Binswanger

Europa: Sabotage von innen

Der Europawahlkampf nimmt Fahrt auf – mit offenem Ende.

Von Daniel Binswanger, 15.09.2018

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Der Akt soll als historisch gelten. 448 Abgeordnete des Europaparlamentes haben für die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Ungarn ihre Ja-Stimme abgegeben. Die notwendige Zweidrittelmehrheit ist damit erreicht worden, denn es hielten nur 197 dagegen. Ein kurzes Gefühl der Euphorie hat sich am Mittwoch in Strassburg breitgemacht: Europa ist aufgewacht, Europa nimmt die Bedrohung von Rechtsstaat, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit im Osten des Kontinents nicht weiter passiv hin. Noch nie hat das EU-Parlament ein solches Verfahren gegen ein Mitgliedsland eröffnet.

Leider führt jedoch gerade diese symbolisch aufgeladene Strafaktion die verzweifelte Lage der europäischen Politik vor Augen: Erstens ist ungewiss, ob der Entscheid Bestand hat, und zweitens wird er mit Sicherheit keine konkreten Folgen haben.

Der Beschluss des EU-Parlamentes könnte als nicht gültig erklärt werden, weil zwar eine Zweidrittelmehrheit gegen Ungarn erzielt wurde, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Enthaltungen (es waren 48) nicht mitgezählt werden. Ob sich die geforderte Zweidrittelmehrheit aber auf die gültigen Ja- und Nein-Stimmen oder auf alle abgegebenen Stimmen bezieht, geht aus dem Lissaboner EU-Vertrag nicht hervor. Europarechtsspezialisten sind geteilter Meinung. Die ungarische Regierung prüft eine Klage. Es ist nicht auszuschliessen, dass das Aufstehen der EU-Institutionen für Rechtsstaatlichkeit und Grundwerte ausgerechnet vom Europäischen Gerichtshof wieder kassiert wird.

Selbst wenn dem nicht so sein sollte: Dass Ungarn mit konkreten Konsequenzen zu rechnen hätte, ist ohnehin auszuschliessen. Erstens ist das Strafverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags eine langwierige Angelegenheit. Gegen Polen laufen schon seit über zwei Jahren sogenannte Vertragsverletzungsverfahren, seit letztem Dezember sogar – wie jetzt auch gegen Ungarn – ein (von der Kommission angeschobenes) Rechtsstaatsverfahren. Über die «Dialogphase», das heisst endlose Konsultationen, die bisher in keinem Bereich zu einer Einigung geführt haben, ist das Verfahren nicht hinausgekommen.

Sollte es schliesslich doch zu Sanktionen gegen Ungarn kommen – am Ende des Strafverfahrens könnte ein Stimmrechtsentzug stehen –, müssten diese vom Europarat einstimmig beschlossen werden. Dieses Szenario kann schon heute ausgeschlossen werden. Polen hat bereits angekündigt, dass es Ungarn decken und gegen jede Bestrafungsaktion sein Veto einlegen werde. Ungarn seinerseits lässt verlauten, es werde Polen vor Unbill bewahren. Als einsamer Einzelgänger hätte ein autoritärer Populist in Europa einen schweren Stand. Es reicht jedoch, nur einen Bruder im Geiste zu finden, und den EU-Institutionen sind weitgehend die Hände gebunden. Isoliert ist Orban schon längst nicht mehr.

Für den Augenblick begnügt sich der ungarische Staatschef damit, die politische Rendite seiner Strassburger Massregelung einzufahren. «Man will Ungarn abstrafen dafür, dass es kein Einwandererland sein will», resümierte er den Konflikt vor dem EU-Parlament. Das ist selbstverständlich Propaganda-Humbug. Dreissig Seiten umfasst der Katalog der Rechtsstaatsverstösse Ungarns über die letzten acht Jahre, den der Justizausschuss des EU-Parlamentes erarbeitet hat. Lediglich vier dieser Seiten sind der Migrationspolitik und den Flüchtlingen gewidmet, denen gegenüber sich die ungarische Regierung in der Tat schwerste Menschenrechtsverstösse zuschulden kommen lässt.

