Einzigartiges Inselvolk: Nach der Finanzkrise starteten die Isländer ein nie gesehenes Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie.

Warum Island keine eigene Verfassung hat. Eine nordische Saga

Nach der Finanzkrise wagten die Isländer eine weltweite Premiere: Sie schrieben ihre Verfassung neu – im Internet. Das Projekt scheiterte. Weil das alte Establishment zurückschlug.

Von Adrienne Fichter (Text) und Ómar Sverrisson (Bilder), 05.09.2018

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Warum Island keine eigene Verfassung hat
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Wenn die Isländerinnen die Geschichte ihrer gescheiterten Demokratie-Revolution erzählen, reden sie gern in Bildern. Sie erzählen von mäandrierenden Öltankern oder brennenden Schlössern. Von Helden und Bösewichten.

Die Guten, die Bösen, das sind dann gern Figuren aus berühmten Isländersagas. Wie beispielsweise Grettir Ásmundarsonar, einer der stärksten isländischen Wikinger. Nach seinem Sieg über Glámur, den bösen Untoten, wird er verflucht und am Schluss von seinen eigenen Anhängern verbannt.

In unserer Demokratie-Saga wirken Grettir und Glámur ebenfalls mit.

Der tragische Held Grettir: die Sozialdemokratische «Allianz».

Der nicht totzukriegende Glámur: die konservative Unabhängigkeitspartei.

Unsere Geschichte spielt in den Jahren 2009 bis 2013 – und das letzte Kapitel ist noch nicht geschrieben.

Wieder eine bankrotte Vulkaninsel

Die Isländer akzeptieren nur eine Form von höherer Macht: die Natur. Die Erde lebt hier jede Minute. Auslaufende Gletscher, die den Strassenverkehr aufhalten. Eruptierende Vulkane, die den Flugverkehr stilllegen.

Die Isländer haben sich friedlich mit der Natur arrangiert: Freilichtmuseum Árbæjarsafn in Reykjavik.
Kein Land wurde von der Finanzkrise 2008 so wuchtig getroffen wie Island: Eine Filiale der pleitegegangenen Landsbankinn in Reykjavik.

Deswegen planen die Einwohnerinnen Islands nur ungern weit im Voraus. Sie haben sich mit ihrer Insel arrangiert. Die Route ist schon wieder überschwemmt? Ein Gletscherstrom, wo vorher Strasse war? Der morgige Ausflug fällt ins Wasser? Trinkt man halt noch ein Bier im Pub.

Es gibt nur eine Katastrophenart, die die Isländer wirklich aus der Fassung bringt – die menschengemachte. Eine wie im Herbst 2008: Über Nacht gehen drei isländische Banken pleite. Die Börse bricht um 90 Prozent ein. Noch im August 2008 war Island eines der reichsten Länder der Welt, mit den meisten Auslandsinvestitionen und einem grosszügigen Wohlfahrtsstaat. Am 1. Oktober 2008 ist es nur noch eine bankrotte Vulkaninsel. Wie zu Beginn der 1960er-Jahre, nur mit noch mehr Schulden. Kein anderes Land wird so hart getroffen von der Finanzkrise.

Den Dänemark-Klon loswerden

Die Unabhängigkeitspartei dominierte jahrzehntelang die Politik. Ihr Credo: «Wachstum, Wachstum, Reichtum». Unterstützt von den Banken, die billige Kredite streuen wie Geysire.

Doch nach der Bankenpleite sackt die isländische Krone ins Bodenlose. Und die Schulden in Fremdwährungen schnellen in die Höhe. Für das Einfamilienhaus wird plötzlich die Hypothek im Wert eines Palastes fällig.

Der Zorn der Isländerinnen ist gross.

Ein Bösewicht, ein Glámur, muss her. Und ein Held, der ihn erschlägt.

Der isländische Premierminister Geir Haarde dankt ab, Island wählt. Es ist eine turbulente Zeit, in der Tomaten geworfen, auf Kochtöpfen getrommelt und auf Transparenten Guillotinen für Banker gefordert werden. Jeden Monat versammelt sich halb Island vor dem Rathaus in Reykjavik. Und das in den düsteren Wintermonaten. Die «Kitchenware»-Revolution, so nennen es die Isländer.

