Susanne Bartsch sitz in einem blauen Kleid nachdenklich am Esstisch. Auf dem Tisch steht eine Fruchtschale.
Bewegtes Stillleben: Eigentlich lässt sich Susanne Bartsch, 67, nur kostümiert ablichten. Unser Fotograf blieb beharrlich und porträtierte sie im Stil der klassischen Malerei.

Die Salondame

Ekstase ist ihr Metier. Lust am Leben ihre Antwort auf Unterdrückung und Ausgrenzung. Susanne Bartsch, aufgewachsen bei Bern, ist ein Star des New Yorker Nachtlebens.

Von Anja Conzett (Text) und Reto Sterchi (Bilder), 12.09.2018

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Die Salondame
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Die Luft ist lila. Lila, feucht und laut; die Musik nur erträglich, wenn du sie mit den Beinen hörst; als Kitzeln im kleinen Zeh; als Surren im Fussgelenk; Tremor in den Hüften – bis sich der Rhythmus in Stössen aus deinem Torso windet.

Die bärtige Matrone im Sissikleid lehnt sich über ihren Reifrock, fächert dir Luft zu, stösst dich glucksend zurück auf die Tanzfläche. Fremder Atem im Nacken, fremde Brüste im Rücken, fremdes Lachen aus deinem Mund, alles tanzt dicht an dicht, wippt, schwankt, hüpft; wie ein Schwarm silberner Fische, durch die der Beat wie ein Barrakuda zieht.

Welle um Welle tanzen 300 Körper; tanzen, bis sie am Morgen wieder zurück müssen ins Kunststudium oder ins Marketingmeeting; tanzen, bis Shia wieder Steve ist; tanzen, bis die Substanzen, von denen sie die Nase voll haben, in den Venen versickert sind; tanzen, bis der Schweiss Landkarten der Sehnsucht auf ihre Kleider zeichnet; tanzen, bis der Durst sie an die Bar zwingt.

An die Bar, auf der eine vollbusige Schwarzhaarige burlesk neben ihrem Ehemann tanzt, beide mit Wasserwelle, in hautfarbener Korsage und auf glitzernden Plateauschuhen. Beide arbeiten für Susanne, flüstert dir der Barkeeper mit der Fliegerbrille ohne Gläser zu, als wüsste er, weshalb du heute hier bist. Nein, tut er nicht. Alle sind wegen Susanne hier, auch die, die ihren Namen noch nie gehört haben. 

23 Uhr, Standard Hotel, 13. Strasse, 444 West, 18. Stock, Blick auf Hudson-Mündung und Empire State Building. Wer hier feiert, hat es geschafft, hat irgendetwas richtig gemacht; hat Geld oder Erfolg oder hat weder Geld noch Erfolg, aber kennt die richtigen Leute oder ist opulent verkleidet und hat eine Stunde im Regen auf Einlass gewartet – kurz: hat es sich verdient, hier zu sein. Hier, an ihrer Party. 

Susanne Bartsch lässt sich von anderen Partygästen im Club feiern.
«Hello and good night, my dear friends!»: Kurz vor Mitternacht eröffnet die Königin der Nacht den Ball in der Lounge «Le Bain».

Königin der Nacht

Für Susanne Bartsch hat die Party lange vorher begonnen. Fünf Stunden dauert es, bis sie zusammen mit ihrer Stylistin und ihrem Make-up-Artisten den Look für den Abend kreiert hat. Über die schmalen Schultern hat sie einen Kimono geworfen, der den Blick auf den wohlgeformten Busen frei lässt – ihr Körper, ihr Gesicht scheinen vor zwanzig Jahren aufgehört haben zu altern. Mit kantigem Berner Akzent – «Ssät uann ouwär därr» – erteilt sie vom Regiestuhl aus Anweisungen, worauf ihre Assistenten aus säuberlich sortierten Boxen, Schränken und Schubladen hervorholen, wonach sie sucht.

