanlage.
Einseitige Korruptionsermittlungen
Firmen, die Aufträge des halbstaatlichen Erdölgiganten Petrobras erhielten, hatten «Prämien» an Politikerinnen zahlen müssen. Das zeigten die Ermittlungen. Das System verselbstständigte sich mit den Jahren, es ging um Milliarden von US-Dollars.
Die Grösse des Raubzugs kam ans Licht, als ein ehemaliger Petrobras-Manager, der wegen Bestechung festgenommen worden war, einem Deal zustimmte: Straferleichterung gegen Aussage. Er sagte aus, begann Namen zu nennen. Die Fälle landeten bei dem jungen und ehrgeizigen Untersuchungsrichter Sérgio Moro und seinem Team.
Moro lehrte bald die wirtschaftliche und politische Klasse Brasiliens das Fürchten: Er brachte etwa den Chef von Odebrecht, dem grössten Baukonzern Lateinamerikas, hinter Gitter. Sowohl Odebrecht als auch Petrobras, beide Unternehmen wichtige Standbeine der brasilianischen Wirtschaft, verloren in dieser Zeit enorm an Wert. Wöchentlich wuchs nun die Liste der Verdächtigen in Politik und Wirtschaft. Die Brasilianer sahen der Entwicklung fassungslos zu – und bewunderten den gut aussehenden Moro.
Aber der Untersuchungsrichter musste sich bald den Vorwurf gefallen lassen, am liebsten gegen Mitglieder der linken Arbeiterpartei von Präsidentin Dilma Rousseff zu ermitteln. Die Beobachtung war nicht falsch. Politiker der konservativen Oppositionspartei PSDB verschonte Moro auffällig – zeigte sich sogar im einvernehmlichen Plausch mit ihnen.
Schliesslich versuchte er auch Rousseff in den Skandal zu ziehen. Das gelang ihm zwar nicht, aber für Brasiliens weisse konservative Oberschicht war es der Startschuss, um gegen Rousseff und ihre Arbeiterpartei zu mobilisieren, die Brasilien angeblich in den Kommunismus führe.
Das Impeachment gegen die Präsidentin
In den Jahren 2015 und 2016 erlebte Brasilien erneut Massenproteste. Aber die Demonstrantinnen waren diesmal andere. Es gingen jetzt Millionen gut situierter weisser Brasilianer auf die Strasse und skandierten: «Dilma raus!» Man sah Transparente, auf denen stand: «Brasilien ist nicht Kuba!» oder «Brasilien wird niemals rot sein.» Das gelbe Trikot des Fussballnationalteams wurde zum Erkennungszeichen der Demonstranten. Die Polizei liess sie freundlich gewähren. Was 2013 links und emanzipatorisch begonnen hatte, kam 2016 rechts und autoritär heraus.
Der Druck führte schliesslich dazu, dass der Kongress ein Impeachment-Verfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff einleitete. Zwar konnte ihr keine Korruption nachgewiesen werden, aber findige Juristinnen stiessen auf ein paar Haushaltstricks ihrer Regierung, die unter anderen Umständen niemanden gestört hätten. Der eitle Vizepräsident Michel Temer von der Partei der Demokratischen Bewegung PMDB begann hinter Rousseffs Rücken zu intrigieren.
Wie man heute weiss, gab es ein entscheidendes Motiv für das Amtsenthebungsverfahren: die Angst vieler Politiker vor den Lava-Jato-Ermittlungen. Denn Präsidentin Rousseff liess die Ermittler gewähren, und sie waren einigen Schlüsselfiguren in Temers PMDB gefährlich nahe gekommen. Berüchtigt wurde der Mitschnitt eines Gesprächs, in dem ein hoher PMDB-Politiker sagt: «Wir müssen die Blutung stoppen!» Er meinte die Ermittlungen der Operation Lava Jato.
Vizepräsident Temer übernimmt
Ende August 2016 war es so weit: Dilma Rousseff wurde vom Kongress ihres Amtes enthoben, und Vizepräsident Michel Temer streifte sich die Präsidentenschärpe über. Sein erstes Versprechen: die Wirtschaft ankurbeln. Temer berief ein Kabinett aus ausschliesslich weissen Männern und machte sich daran, Reformen umzusetzen: die Liberalisierung des Arbeitsmarkts, eine Rentenreform, die Beschneidung von «Bolsa Família» und die Abschaffung von Studienstipendien für ärmere Brasilianerinnen.
Bei Wahlen hätte Temer für sein Programm niemals eine Mehrheit bekommen, weswegen die Arbeiterpartei jetzt von einem «golpe» sprach, einem Putsch. Bis heute spaltet der Begriff Brasilien. Wer ihn gebraucht, gibt sich als Linker zu erkennen; wer auf «Impeachment» besteht, als Rechte.
Die Wirtschaft begrüsste die Politik Temers zunächst. Sie führte zum Rückgang der Inflation und einer Wiederbelebung der Märkte. Letztlich konnte Temer das Land aber nicht aus der tiefen Wirtschaftskrise führen. Beim Wachstum belegte Brasilien im August 2018 den letzten Platz von 47 Ländern. Im Ranking der Weltbank zu Investorenfreundlichkeit findet sich Brasilien auf Rang 125. Die Erwerbslosigkeit betrug zuletzt 12,3 Prozent und betraf 13 Millionen Brasilianer. Ausserdem ist der Hunger, der schon ausgerottet war, laut der Welternährungsorganisation FAO zurück.