Der Entrüstungssturm fegt die Unabhängigkeitspartei weg. Die linken Parteien kommen an die Macht. Mit gewaltiger Mehrheit. Für die neu gewählte sozialdemokratische Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir ist klar: Ein weiterer Crash lässt sich nur verhindern, wenn man das Problem an der Wurzel packt. Indem man die Macht der Banken bricht. Und zwar mit einer neuen Verfassung.

Denn nicht nur fehlt der jetzigen Verfassung ein angemessenes System von «Checks and Balances». Sie ist im Grunde auch nur geliehen.

Es handelt sich um eine Kopie der dänischen Verfassung. Eine Notlösung. Denn während die Kontinentaleuropäer einander im Zweiten Weltkrieg niedermetzelten, nutzte Island die Gelegenheit, sich endgültig von Dänemark loszueisen. Am 17. Juni 1944 wurde die Republik ausgerufen. Die Vulkaninsel mit den damals knapp 140’000 Einwohnerinnen war endlich unabhängig. Doch für einen echten, langwierigen Verfassungsprozess blieb keine Zeit.

Das Baby der neuen Regierung

Obwohl im «Dänemark-Klon» nicht explizit erwähnt, herrscht über allen Grundrechten noch der Geist eines dänischen Königs. Darum soll das Land nun, im Nachgang der Finanzkrise, endlich auch eine eigene Verfassung erhalten. Geschrieben von allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes, von Isländerinnen für Isländer. «Wir waren überzeugt: Mit isländischen Werten werde diese Gier getilgt», sagt Robert Bjarnason, Mitgründer der heutigen Citizens Foundation und erfolgreicher Politikunternehmer.

«Unser Wahlsystem stammt aus einer Zeit, als man noch mit dem Pferd zum nächsten Wahllokal galoppierte»: Politikunternehmer Robert Bjarnason.
«Wir wollten unsere Würde zurückhaben»: Smári McCarthy von der Piratenpartei.

«Wir wollten unsere Würde zurückhaben», sagt Smári McCarthy, ein isländischer Abgeordneter der Piratenpartei. McCarthy ist ein konsequenter Mann. Will man mit ihm über damals sprechen, über den Zusammenbruch und die Zeit, als plötzlich alles möglich schien, dann wählt er den Treffpunkt sehr bewusst. Die «Te & Kaffi»-Filiale am Laugavegur. Das sei die «isländische Antwort auf den Raubtierkapitalismus von Starbucks». Die amerikanische Kaffeekette hat es bis heute nicht geschafft, Fuss zu fassen auf der widerborstigen Vulkaninsel.

Live-Chats zur Verfassung

Das Verfassungsprojekt startet erfolgreich. Zuerst sind sich alle Parteien über das Verfahren einig: Am 6. November 2010 sollen 950 zufällig ausgewählte Bürgerinnen eine Einladung aus Reykjavik erhalten. Ihr Auftrag: Ideen und Eckpunkte zu sammeln. Das Resultat mündet in einen 700-seitigen Bericht. Nun soll ein Kondensat dieses Crowdsourcings her.

Wieder sollen Bürger und nicht Politikerinnen anpacken. In der zweiten Runde sind es aber deutlich weniger. 25 Bürger kommen im Verfassungsrat, dem Stjórnlagaráð, zusammen. Hunderte kandidieren für den Rat. «Es war absolut ‹in›, sich für den Verfassungsrat zu bewerben», erinnert sich Smári McCarthy. Und jede kannte jeden Kandidaten über drei bis vier Ecken.

Mit schrägen Kampagnen erklären die Kandidatinnen, weshalb ausgerechnet sie für dieses staatspolitische Amt am besten geeignet seien.

Kaum gewählt, wagt der Rat bereits das nächste netzpolitische Experiment. Er überträgt seine Sitzungen live auf Youtube. Jeder Baustein des Entwurfs kann kommentiert werden, wiederum natürlich im Internet. Stolz erklärt das Stjórnlagaráð-Ratsmitglied Thorvaldur Gylfason: «Die ganze Öffentlichkeit kann live zuschauen, wie die neue Verfassung entsteht.»

Ein derartiges Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie hat die Welt zuvor noch nie gesehen. Medien wie der «Guardian», die «New York Times» und die «Süddeutsche» berichten über die digitalen Wikinger.