So geht es über Stunden in ihrem Apartment im Chelsea Hotel, dem Apartment, das einmal Janis Joplin gehört hat, in dem Hotel, von dem aus schon Mark Twain, Stanley Kubrick, Andy Warhol, Edith Piaf, Patti Smith auf den kulturellen Mainstream feuerten. Wobei: Susanne Bartsch singt nicht, schreibt nicht, ist weder im Kino noch auf der Bühne zu sehen, noch nicht einmal im Fernsehen; sie macht keine Kunst, designt keine Kleider, ist noch nicht einmal reich. Sie ist trotzdem ein Star. Denn sie kann feiern.

Das ist ihr Talent. Der Einfluss, den sie geltend macht. Ihre Partys sind rasende Ausschweifungen, lustvolle Attacken auf die Vernunft, Nimmerländer voll Sex, Drogen und ekstatischer Musik, begehbare Abenteuerromane für Erwachsene, Protestprozessionen wider die Wirklichkeit. Glamourös und dreckig, trashig und elegant.

Seit drei Jahrzehnten erschüttert Susanne Bartsch das New Yorker Nachtleben. Fast im Alleingang hat sie die Untergrundszene der 1980er-Jahre salonfähig gemacht, die Subkultur von Schwulen, Lesben und Drags aus ihren Kellern ins Herz des Establishments katapultiert. Die «New York Times» kürt sie regelmässig zur «Queen of the Night», andere Blätter erklärten, sie gehöre in die Top Ten der einflussreichsten New Yorker, kurz hinter Donald Trump. Das Fashion Institute hat ihr eine Ausstellung gewidmet, der Dokumentarfilm «Susanne Bartsch – On Top» ist ein Erfolg in den USA und soll nun bald in Europas Kinos kommen.

Die Königin ist jetzt 67 Jahre alt. Noch immer regiert sie unangefochten – die Gazellenbeine in Netzstrumpfhosen, die Wespentaille in Korsage – mit Glitzer, Hofstaat, Highheels, Etikette und Disziplin. Bartscharama hat sie ihr Imperium genannt.

Ein Imperium, das einmal im Osten von Bern begann. Mit einem Paar orangefarbener Socken. 

Partygäste tanzen unter Discokugeln.
Laute Luft.
Pinke Lichtstimmung: Eine junge Frau mit blond gefärbten Zöpfen tanzt in der Partymenge..
Bunte Luft.
Eine junge Frau tanzt in Schottenrock und brustfreiem Oberteil.
Männer mit Brüsten.
Ein bärtiger Mann posiert in einem roten Pailletten-Kostüm im Club.
Menschen als Stehtische.
Akkurater Exzess, inszenierte Ekstase: Um Lust geht es an diesen Abenden, um Selbstdarstellung und um Status.

Eine Prise Feenstaub

Im Gang verschwimmen die Beats zweier Tanzflächen, verschwimmen zu dumpfer Kakofonie, die dein Herz einen Schlag lang in die Irre führt. Du zuvorderst in der Schlange, eine Fremde stürzt auf dich zu, als würde sie dich kennen, ihre Hand um dein Handgelenk: «Wenn du mich mitnimmst aufs Klo, teile ich meinen Feenstaub mit dir», sagt sie, erwartet keine Antwort, zieht dich mit in die nächste Toilette, Tür auf, Tür zu, gedimmtes Licht, schwarzer Granit an den Wänden, schwarz-weisses Mosaik am Boden, Panzerglasfront. Von der Kloschüssel blickst du ins Esszimmer des Penthouse gegenüber: hell erleuchtet, niemand sitzt am Tisch, achteckige Eichenplatte, zehn Stühle mit Armlehnen, ockerbrauner Samtbezug, amerikanisches Art déco in seiner glorreichen Klotzigkeit. 

«Man kann ein Leben darauf verwenden, herauszufinden, welcher Tisch am besten zur eigenen Persönlichkeit passt», denkst du laut.

«Oh, yeah, sure», sagt sie ohne aufzublicken.

