«Meinst du, heute kannst du schlafen?»
Alles schläft – nur ich nicht. Was hindert mich daran? Was kann ich dagegen tun? Gäbe es doch Antworten auf solche Fragen! Stattdessen: ein Bericht aus dem Dunkel der Nacht.
Von Barbara Villiger Heilig (Text) und Augustin Rebetez (Video), 15.09.2018
Es ist jetzt fünf Jahre her, dass ich nicht mehr schlafen konnte, einen ganzen Sommer, der im Vorfrühling begann und sich bis weit in den Winter zog.
Fünf Jahre sind eine lange Zeit, jedenfalls lang genug, um heute, aus reichlicher Distanz, auf diese Grenzerfahrung zurückzukommen. Ein Hauptproblem bei Schlaflosigkeit ist, dass sie desto eher verschwindet, je weniger Beachtung man ihr schenkt. Umgekehrt: Je mehr man sich ihr widmet – über sie nachgrübelt, von ihr redet –, desto hartnäckiger kehrt sie wieder. In der akuten Phase bedeutete deshalb die gut gemeinte Frage «Meinst du, heute kannst du schlafen?» bereits eine weitere Nacht der Verzweiflung. Nein, ich kann nicht schlafen, ich werde überhaupt nie mehr schlafen können, nie … Das war meine Befürchtung, und die Frage beschwor nur herauf, was Nacht für Nacht eintraf.
Noch viel später, als das Schlimmste vorüber war, konnten Harmlosigkeiten – ein falsches Wort, ein unangenehmer Gedanke – den heimlich sich nähernden Schlaf wieder vertreiben und Platz schaffen für die langsam anwachsende Panik. Was, wenn jetzt alles von neuem anfängt? Der Horror jenes Sommers …
Die Störaktionen
Müde war ich schon. Und wie! Aber Müdigkeit garantiert noch nicht den Einlass ins gelobte Reich des Schlafs. Das fand ich ungerecht: Wenn eine den Schlaf verdiente, war ich es! Ich haderte mit dem Schicksal und rechnete mein kumuliertes Schlafmanko aus, während um mich herum alles schlief, die Menschen, der Hund. Ihre Friedlichkeit nervte. Wach sein war schlimm genug, allein wach sein noch schlimmer. Ich war ausgeschlossen von den Schlafenden und zugleich eingekapselt in meine Einsamkeit. Um ihr zu entfliehen, begann ich zu stören: nur ein Wort des Verständnisses! Ich bettelte um Mitleid.
Bei Tageslicht war mir klar, dass Störaktionen nichts brachten ausser Unmut und ein – kaum schlafförderndes – schlechtes Gewissen. Im Dunkeln jedoch kam mir der Verstand abhanden. Überhaupt fehlt im Zustand der infantilen Regression, die typisch ist für das Problem, jegliche Orientierung. Nur die Kirchenglocke schlug unerbittlich: Viermal pro Stunde informierte sie mich darüber, wie viel Schlaf ich bereits verpasst hatte. (Unterdessen brachte irgendein barmherziger Geist die blöde Glocke nachts zum Schweigen.) Schlief ich gegen Morgen endlich ein, weckte mich um sieben Uhr dröhnendes Glockengeläute. Einziger Trost: die Erinnerung an meinen Vater, der – wir wohnten in meiner Kindheit in der Nachbarschaft – diese Marter ebenfalls durchgemacht hatte. Er ging seiner Arbeit dennoch nach, also konnte ich das auch. Lange nach seinem Tod wurden wir zu Verbündeten.
Die Leselampe
Es heisst, Schlafschwierigkeiten würden von den Eltern an die Kinder weitergegeben. Jedenfalls verkündeten das fachspezifische Internetportale, die ich nächtens zu studieren begann. Tatsächlich hatten meine Eltern beide seit je an dieser Front gekämpft. Ich war bald die Dritte im Bund, schon als Schulmädchen. Man gab mir Zuckerwasser oder Honigmilch. In seiner Not griff mein Vater zur Chemie und verabreichte mir Valium. Schliesslich schritt der Familienarzt ein: Er empfahl eine Leselampe, die oben am Kajütenbett befestigt wurde. So kam es, dass ich mich durch die populärwissenschaftlichen Bücher eines Onkels las, die im Regal vor sich hin staubten: das Universum, die Relativitätstheorie, der gekrümmte Raum. Schlafen wurde Nebensache. Die Schlaflosigkeit löste sich in nichts auf.
Als Kollateralnutzen resultierte aus dieser Intervention eine beträchtliche Selbstsicherheit in astrophysikalischen Belangen. Nur damit lässt sich meine Maturnote in Physik erklären.