Im Oktober 2012 ist es dann so weit. Das Volk entscheidet, per Referendum, über den Vorschlag des Verfassungsrats. Über 70 Prozent nehmen den Entwurf an. Der Urnengang hat zwar nur Umfragecharakter (mehr lässt nämlich der alte Dänemark-Klon gar nicht zu), aber bietet Stoff für Streit. Denn beim Referendum steht nicht nur der Entwurf des Verfassungsrats zur Debatte, sondern eine ganze Reihe weiterer Fragen. Heikle Fragen. Machtfragen.

Sprengsatz für die Fischerei-Lobby

Plötzlich droht der Prozess zu entgleisen. Nicht wegen der potenziellen Entmachtung der Legislative, etwa die Referendumsfrage, an der sich die Parteien und Politikerinnen aufreiben. Nicht wegen der Venedig-Kommission des Europarats, die kurz vor den nächsten Parlamentswahlen den Verfassungsentwurf kritisiert, weil er «mangelnde inhaltliche Kohärenz» aufweise. Nicht wegen der Verfassungsrechtler, die die mangelnde juristische Fachkenntnis der gewählten Bürgerinnen kritisierten.

Der Prozess kommt ins Schleudern, als die Wirtschaftslobby aufzubegehren beginnt. Und sie tut das wegen dieser Referendumsfrage:

«Sollen die natürlichen Ressourcen den Bürgerinnen und Bürgern Islands gehören?»

Jedem Isländer ist klar, was damit gemeint ist: Der Fischerei-Markt soll liberalisiert und demokratisiert werden. Die Fischerei macht 25 Prozent des Bruttosozialprodukts Islands aus. Ihre Lobby hat in enger Verbandelung mit der konservativen Unabhängigkeitspartei über Jahrzehnte ihre Pfründen abgesichert.

Wirtschaftlich hat sich Reykjavik erholt, und als Touristendestination ist es beliebt: Der Hafen mit dem berühmten Konzertsaal.

Mit einem Inkrafttreten des neuen Regelwerks wären diese Privilegien verloren. Denn die neue Verfassung sieht auch eine angemessene Besteuerung der Fischerei-Unternehmen vor.

Die monatelange Obstruktionspolitik der Konservativen beginnt. Die Unabhängigkeitspartei beginnt, den Verfassungsprozess zu sabotieren.

Der Held hat den Untoten Glámur nicht vollends besiegt. Der ist wieder zurück und lässt seine Muskeln spielen.

Zermürbungstaktiken brechen den Willen

Smári McCarthy spricht von «Filibustering». Er meint damit das Hinhalten, Schlechtreden und Stimmungmachen gegen die «linke» Verfassung durch die Unabhängigkeitspartei. Meist agiert sie hinter vorgehaltener Hand. Es gibt nur wenige sichtbare Exponentinnen der Opposition gegen die Verfassung.

Nur vereinzelte konservative Politiker wie Birgir Ármannsson treten in der Öffentlichkeit dagegen auf. Er nennt die Abstimmung eine «teure Meinungsumfrage».

Der Untote Glámur ist geschickt. Er intrigierte in verschiedenen Gewändern und Gestalten gegen den Helden.

Zwar haben die Konservativen die Exekutive eingebüsst. Aber anderswo sind sie noch an der Macht. Sie stellten die meisten Richterinnen am Obersten Gericht. Und dieses verneint schliesslich die Legitimität des ganzen Verfassungsreferendums, teilweise aufgrund absurder Argumente.

So sagen die Richter etwa, dass der Abstimmungszettel nicht richtig gefaltet gewesen und damit das Stimmgeheimnis nicht gewahrt gewesen sei. Die Demokratie-Aktivistinnen rund um den Piraten McCarthy haben Dutzende von Erklärungen und auch Verschwörungstheorien parat, weshalb das Gericht das Referendum als ungültig erklärte.

Dann folgt die Nacht, die bis heute bei Journalisten, Politologinnen und Politikern Rätsel aufwirft. Am Gründonnerstag, dem 28. März 2013, erhält das Verfassungsprojekt den Todesstoss. Einen Monat vor den Parlamentswahlen.

Sabotage des Verfassungsprozesses

Es ist 2 Uhr nachts, an diesem schicksalhaften 28. März. Ein Sitzungszimmer im Althing, dem isländischen Parlament, am Kirkjutorg in Reykjavik. Traktandum: Ratifizierung der Verfassung. Stundenlang haben Sozialdemokratinnen, Konservative, Grüne, Progressive und Unabhängige über das Schicksal des mehrjährigen Bürgerwerks verhandelt. Und befinden sich in einer Pattsituation. Das Resultat: Der Verfassungsentwurf wird weder angenommen noch abgelehnt.