Gemessen an der Abschaffung einer unabhängigen Judikative, den permanenten Angriffen auf die Meinungsfreiheit, der Gängelung der akademischen Lehre, der flächendeckenden Korruption, welche die Brüsseler Aufsichtsorgane insbesondere beim Umgang mit europäischen Subventionsgeldern feststellen mussten, wird die Flüchtlingspolitik jedoch beinahe zu einem Nebenaspekt. Hinzu kommen die delirierenden antisemitischen Hetzkampagnen, die die EU-Agentur für Grundrechte bereits im Juni aufs Schärfste verurteilt hat. Seit dem Naziregime ist Orban wohl der erste europäische Machthaber, der zutiefst antisemitische Verschwörungstheorien zu einem tragenden Pfeiler seiner Herrschaft gemacht hat: George Soros versucht gemäss dem Orban-Regime, mit einer geheimen Pro-Migranten-Agenda gezielt die EU und den ungarischen Staat zu zerstören.

Das wirkliche Drama ist jedoch, dass die politische Abwehrfront gegenüber dem osteuropäischen Autoritarismus alles andere als geschlossen ist. Von den fünf deutschen CSU-Abgeordneten im EU-Parlament hat nur einer für das Strafverfahren gegen Ungarn gestimmt – Manfred Weber, der bisher Orban durch dick und dünn gedeckt hat, jetzt aber gerne EU-Kommissionspräsident werden würde und deshalb der politischen Mitte gegenüber eine Geste machen muss. Nicht umsonst pflegt die CSU seit Jahren die allerengsten Beziehungen zur schwesterlichen Fidesz. Über Orbans Auffälligkeiten – inklusive Antisemitismus – blickt man in Bayern mit völliger Entspanntheit hinweg. Opportunismus? Seelenverwandtschaft? Keine der beiden Erklärungen ist besonders beruhigend.

Noch absurder erscheint die Situation in Österreich, wo Bundeskanzler Kurz, der nun die EU-Ratspräsidentschaft innehat, sich für das Strafverfahren aussprach. Sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache ergriff hingegen Partei für den ungarischen Ministerpräsidenten und bot der Fidesz-Partei an, sich im EU-Parlament der Rechtsaussenfraktion «Europa der Nationen und der Freiheit» anzuschliessen, welche die FPÖ gemeinsam mit Marine Le Pens Rassemblement national und Salvinis Lega bildet. Dafür, dass Kurz, der in der Flüchtlingspolitik Orbans Positionen weitgehend teilt, ihm jetzt nicht mehr die Stange halten will, hat die regierungsnahe ungarische Zeitung «Magyar Idők» im Übrigen bereits eine Erklärung. Kurz soll mit Soros – wem sonst! – unter einer Decke stecken, wofür das Propagandaorgan auch den Beweis erbracht hat: Sowohl Kurz als auch Soros sind Mitglieder des European Council on Foreign Relations. Der Thinktank und Debattierclub zählt 270 Mitglieder.

Welches Spiel wird eigentlich gespielt? Im Hinblick auf die Europawahlen vom nächsten Jahr werden jetzt die Karten neu gemischt. Die radikale Rechte hofft auf starke Zugewinne, gar darauf, die gemässigte Rechte ablösen zu können als stärkste parlamentarische Kraft. Die EU soll von innen sabotiert werden. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich sind die Regierungsparteien ganz offensichtlich gespalten, auf welcher Seite dieses Konfliktes sie künftig stehen werden.

Womit wir bei Steve Bannon wären. Trumps ehemaliger Chefstratege tingelt wieder aktiv über den alten Kontinent, um alle Kräfte zu föderieren, die eine stramm antieuropäische Agenda verfolgen und auch erprobten Hardcore-Formen des politischen Fanatismus gegenüber keine Berührungsängste haben. In Zürich bei Roger Köppel hat Bannon bekanntlich bereits Station gemacht. Salvini gab nun öffentlich bekannt, er werde Bannons «Movement» beitreten. Der zweite strategische Partner dürfte Orban sein.

Das Strafverfahren gegen den ungarischen Ministerpräsidenten war nicht mehr als der Auftakt zum Europawahlkampf von nächstem Mai. Es ist höchste Zeit, dass die EU gegenüber dem korrupten Autoritarismus klare Kante zeigt. Aber es ist alles andere als gesichert, wie dieser Machtkampf ausgeht.

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