Binswanger

Das Drängen auf Erlösung

Mit Chemnitz setzt sich ein Diskurs durch, der als faschistisch bezeichnet werden muss. Derweil ertrinken Menschen im Mittelmeer – aus «humanitären» Gründen.

Von Daniel Binswanger, 08.09.2018

Gebannt blicken die Medien nach Chemnitz. Das trägt ihnen seltsamerweise den Vorwurf ein, die Ereignisse zu ignorieren, zu verzerren, Fake News über Chemnitz zu verbreiten. Es werde über Neonazis berichtet, anstatt dass dargestellt werde, wie «ganz normale Bürger» auf die Strasse gehen. Trotz ihrer ehrlichen Haut würden aufrechte Sachsen, ein Volk von Schaffern und Widerständlern gegen die Obrigkeit, in die rechtsextremistische Ecke gestellt. Die Berichterstattung sei ein Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Ein Anschlag auf die Demokratie. Nicht mehr und nicht weniger.

Dass es ein Problem sein könnte, wenn normale Bürger neben Neonazis marschieren? Dass es irritierend sein könnte, wenn eine Demonstration normaler Bürger von Pegida mitorganisiert wird? Dass an der politischen Instrumentalisierung von Protestumzügen und Trauermärschen auch dann etwas höchst alarmierend ist, wenn normale Bürger mitmarschieren? Gerade dann? All diese Fragen scheint man gerade besser nicht zu stellen.

Sonst gehört man zum «linksliberalen Establishment», zur «Toskana-Fraktion» und zu den «Kaviarlinken», zum «westdeutschen Justemilieu», zum «westdeutschen Neobiedermeier», das «die Liebe zur Heimat, mit der jede Zivilisation beginnt, als Nationalchauvinismus abtut». Aber keine Sorge, der bodenständige «ostdeutsche Plebejer» wird Deutschland – bitte anschnallen! – die «Erlösung» bringen. Der Volksaufstand von Chemnitz als Vorbote der «Erlösung». Wiederum nicht mehr und nicht weniger. So war es diese Woche zu lesen, nicht in der «Jungen Freiheit», nicht auf kopierten Flugblättern von ein paar Nazi-Spinnern, sondern in der NZZ.

Der «normale Bürger» mit den Sorgen, die man ernst nehmen muss, und dem Volksempfinden, das immer recht behält, wird zum quasi sakralen Mass erhoben, an dem Chemnitz einzig gemessen werden darf. Egal, mit wem er marschiert. Egal, welche Parolen er brüllt. Egal, wem er seine Stimme gibt. Die deutsche Geschichte sei «unerlöst», heisst es in der NZZ allen Ernstes. Aber keine Sorge: Jetzt ist Chemnitz. Wir brauchen nur der Herkunft eingedenk zu sein, wir brauchen nur die Zeichen zu deuten. Die nationale Erlösung wird kommen. Die Meinungsdiktatur arroganter Eliten, die «Demokratieverachtung» parlamentarischer Mehrheiten wird bald ein Ende nehmen.

Ich wüsste nicht, wann das letzte Mal ein Stück so schriller, geschichtstheologisch aufgeladener Faschismus-Rhetorik in der Schweizer Publikumspresse zu lesen war.

Die Koordinaten verschieben sich in atemberaubendem Tempo. Das kann hysterisch und anklagend geschehen wie in der Chemnitz-Berichterstattung – oder manierlich und gelackt wie vor zwei Wochen am Europäischen Forum Alpbach. Alpbach im Tirol ist eine provinziellere Sommerversion des WEF. Nebst vielen internationalen Gästen nimmt die Wirtschafts- und Politikelite von Österreich teil. Höhepunkt der politischen Gespräche war der Auftritt von Bundeskanzler Sebastian Kurz. Auf der Bühne erklärte er, weshalb er jetzt, nach der «Trendwende» in der europäischen Flüchtlingspolitik, dafür plädiere, dass Schiffe mit geretteten Flüchtlingen europäische Mittelmeerhäfen nicht mehr anlaufen dürfen: Es gehe selbstredend um humanitäre Prinzipien. Es gehe darum, Menschenleben zu retten. Zu verhindern, dass Menschen ertrinken. Der Schleppermafia endlich das Handwerk zu legen.