Stattdessen haben 25 gegen 23 Stimmen entschieden, den gesamten Verfassungsprozess komplett umzukrempeln. 36 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Oder sind einfach nach Hause gegangen.

Die Guten, die Bösen, das sind beliebte Figuren aus berühmten Isländersagas. Im Bild der Höfðaturn, das höchste Gebäude des Landes.
Über 70 Prozent der Einwohner Reykjaviks beteiligen sich regelmässig online an der Stadtpolitik: Junger Mann auf dem Lækjartorg in Reykjavik.

Der Verfassungsvorschlag muss neuerdings eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments erringen – vor und nach den Wahlen. Ausserdem soll in einem neuen Referendum abgestimmt werden. Mit einem hohen Quorum. Mindestens 40 Prozent aller Isländer müssten ein Ja einlegen.

Mit diesen neuen Hürden ist der Entwurf de facto tot. Gestandene Sozialdemokratinnen wie Valgerður Bjarnadóttir äussern sich später entsetzt über das Einknicken ihrer eigenen Regierung. Und die bekannte Piratin Birgitta Jónsdóttir zeigt in einem langen Blogartikel offen ihre Wut über die Mutlosigkeit des Parlamentes.

Weshalb die Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir ihr eigenes Projekt torpedieren liess, ist für die unterstützenden Piraten bis heute nicht nachvollziehbar. Ihre Vermutung: Sigurðardóttir hatte von der Zermürbungstaktik der Bürgerlichen die Schnauze voll. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, sie kümmerte sich nur noch um die Aufräumarbeiten. Einen Monat nach der Sitzungsnacht standen die nächsten Wahlen an. Und Sigurðardóttir wusste bereits, dass sie verlieren würde.

Glámur ist zurück

Und so kommt es denn auch. Die sozialdemokratische Regierung wird wegen ihrer Sparpolitik abgestraft. Obwohl sie mit ihren Massnahmen die Arbeitslosigkeit auf unter 4 Prozent senkte, den Staatshaushalt sanierte und dem Land eine neue Verfassung schenken wollte.

Der Held ist verbannt, der böse Glámur ist wieder da.

Die Deregulierer sind zurück. Die Konservativen übernehmen 2013 wieder das Steuer. Und bilden die alte Koalition mit ihrer alten Partnerin, der Progressiven Partei. Der neue Premierminister Sigmundur Davíð Gunnlaugsson tritt sein Amt im Frühling an.

Die konservativen Fischbarone haben gesiegt. Und damit auch das alte Establishment. Die Arbeit von Hunderten von Bürgerinnen ist über Nacht in den Sand gesetzt worden. Ränkespiele in Hinterzimmern haben den Geist der jungen Reformbewegung getötet.

Taktieren, lobbyieren, aufschieben – alte Traditionen haben im Althing gewonnen. Die neue Verfassung ist damit auf der politischen Agenda noch weiter nach unten gerutscht. Die Netzdemokratie: tot.

Stillstand

All das ist nun fünf Jahre her. Auf dem Papier existiert das Projekt Verfassung immer noch. «Es steckt seit Jahren in einem Pseudo-Komitee fest und kommt nicht vom Fleck», lacht der Parlamentarier McCarthy traurig.

Für die liberal-linke Bürgerbewegung ist das Experiment vorerst gescheitert. Es herrscht Stillstand. Die Medien sind verstummt. Niemand redet gern über das Versagen hochgehypter Internet-Märchen.

McCarthys politisches Engagement dreht sich heute um andere Dinge. Wie beispielsweise seine Kommissionsarbeit in der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA, über die er lieber redet. Doch der 34-jährige Pirat denkt noch bis heute jeden Tag zurück. Immer wieder spült der Facebook-Algorithmus einen Beitrag in seinen Newsfeed, der ihn an das Experiment erinnert. In dem sich eine Facebook-Freundin wehmütig nach der Aufbruchstimmung zurücksehnt.

Der Held Grettir ist tot, Glámur hat gesiegt. An dieser Stelle könnte die Saga zu Ende sein.

Doch man kann die Geschichte auch ganz anders erzählen.