Ihr Parfüm teuer genug, dass es sich erlauben kann, billig zu riechen – üppig, alles an ihr ist üppig: das Tüllkleid, der Lidschatten in fünf verschiedenen Grüntönen, die immer grüner werden, die blonde Perücke, der Bariton ihrer Stimme. Sie pinkelt im Stehen, sie könnte tagsüber ein Mann sein. Oder ein Einhorn. Egal. Sie erzählt dir etwas über jemanden, den du nicht kennst, so, als würdest du ihn kennen. Du lachst. Sie lacht und besteht darauf, dir ihren Lippenstift aufzutragen. Deine Lippen glitzern jetzt türkis, sie macht ein Selfie, für Instagram, im Hintergrund der Esstisch, an dem keiner sitzt. 

Partygast in Lederlatzhose tanzt durch die Nacht.
Tanzen, tanzen, tanzen: durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag.

Jedes Blinzeln ein Flügelschlag

In 18 Schritten enden die 15 Minuten Freundschaft – sie rechts in den «Boom Boom»-Club zur Matrone mit dem Fächer, du links in die Lounge «Le Bain». Du vergisst den Namen, mit dem sie sich vorgestellt hat, noch bevor du vorbei bist an den mannshohen Blumenbouquets mit Lilien, Orchideen, Disteln, vorbei an Menschen, die jemanden suchen, gerade jemanden gefunden haben, vorbei an der Grazie im violetten Teufelskostüm, vorbei an den Trustfund-Babys im Gordon-Gekko-Anzug, vorbei an den Loungesesseln, in denen Touristenpaare versuchen, ihre Ehe aufzuwecken, bis du an einer hufeisenförmigen Bar landest, über der sich ein Kronleuchter in güldenem Schwall ergiesst, und du dir ein Glas Wein bestellst. 20 Dollar, Fuck My Life.

Wie lange noch, bis Susanne auftritt? Eine Stunde. Höchstens. 

Gerade steht sie im Hintergrund des Geschehens an der Bar. Die dunklen Augen lesen den Raum, die Gesichter der Gäste, die Stimmung, den Pegel. Am Champagnerglas nippt sie nur aus Höflichkeit, sie trinkt nicht; nicht, wenn sie arbeitet; nicht mehr; kaum. Sie hat sich für eine Swarovski-besetzte Federkorsage entschieden, die über ihren Brüsten zwei Herzen formt, dort wo ihre Brauen wären, hätte sie welche, kleben pinkfarbene Streifen Papier, die künstlichen Wimpern – eine Eigenkreation aus Straussenfedern – ragen eine Fingerlänge über die hohen Wangenknochen hinaus; jedes Blinzeln ein Flügelschlag; das schwarze Haarteil wippt über dem Hintern zur Musik, die hier leiser spielt als im Club nebenan. Susanne begrüsst mit offenen Armen hier, da – «So good to see you!» – gehauchte Küsschen – Vorsicht, Make-up! –, während sie ihrer Entourage letzte Anweisungen gibt. Für ihre Partys engagiert sie von jeher Travestiekünstler und -künstlerinnen. Ungefähr ein Drittel der aufwendig kostümierten Gäste gehören zu ihrem Ensemble. Manche sind fester Teil des Programms, liefern eine Performance – singen oder balancieren Teller. Andere sind strategisch verteilt in allen Räumen des Clubs, um aus dem Publikum heraus für Animation zu sorgen. 

Partygäste vor der Fensterfront mit Aussicht auf das Empire State Building.
Mickey Mouse und das Empire State Building und Pop und Trash und Glam: Alles mischt sich.

Self on Sale

Eine Stunde noch; in «Le Bain» wird es dir zu langweilig; im «Boom Boom Room» ist es dir zu lebendig; ein Drink noch, dann bist du pleite; also stolperst du auf die Terrasse; die begrünte Terrasse; irgendwo über dir der Sternenhimmel und unter ihm die begrünte Terrasse mit Pool; mit 360-Grad Blick auf Hudson-Mündung und Upper Manhattan; es regnet immer noch; in deinem Rücken wechselt das Empire State Building die Farben, und du fragst dich, wie oft sie wohl die Decken waschen, von denen du dir gerade eine um die Schulter gelegt hast; eine Gruppe junger Männer bietet dir von ihrem Joint an; sie sind schwarz; weder reich noch verkleidet; aber ihr Gras kennt die richtigen Leute; zehn Minuten eines normalen Gesprächs; dann verschwinden sie.