Undemokratisches Wahlsystem
Es verwundert also nicht, dass Temers Zustimmungsrate heute bei unter fünf Prozent liegt. Auch gegen ihn existieren schwere Korruptionsvorwürfe. Der Ex-Bundesanwalt Rodrigo Janot hat ihn sogar als «Kopf einer kriminellen Vereinigung» bezeichnet. Doch das Parlament schützt Temer. Das ist nicht verwunderlich. Rund 300 von 513 Abgeordneten werden selbst der Korruption oder anderer Verbrechen verdächtigt, darunter sogar Mord. Im Senat wiederum sind laut Transparency Brasil 49 von 81 Senatoren verdächtig. Sie müssen sich deswegen nicht vor Gericht verantworten, weil sie als Mandatsträger das sogenannte «privilegierte Forum» geniessen, eine Sonderregelung, die ihnen praktisch Immunität verschafft.
Viele Brasilianerinnen wünschen sich nun zwar eine Säuberung des Kongresses. Dennoch werden viele der üblichen Verdächtigen nach den Wahlen wieder einziehen. Es liegt am brasilianischen Wahlsystem, das kompliziert und undemokratisch ist. Lediglich fünf Prozent der aktuellen Abgeordneten wurden direkt gewählt, die anderen sind über Leihstimmen eingezogen. Hinzu kommt, dass einige wenige Familien Brasiliens Politik dominieren. Der Politologe Ricardo Costa Oliveira hat ermittelt, dass 62 Prozent der Abgeordneten und 70 Prozent der Senatoren Politikclans angehören. Es ist ein System, das politische Partizipation verhindert und den Status quo zementiert. Die Zahl der Brasilianer, die deswegen nicht wählen geht, wird in diesem Herbst wohl einen neuen Rekord erreichen.
Lula im Gefängnis
Ein Unwählbarer würde diesen Negativrekord wohl verhindern: Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva wird bis heute von vielen Armen, Künstlerinnen und Intellektuellen verehrt – und von der Oberschicht gehasst. Sie macht sich gerne über sein fehlerhaftes Portugiesisch lustig; oder darüber, dass er an der linken Hand wegen eines Arbeitsunfalls nur noch vier Finger hat. Sie war daher hellauf begeistert, als Untersuchungsrichter Sérgio Moro den linken Ex-Präsidenten im Zuge seiner Korruptionsermittlungen ins Visier nahm. Moro war überzeugt, dass Lula von dem Baukonzern OAS ein Apartment bekommen hatte, weil er der Firma Aufträge verschafft hatte. Aber Lula bestritt, dass das Apartment jemals ihm gehörte. Obwohl Moro seine These nie hundertprozentig beweisen konnte, verurteilte er Lula im Juli 2017. (In Brasilien leiten Untersuchungsrichter die Ermittlungen eines Falls, über den sie dann auch richten.) Ein Gericht bestätigte das Urteil Moros im Januar in zweiter Instanz und erhöhte das Strafmass auf zwölf Jahre. Seit April sitzt Lula nun im Gefängnis.
Der Fall Lula ist neben dem Aufstieg Bolsonaros das zweite grosse Drama, das sich vor den Augen der Brasilianer entfaltet. Es hat shakespearesche Qualitäten. Denn Lula ist nicht irgendein Politiker. Für die einen ist er der Präsident des Volkes, für die anderen der grösste Dieb der Geschichte. Erstere behaupten, er sei ein politischer Häftling, Letztere halten ihn für einen gewöhnlichen Kriminellen. Lula lässt niemanden kalt, und so ist er bei den Wahlen trotzdem omnipräsent, obwohl er im Gefängnis sitzt.
Das Erstaunlichste daran: Lula liegt trotz seiner Verurteilung in allen Umfragen an der Spitze. Dürfte er antreten, würde er der neue, alte Präsident Brasiliens. Doch er darf nicht.
Was nun?
Die Arbeiterpartei schickt jetzt den ehemaligen Bürgermeister von São Paulo ins Rennen, Fernando Haddad. Ob es ihm gelingen wird, hinter Bolsonaro in die Stichwahl zu kommen, ist völlig offen. Im Gegensatz zu Lula ist er ein blasser Kandidat. Chancen hat ebenfalls die evangelikale Umweltschützerin Marina Silva, die allerdings schon zum dritten Mal antritt. Ihr wird fehlender Wille zur Macht attestiert. Der linksliberale Ciro Gomes wiederum ist vielen einfachen Brasilianern zu intellektuell und ironisch. Zu guter Letzt tritt der ehemalige Gouverneur von São Paulo an: Geraldo Alckmin von der PSDB ist der Lieblingskandidat der Wirtschaft und des mächtigen Medienkonzerns Globo. Aber er ist extrem steif und unpopulär. Und auch gegen ihn existieren Korruptionsvorwürfe.
Wer von den Kandidierenden es in die zweite und entscheidende Wahlrunde Ende Oktober schafft, ist heute völlig unklar. Einzig Jair Bolsonaro dürfte es mit Sicherheit schaffen – eine düstere Perspektive.
«Deus é brasileiro» lautet ein schönes Bonmot in Brasilien: «Gott ist Brasilianer.» Es scheint, als befände er sich zurzeit in einer ziemlich alttestamentarischen Phase.
Philipp Lichterbeck ist Journalist in Rio de Janeiro. Er schreibt unter anderem für den «Tagesspiegel», die «Zeit», die NZZ und die WOZ über Lateinamerika. 2013 erschien von ihm beim Dumont-Verlag der Reportageband «Das verlorene Paradies» über Haiti und die Dominikanische Republik.