«Es haben sich weniger Menschen auf den Weg gemacht, und es sind weniger Menschen ertrunken», sagte Kurz. «Unser Ziel ist, dass die Rettung nicht automatisch dazu führt, dass man nach Europa gebracht wird, sondern dass die Rettung darauf angelegt ist, die Menschen zurückzustellen in Herkunfts- oder Transitländer.»

Es ist eine herbe Menschenliebe, die Österreichs jungdynamischer Kanzler predigt. Aber hat er am Ende vielleicht recht? Die Antwort auf diese Frage wäre gar nicht so schwer zu geben. Nur interessiert sie leider niemanden.

Am letzten Montag publizierte das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge die neuste Ausgabe von «Desperate Journeys», einem Bericht über die Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum, diesmal von Januar bis Juli 2018. Das öffentliche Echo war quasi inexistent. Die Medien sind grade vollauf damit beschäftigt, dem «normalen Bürger» gerecht zu werden.

In einem ist Kurz tatsächlich recht zu geben: Es sind weniger Migranten ertrunken in diesem Jahr als im Vergleichszeitraum (Januar bis Juli) im letzten Jahr. Die Zahl der vom UNHCR im Mittelmeerraum erfassten ertrunkenen oder vermissten Migranten ist von 2427 auf knapp 1600 gesunken. Das liegt allerdings nur daran, dass deutlich weniger Menschen sich auf den Weg gemacht haben (58’500 statt 115’400). Ist das eine Folge davon, dass Europa die Seenotrettung unterbunden hat? Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber die wissenschaftlichen Untersuchungen, die es zu dieser Frage gibt, plädieren deutlich für die entgegengesetzte These: Die Flüchtlinge versuchen die Traverse – unabhängig von der Intensität der Seenotrettung.

Einen anderen unbestreitbaren Effekt hat die europäische Politik allerdings: Die Überquerung des Mittelmeers ist massiv gefährlicher geworden. Die Todesrate explodiert. Im westlichen Mittelmeer auf der Spanienroute ertrinkt mittlerweile jeder vierzehnte Bootsflüchtling. Auf der Italienroute hat sich die Todesrate auf 1:18 mehr als verdoppelt. Es ist die logische Folge der Kriminalisierung der NGOs, die Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahrten.

Ebenfalls durch die Decke gegangen ist gemäss UNHCR die Zahl der Flüchtlinge, die von der libyschen Marine aufgefischt und nach Libyen zurückgebracht werden. Auch diese Entwicklung wird von Europa und Kanzler Kurz ganz offiziell gewollt. Libyen wird heute zum Ausbau seiner Marine von Italien grosszügig unterstützt. Auch hier ist der Uno-Bericht instruktiv.

64 Prozent der von der Uno befragten Flüchtlinge aus Libyen berichten von physischer Misshandlung, Folter und Gewalt. 7 Prozent der Frauen rapportierten Vergewaltigungen, das UNHCR hält jedoch fest, es könne mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass in diesem Bereich das «Underreporting» massiv sei. 19 Prozent der Migranten aus Libyen sind Kinder, die Mehrheit unbegleitet.

So viel zur Humanität von Kanzler Kurz. Sie definiert heute die offizielle Position der EU, die offizielle Position der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist die aktuelle Realität der sogenannten Willkommenskultur.

Aber für Fakten ist jetzt keine Zeit: Gerettet werden müssen nicht ertrinkende Migranten, sondern die «normalen Bürger». Bedroht wird die Demokratie nicht von der AfD, sondern vom totalitären Meinungsterror. Die systemische Bedrohung heisst Merkel und nicht Salvini. Und eine Schweizer Zeitung, die einst ein Qualitätsblatt war, erkennt am offenbar apokalyptischen Niedergang in Europas Mitte die Vorboten des neuen Reiches: die Erlösung des deutschen Volkes.

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Illustration Alex Solman