Ja, das Lesen. Im Krisensommer vor fünf Jahren schaffte es immerhin Joël Dicker, für Entspannung im Stress zu sorgen. «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert», gelesen auf einer Ferienreise, brachte regelmässig den Schlaf herbei. Nicht weil das Buch langweilig gewesen wäre, im Gegenteil: Spannung fördert die Konzentration, Konzentration den Schlaf. Aber vielleicht war Letzterer auch bloss den Ferien zu verdanken? Oder meinem Entschluss, keinen Tropfen Wein zu trinken?
Der Zombie-Zustand
Bereits auf der Rückreise war es aus mit dem Lesetrick. Er funktioniert generell nicht, wenn der Zeitpunkt dafür verpasst ist: Bricht die Panik aus, hat sie mich im Griff und untergräbt heimtückisch das Versinken in der Lektüre samt der damit einhergehenden, fürs Einschlafen notwendigen Selbstvergessenheit. Hingegen hat sich die Alkoholabstinenz bewährt. Nicht, dass sie den Schlaf sicherstellte. Aber sie mildert die Perspektive auf den kommenden Tag: Der Zombie-Zustand nach einer schlaflosen Nacht ist ohne Kopfweh erträglicher. Er gleicht bloss noch einem durchschnittlichen Jetlag.
Damals, während meines Dauer-Jetlags, entschloss ich mich, Spezialisten zu konsultieren. Laut Webseite schien die Klinik für Schlafmedizin in Bad Zurzach wie zugeschnitten auf mich und meine Symptome. Alles, was ich gerade erlitt, war dort aufgeführt. Jetzt musste ich bloss noch die entsprechende Therapie machen. Dem ersten Termin fieberte ich entgegen wie ein Kind dem Weihnachtsfest. Aber ach, meine Therapeutin hielt keine Überraschung in Wundermittel-Form parat. Sondern nur die üblichen Ratschläge: abends kein helles Licht, keine anregenden Aktivitäten, keine Elektronik. Leichte Kost, meditative Musik, Johanniskraut-Pastillen. Kurz: das, was jede Frauenzeitschrift empfiehlt.
Immerhin ordnete die Therapeutin ein strenges Schlafbegrenzungsregime an. Um ein Uhr ins Bett, um sieben Uhr wieder raus. Und siehe da – es wirkte auf Anhieb. Allerdings nur für zwei Wochen, danach begann das Theater von vorn. Als erschwerender Faktor war zudem die Enttäuschung über den Misserfolg dabei. Geduld!, hiess es in Zurzach.
Die Pillen
Unterdessen hatte ich gemerkt, wie viele Menschen unter Schlaflosigkeit leiden. Frauen schienen in der Überzahl, was damit zusammenhängt, dass Männer weniger über solch intime Angelegenheiten sprechen. Einerseits besänftigte es mich, in guter Gesellschaft zu sein, anderseits wuchs die Angst. Ich hörte zum Beispiel von einem, der seit Jahrzehnten jede Nacht nur wenige Stunden schlief, wenn überhaupt. Da sei nichts zu machen. Oder: Verschiedene Freundinnen outeten sich als regelmässige Schlafmittel-Konsumentinnen. Das Valium kam mir in den Sinn. Natürlich hatte auch ich seither mit diversen Medikamenten experimentiert, doch nur punktuell – und ausserdem stets mit verheerenden Folgen: Der Tag danach bescherte mir nebst einem gigantischen Kater eine Art von Amnesie, die ich mir nicht leisten konnte oder wollte. Zombie im Quadrat.
Sogar in Zurzach riet man als Ultima Ratio zu einer medikamentösen Kur. Das empfand ich als Kapitulation seitens der dortigen Fachleute. Ich fragte meinen Hausarzt – mit dem Ergebnis, ein weiteres Rezept heimzutragen. «Versuchen Sie es wenigstens!», war der Tenor überall. Meinen Klagen über den Zombie-Effekt hielt man entgegen, ich müsse den Medis eine Chance geben: eine positive Einstellung dazu entwickeln. Was aufmunternd gemeint war, kam bei mir als Vorwurf an. Machte ich alles falsch?
Eines Abends beim Warten in der Apotheke am Hauptbahnhof beobachtete ich einen smarten jungen Mann. Businessanzug, Kopfhörer. Er verlangte routinemässig zwei Schachteln Circadin – ein Habitué mit Dauerrezept. Bei mir hatten Melatonin-Produkte, dieses eingeschlossen, nur einen schweren, schwarzen, unaufhaltsam aufs Bewusstsein niedersinkenden Deckel hergestellt, gegen den ich mich wehrte, bis er mich überwältigte.
Jedes Mal, wenn ich resignierte und schliesslich doch zur Pille griff, verbuchte ich das als Niederlage. Nicht einmal zum Schlafen war ich fähig! Das kann doch jedes Baby.