Jede weitere Unterhaltung? Ein surrealer Selbstdarstellungsmonolog, einstudiert, zurechtgeschnitten, wiedergegeben, play, rewind, repeat, jeder hier ein wandelnder Werbespot seiner selbst, ein jeder die Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat – ist das wirklich der gleiche Typ wie schon vor zwanzig Minuten, der dir noch einmal die gleiche Geschichte erzählt?

Du versagst in diesem Instagram in Echtzeit, weil du die goldene Regel nicht befolgst: Wer du bist, ist egal; es geht nur darum, wer du eines Tages sein könntest, sein wirst – ein Star! Wie so viele, die als Unbekannte auf Susanne Bartschs Partys angefangen haben, die hier entdeckt wurden oder sich hier selbst entdeckt haben: Lady Gaga, RuPaul, Amanda Lepore.

Hundert Dollar hat Susanne Bartsch einer jungen Frau namens Dita Von Teese damals gezahlt, um an der Party aufzutreten, an der die Burlesque-Tänzerin ihren späteren Ehemann Marilyn Manson kennenlernte, flüstert dir die Herzkönigin zu, die auf Zwanzig-Zentimeter-Absätzen stehend eine Federboa-Krone auf dem Kopf balanciert; auch sie arbeitet für Susanne. Im Taxi musste sie quer über die ganze Sitzbank liegen, jetzt sagt sie dir, dass es gleich losgeht: Susanne ist bereit.

Partygäste in exzentrischen Kostümen unterhalten sich auf einer goldfarbenen Ledercouch.
Männlein, Weiblein, Einhörner – egal: Er mit der roten Wasserwelle und sie mit pelzbesetzten Plateaupumps führen eine glückliche Ehe.

Tod oder Love

Susanne Bartsch ist 17, als sie der Schweiz den Rücken kehrt und nach London zieht. Die Eltern unterstützen sie, wie immer, obwohl sie nie ganz verstehen, was im Kopf ihrer jüngsten Tochter vor sich geht. Susi Bärtsch will nicht ausbrechen, sondern einbrechen – irgendwo. Weit weg vom Einfamilienhausquartier im Osten von Bern, wo sie zwischen Geranien, Gartenzäunen und Gewissheit aufwächst. 

Sie zieht nach London. Die Stelle als Au-pair schmeisst sie nach ein paar Tagen hin, jobbt in einem Käseladen, um über die Runden zu kommen, dann in einer Boutique, in der Rockstars wie die Rolling Stones und The Who verkehren. Es ist ihr Ticket ins London der 68er – eine Welt voller Musik, Rausch und mit dem Gefühl, dass alles möglich ist. Die Jahre vergehen, die Szene verändert sich, das Gefühl bleibt.

Anfang der 80er-Jahre geht sie nach New York. Sie kommt, weil sie sich in einen Mann verliebt hat. Sie bleibt, weil sie sich in die Stadt verliebt hat. Susanne Bartsch beginnt wieder bei null. Sie macht eine Boutique auf und verkauft die Kleider und Looks, die den Londoner Sound wiedergeben, den sie hier so vermisst; von Designern wie Vivienne Westwood oder John Galliano, die Exzentrik, das Anything-Goes der ersten Stunde des britischen Punks. Eine Marktlücke. Ihr Geschäft boomt, in ihrem neuen Zuhause im Chelsea Hotel verkehrt die Elite der Subkultur, und Susanne Bartsch ist wieder dort, wo sie sein möchte: dort, wo nichts entschieden wird, aber alles passiert. 

Als sie ihre ersten Partys veranstaltet, sind das noch einfach orgastische Modenschauen für ihre Boutique. Dann rückt die Kleidung in den Hintergrund. Wieder ist das Timing perfekt: Das legendäre «Studio 54» hat gerade geschlossen, Andy Warhol ist tot, die Clubszene am Boden. Da kommt Susanne Bartsch. Das illustre, aber verschlafene «Copacabana» wird ihre feste Adresse, und wieder holt sie dazu, was ihr dort fehlt – die schrillen Paradiesvögel, Transvestiten und Homosexuellen, über die man damals ausserhalb der Szene des Underground noch die Nase rümpfte, sie als krank beschimpfte, über die man sagte, sie hätten Läuse oder Schlimmeres. Schritt für Schritt macht Susanne Bartsch die Szene salonfähig. 

Dann die Katastrophe: Einer von Susanne Bartschs engsten Freunden erkrankt an Aids. Als sie ihn in seinen letzten Tagen im Spital besucht, wird sie gezwungen, einen Ganzkörperschutzanzug zu tragen. Zu ihrem eigenen Schutz. So gross sind Angst und Schrecken, selbst unter Medizinern. Es ist das Jahr 1989, und die Zahl der gemeldeten Aids-Erkrankungen in den USA hat sich innerhalb von zwei Jahren auf 100’000 verdoppelt. Aus Einzelfällen wird eine Epidemie, die die LGBT-Szene doppelt trifft: mit Erkrankungen, mit Ausgrenzung. Auch Susanne Bartsch verfällt in Trauer.

Und beschliesst, dass es nur eine Möglichkeit gibt, dem Tod zu begegnen: Indem man das Leben feiert. Sie lädt zum Love Ball. Und alles, was in New York Rang und Namen hat, folgt ihrem Ruf.

Es wird der erste grosse Aids-Benefizball der Geschichte. «Der Love Ball ist für reguläre Fundraiser, was die Sex Pistols für Mozart sind», schreibt die «New York Times» seinerzeit. Die Lesben-, Schwulen- und Transgender-Szene ist auf einen Schlag en vogue – im wahrsten Sinne des Wortes. Voguing heisst die Art zu feiern, die bis zum Love Ball nur in der Szene zelebriert wurde. Madonna macht daraus den Song «Vogue». Susanne Bartsch macht weiter Partys. Sie wird zur Ikone, zur heiligen Mutter verwaister Clubkinder und heimatloser Träumer. 

Eine gute Party ist abhängig von vielen Faktoren. Musik, Programm, Location, Wetter. Susanne Bartschs Partys sind eine Mischung aus Performance-Kunst, Runway und Revue. Aber das können und machen auch andere. Was ihre Partys von denen anderer unterscheidet: die soziale Durchmischung. Unterschicht, Oberschicht, alt, jung, schön, hässlich, weiblich, männlich, heterosexuell, homosexuell, transsexuell, aufgebrezelt, kostümiert, underdressed, Künstler, Intellektuelle, Arbeiter, Hedgefonds-Manager – alle müssen da sein, alle müssen Spass haben. Droht die Mischung aus dem Gleichgewicht zu fallen, greift die Gastgeberin selbst zum Hörer: Komm doch auch, bring ein paar Freunde mit, ich setz dich auf die Gästeliste. Seit dreissig Jahren ist es dasselbe Rezept, darauf beruht ihr Erfolg.

Mit tanzender Stimme

«Hello and good night, my dear friends – so good to see you all! You look fabulous!» Susanne Bartsch breitet die Arme aus, als würde sie alle 400 Gäste von «Le Bain» darin einschliessen wollen. Sie schäkert, sie flirtet, sie sagt den ersten Akt an: eine Dragqueen präsentiert einen tobenden Song, der auch die Ehepaare auf den Lounge-Sesseln weckt; schäkert, flirtet, lacht; nächste Performance: eine andere Dragqueen spielt ein sanftes Stück am Flügel; wieder Susanne; wieder ein Akt. Die Darbietungen sind mal bunt, extravagant, mal berührend, mal kunstvoll, mal ordinär. Und immer dazwischen Susanne Bartsch mit ihrer tanzenden Stimme, dem Lächeln, das an jeden gleichzeitig gerichtet scheint, ihrer Freude, die so ehrlich wirkt. 