Warum?
Die Frage, was einen – oder mich – am Einschlafen hindert, ist mir genauso wenig klar wie diejenige, warum das Nicht-schlafen-Können eine derartige Qual sein muss. Was solls, könnte man sich sagen, Zeit zum Nachdenken, zum Dösen … Aber nein: Von irgendwoher schleichen perfide Gefahren herbei, die im Halbschlaf eigentlich nichts verloren hätten. Ferne Termine ploppen im Kopfkalender auf, berufliche Aufgaben wachsen am Bewusstseinshorizont zu unüberwindbaren Hindernissen empor, die kleinste Banalität nimmt erdrückende Dimensionen an. Wie schaff ich das bloss alles? Zumal ich morgen als Zombie durch die Welt stolpern werde, zerknittert, fahrig, unfähig, mich der Öffentlichkeit zu präsentieren … Aber was heisst da morgen! Es ist ja schon vier Uhr, fünf Uhr, sechs Uhr.
Tee kochen. Schwimmen gehen. Und natürlich klappt alles trotzdem.
Der Sommer vor fünf Jahren war der Tiefpunkt meiner Schlaflaufbahn. Ich buchstabierte den Tagesablauf von den Nächten her. Ausschliesslich koffeinfreier Kaffee. Gläserweise Sojamilch (auch das hatte ich irgendwo gelesen, nützen tat es nichts). Yoga. Kalte Fussbäder. Stand abends eine Einladung an, wuchs meine Nervosität schon am Nachmittag. Würde ich vom Konversationsmodus zurückfinden zur nötigen inneren Ruhe? Musste ich morgens früh raus, lief der Countdown synchron mit dem Wecker. Hoffnungslos.
Die Gedichte
Kafka, immerhin, tröstete mich, und zwar mehr als all jene anderen schlaflosen Genies, die landauf, landab zitiert werden. Kafkas Tagebücher begleiteten mich, wenn ich mich doch noch zum Lesen aufrappelte, durch die Nächte. Seither verstehe ich seine Romane und Erzählungen ganz unmittelbar: lauter Protokolle aus einem Dämmerzustand, in dem sich Traumfetzen und Alltagsreste vermischen.
Was war es, was dem Spuk ein Ende bereitete? Die Therapeutin in Zurzach hatte mir viele Übungen vorgeschlagen: Denken Sie sich ein Zimmer aus, das Sie nach Ihrem Geschmack einrichten, bis ins kleinste Detail. Resümieren Sie den vergangenen Tag rückwärts, Schritt für Schritt. Machen Sie Kopfrechnungen. Stellen Sie sich dabei zu jeder Zahl eine Farbe vor.
Verlorene Liebesmüh. Mir kam das alles langweilig vor, und überdies hielt sich bei solchen Übungen hartnäckig die Gewissheit, DASS ICH NICHT SCHLIEF. Besser waren Gedichte. Ich lernte einige auswendig und sagte sie im Stillen auf. «Melde mir die Nachtgeräusche, Muse, die ans Ohr des Schlummerlosen fluten!» Ja, Conrad Ferdinand Meyer half bisweilen (und wieder dankte ich meinem Vater, der mir die Zeilen einst vorgesagt hatte).
Die Erkenntnis
Es gibt kein Rezept gegen Schlaflosigkeit. Doch es ist falsch zu glauben, sie müsse ewig dauern. Jede, jeder kann herausfinden aus dem Teufelskreis. Vielleicht nicht definitiv, aber doch immer wieder, auch über längere Strecken. Die Wege dahin sind so unterschiedlich wie individuell. Sie zeigen sich irgendwann von selbst.
Schon bevor der Krisensommer ausbrach, hatte ich für die Zeitung, bei der ich arbeitete, eine Serie mit Autorentexten zum Thema «Schlaflos» organisiert. Den schönsten – er stammt vom schottischen Dichter John Burnside – las ich nun wieder.
Sein Text wirkt nicht wie ein Schlafmittel. Ohne die Schlaflosigkeit zu verharmlosen, verzaubert er sie zur «schönsten Heimsuchung». Burnside gewinnt dem Ausnahmezustand einen Sinn ab, den er in versöhnliche Worte fasst. Für uns, die Schlaflosen.
Augustin Rebetez, geboren 1986 im jurassischen Mervelier, arbeitet multimedial: Seine Installationen setzen sich aus Texten, Zeichnungen, Skulpturen und Videos zusammen. Er zeigte seine Werke u. a. bei den Rencontres de la photographie in Arles, an der Nuit des images im Lausanner Musée de l’Elysée, an der Biennale in Sydney und dem Festival Images in Vevey. 2015 brachte er «Rentrer au volcan» im Théâtre de Vidy auf die Bühne.
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