Das Publikum ist hingerissen; du bist es auch; auch wenn du es dir nicht ganz erklären kannst; du stösst mit den Trustfund-Babys an; lädst mit deinem letzten Geld die Dragqueen, die auf der Bar performt hat, zu einem Gin Tonic ein; ihr fällt einander in die Arme; du bist so schön; nein, du bist so schön; sie reisst eine Blüte aus ihrem Rosenkostüm und steckt sie dir ins Haar; die Trustfund-Babys bestellen eine Flasche Champagner; ich liebe euch; ich liebe dich; wir lieben uns alle; für immer; eine Nacht lang für immer – what the fuck just happened? 

Susanne Bartsch räumt ein Stück Lametta weg, das von einer Performance liegen geblieben ist, und grinst dich an: «Schweizer Vorspiel», sagt sie und schwenkt den Abfall vor deinem Gesicht, «putzen.» Dann ist sie plötzlich weg. Die Party ist noch nicht zu Ende, aber du bist es – nicht betrunken, nicht unter Drogen –, einfach nur fertig schleichst du dich davon, wie ein Dieb, der nicht weiss, was er gestohlen hat. Was zur Hölle ist gerade passiert? 

Susanne Bartsch ruht sich im einem schwarzen Kimono auf ihrem Sofa aus.
Chelsea Hotel, 23. Strasse, NY: Das Brokatsofa, der Kamin, die stilvolle Leuchte – ein Zimmer für eine Diva.
Auf Susanne Bartschs Kamin sammeln sich gerahmte Familienfotos, kleine Porzellanfiguren, zwei Pokale und ein altes Telefon. An der Wand hängen verschiedene Gemälde eines Hundes.
Ein Altar aus Erinnerungen: Sie als junge Frau, das Abschlusszeugnis des Sohnes und der Hund – ihr Schnauzer, den sie so sehr vermisst.

Pop und Antike

«Hattest du eine gute Zeit?», fragt Susanne Bartsch drei Tage später in Jeans, die Augen hinter einer Sonnenbrille. Die Gastgeberin ist nicht zufrieden mit der Party, die sie gerade über die Bühne gebracht hat. Irgendetwas war off. Sie spricht Englisch, Schweizerdeutsch ist ihr eine zu grosse Hürde geworden. Die Mischung, sagt sie, habe nicht gestimmt, zu wenig Drag, zu wenig Bodenständigkeit, zu wenig Leute allgemein. Sie seufzt und lässt sich auf das Sofa in ihrer Stube fallen.

Der Regiestuhl, die Scheinwerfer, Schminkkoffer, Kisten voller Kleider und Accessoires sind aus dem Wohnzimmer im «Chelsea» verschwunden. Übrig geblieben ist ein Zuhause: zwei Sofas, ein Büchergestell, ein Esstisch, die Küche, in der Wasser für einen Fencheltee kocht. Ganz gewöhnlich, eigentlich. Bis auf die rosa Wände und die helltürkisen Ornamente an der Decke, die Porträts, Fotografien, Kunst- und Kitschgegenstände auf Kamin, Sims und Beistelltisch, die von einem ganzen Leben in der Nacht erzählen.

Nur die Striche am Türrahmen brechen dieses Bild. Jeder Strich mit einem anderen Stift gezogen, neben jedem Strich ein anderes Datum und derselbe Name: «Bailey».

Susanne Bartsch hatte nie vor, Mutter zu werden. Als sie 1993 im Alter von 42 Jahren schwanger wird, weiss sie, was es bedeutet, wenn sie das Kind behält. Seit einem Jahr ist sie verliebt, so sehr wie nie zuvor, in den Bodybuilder und Fitnessketten-Besitzer David Barton. Die Entscheidung fällt Susanne Bartsch nicht leicht. «Mutter zu sein, Vater zu sein, ist eine immense Kraft. Und ein immenser Kraftakt.»

Als Bailey geboren wird, hört sie nicht auf, Partys zu veranstalten. Sie fügt ihrem Leben einfach eine Komponente dazu: Verbindlichkeit. Tagsüber Windeln wechseln und Brei kochen, nachts Dragqueens koordinieren und 3000 Menschen glücklich machen. Ein Jahr nach Baileys Geburt heiraten sie und David Barton an einer ihrer Partys, er im hautfarbenen Stringtanga, sie im hautfarbenen Bodysuit von Thierry Mugler. Ein paar Jahre lang ist das Paar zu dritt glücklich. Dann gewinnt David Bartons Alkoholismus die Überhand. Bartsch trennt sich, sie kommen wieder zusammen, sie trennt sich wieder. Dieses Mal endgültig. 

Susanne Bartsch posiert in einem blauen Overall mit gezücktem Küchenmesser in ihrer Küche.
Hausfrau, Mutter, Partykönigin: und mittendrin ein Schweizer Steinguttopf.

«Hätte es jemals einen Mann für mich gegeben, dann wäre es David gewesen», sagt Susanne Bartsch, während sie auf ihrem Telefon nach Bildern von ihrem Sohn sucht. Bailey studiert unterdessen an der Brown University Latein und antike Literatur. Aufgenommen wurde er mit einem Essay über seine Mutter. «Die Intelligenz hat er vom Vater», sagt Susanne Bartsch. Sie habe ihm nur das Gleiche ermöglichen wollen, was ihr ihre Eltern ermöglicht hatten: den eigenen Weg zu gehen. Dass sich ihr Sohn an einer Eliteuniversität mit toten Kulturen beschäftigt, ist für sie eine Bestätigung, keine Rebellion. 

Noch bevor sie die Bilder findet, klingelt ihr Telefon. Die nächste Party steht an, drei Projekte gleichzeitig. Ihre Wohnung ist auch ihr Büro. Alles mischt sich, das Berufsleben, das Privatleben, die Kunstfigur, der Mensch dahinter. Sie sagt, sie liebt, was sie tut, es fühlt sich nicht wie Arbeit an, und so lösen sich die Grenzen auf. Manchmal macht sie das müde. Manchmal wünscht sie sich etwas mehr Ruhe. Das ist neu. Susanne Bartsch ist nach alle den Jahren immer noch Susanne Bartsch, ihre Partys sind immer noch Stadtgespräch. Aber die Zeiten haben sich geändert.

Instagram Killed the Underground

New York hat sich verändert, ist generisch geworden, beliebig. Als sie in New York ankam, sagt sie, war die ganze Stadt ein Abenteuer. Heute geht man nicht einmal mehr an Partys, um Leute kennenzulernen, nur noch um gesehen zu werden. «Dieses Ding», sie hebt ihr Smartphone hoch und lässt es auf das Brokatsofa plumpsen. «Alles passiert hier drin.»

Susanne Bartsch hat ihr Leben darauf verwendet, anderen Menschen einen Raum zu schaffen, in dem sie sich entfalten und begegnen, sich gegenseitig inspirieren können. Sie war das Scharnier zwischen zwei Welten, die Plattform, von der aus andere gross geworden sind, Weltstars geworden sind. RuPaul – Fernsehstar und Botschafter der Dragszene – bezeichnete Susanne Bartsch als die Frau, die ihn gemacht hat, der er alles zu verdanken hat. Andere sind zurückhaltender mit ihren Quellennachweisen. Susanne Bartsch sagt, das störe sie nicht. Überhaupt spricht sie nur widerwillig über die Berühmtheiten, die ihren Weg schon gekreuzt haben. Sie verstehe diesen Starkult nicht, sagt sie: «Die Leute würden auch auf einer öffentlichen Toilette feiern, solange du ihnen weismachst, irgend ein Star sei da.» 

Ihre tiefe Stimme senkt sich noch mehr. Soziale Medien hätten das Potenzial gehabt, die Menschen zu vereinen. Stattdessen hätten sie eine Flut der Ich-Bezogenheit hervorgebracht – Selbstdarstellung statt Selbstentfaltung. «Sinnlichkeit, Austausch, Kreativität – das alles leidet darunter.» All die wundervollen Ideen, die im Dunkeln, im Untergrund vor sich hin gären sollten, reifen müssten, bevor sie an die Oberfläche getragen werden, würden reproduziert und kommerzialisiert, noch bevor sie überhaupt geboren sind. «Instagram killed the underground», sagt sie. Dass sie selbst massgeblich dazu beigetragen hat, Untergrundkultur in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, streitet sie nicht ab. Sie hat eine verpönte Szene sichtbar gemacht; die Menschen, die dorthin, an den Rand gedrängt worden waren. In der Sichtbarkeit läge auch die Kraft der sozialen Medien, sagt sie. Bewegungen wie #MeToo? Ohne Twitter und Co. undenkbar. 

Nichts ist nur schlecht in der Welt der Susanne Bartsch. Und nichts nur gut. So spielt sie auch ihr Engagement für die LGBT-Community herunter. «Es wäre geheuchelt, wenn ich sagen würde, meine Motivation für den Love Ball sei rein politisch gewesen.» Ja, er hatte eine Wirkung, aber letztlich habe sie vor allem das getan, was sie für richtig hielt – was sich richtig anfühlte. Das ist der Unterschied zu vielen Kids, die sie heute in der Clubszene sieht. «Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wie ich mich am besten verkaufe, was ich tun muss, um gut anzukommen.» Die Entwicklung schmerzt sie. Wegen der Kids, nicht wegen sich. Dieser Ausverkauf des Selbst, er raube ihnen die Freude. Und ohne Freude, wie will man da feiern? 

Solange Susanne Bartsch noch Freude daran hat, wird sie nicht aufhören, Partys zu veranstalten. Doch zusätzliche Gigs in Clubs sucht sie nicht mehr, dafür ist ihr die Szene zu dröge geworden. Vielleicht schreibt sie ein Stück fürs Theater. Mit ihrem Ensemble «Bartschland Follies» feiert sie bereits Erfolge – eine Mischung aus Schau und Revuestück. Aber jeden Abend dasselbe zu performen, davor hat sie Respekt. Sie lässt offen, wie es mit ihr weitergeht. Es wird sich fügen, so wie immer. Nur dass Susanne Bartsch weitergeht, ist sicher: «Dieses Gefühl, man hätte es geschafft, es hält nie lange an», sagt sie. «Die Metamorphose ist nie zu Ende.» 

Partygast mit Kopfschmuck aus Federn verschwindet in der Dunkelheit des Clubs.
Bartschland’s Best: Eingehüllt in einen Kokon aus Licht, betritt eine der Dragqueens die Bühne.

Die Verwandlung der Susanne Bartsch

Es beginnt im September 1951, sechs Jahre nach dem Krieg. Da wird sie als Susanne Bärtsch in Bern Bümpliz geboren, als Susi grossgezogen. Der Vater ist Möbelschreiner, der eigentlich Zahnarzt werden wollte, die Mama ist Hausfrau und Mutter von drei Kindern. Susi ist die Jüngste, sie ist neugierig, geht nicht gern zur Schule. Sie mag die Sonntagsausfahrten mit der Familie, in den Wald zum Picknick, die Mama bäckt Kuchen. Susi kauft ihre Kleider in der Brockenstube, die für arme Leute sei, wie die Eltern sagen, die Eltern sind nicht arm, sie lassen der Tochter ihren Kopf. Mit acht sagt Susi zur Mutter, dass sie in zehn Jahren nicht mehr hier sein wird. Die Mutter ist nicht überrascht.

Es waren die Socken. Susi ist noch nicht im Kindergarten, da besteht sie darauf, orangefarbene Kniestrümpfe zum Sommerkleid zu tragen, zu den weissen Sandalen.

Wie du willst, sagt die Mutter.

Es ist die Grossmutter, die fragt: Susi, warum nur trägst du diese Strümpfe? 

Säg ou, Grosi, warum de nid?