Aus der Blase für die Blase

Nämlich so: Die Demokratie-Aktivisten wie Smári McCarthy lebten in einer Filterblase. Sie haben nicht bemerkt, dass sie eigentlich eine Minderheit bilden. Dass die Mehrheit der Isländerinnen nach dem Crash erschöpft war. Dass Existenzängste schwerer wogen als Verfassungspatriotismus. Dass Schulden abzahlen eine grössere Priorität für sie hatte als abstrakte Debatten über die Bodenreserven Islands. Dass eine Verfassungsänderung eine akademische Luxusbeschäftigung war, die vor allem von den Medien angefacht wurde.

Und sie fokussierten auf die falsche Zahl. Es stimmt, über 70 Prozent sagten im Referendum Ja zur Verfassung. Aber die Stimmbeteiligung lag bloss bei 49 Prozent. Und damit ist keine Verfassung zu machen.

Über die Hälfte der Bürger Islands interessierte sich nicht für das Referendum. Oder sie wollten sich mit konkreten Fragen verfassen. Fragen wie dem wuchtig verworfenen Icesave-Referendum 2010, das die Bevölkerung in Scharen an die Urne trieb, weil da die Bedingungen für die Rückzahlung der Darlehen an England und die Niederlande verhandelt wurden.

Oder sie waren, so die Meinung vieler isländischer Journalistinnen und Verfassungsexperten, verwirrt über die willkürlichen Referendumsfragen. Oder sie fanden den Dänemark-Klon eben doch nicht so schlecht.

Was die Linken und Piratinnen jedoch am meisten unterschätzten, ist die treue Stammwählerschaft der Konservativen. Zwar ist die Ära der 45-Prozent-Mehrheiten vorbei. Doch insbesondere die Senioren halten der Unabhängigkeitspartei die Treue. Und sie verpassen keine Wahl. An der Urne werden die historischen Verdienste der Konservativen regelmässig gewürdigt: die Erlangung der Unabhängigkeit und der Aufbau der wohlhabenden Nation Islands.

In dieser Geschichte gibt es keinen bösen Glámur. Nur einen Helden, der mit seinem Langboot einsam auf dem Polarmeer umherirrt.

Konservative sind altehrwürdige Staatsmänner

Ruhiger wurde es nach dem Abbruch des Experiments nicht. Das Land erlebte zwei Mal weitere vorgezogene Neuwahlen. Und wurde von weiteren politischen Erdbeben erschüttert. Island war eines der wenigen Länder, wo die Panama Papers unmittelbare Konsequenzen hatten.

Sie führten 2016 direkt zur Absetzung des isländischen Premierministers Gunnlaugsson. Ein Jahr später kam es erneut zu Neuwahlen. Weil der neue Regierungschef Bjarni Benediktsson wiederum zurücktreten musste. (Er wurde ironischerweise «Opfer» eines archaischen Gesetzes, das man ebenfalls längst loswerden wollte: das Reinwaschen von Straftätern mit der Verbürgung durch eine Unterschrift.)

Altes Land, junge Nation

Die isländische Politik ist nun noch unübersichtlicher geworden. Im Althing sitzen nicht mehr wie früher sechs, sondern neun Parteien. Regierungsbildungen sind fast unmöglich. Die Piratinnen, die in dem Chaos nach der Finanzkrise den etablierten Parteien Wähler abgejagt hatten, verschwanden wieder in der Versenkung. Heute haben sie nur noch sechs Abgeordnete.

Die Aussicht von der Hallgríms-Kirche auf Reykjavik. Die Isländer stimmten im Referendum auch über die Religion in der Verfassung ab.
Island – ein altes Land, aber eine junge Nation: Buspassagiere in Reykjavik.

Die Demokratie-Aktivistinnen sind müde geworden. Doch sie bleiben optimistisch. Island ist ein altes Land, aber eine junge Nation, sagen sie. Und diese Nation wird zu ihren Ursprüngen zurückfinden.

Denn eigentlich ist Island auch eine der ältesten Demokratien der Welt. Bereits im Jahr 930 haben damals noch freie Siedler und Bauern sich im südwestlichen Þingvellir getroffen und sich gemeinsame Gesetze gegeben.

Auch der gut gelaunte Politikunternehmer Bjarnason, dessen Partizipationssoftware «Better Reykjavik» von über 70’000 Einwohnern der Hauptstadt monatlich für alle möglichen Stadtbelange genutzt wird, ist zuversichtlich. Er profitierte von der Aufbruchstimmung vor acht Jahren und hat aus der digitalen Demokratie Islands ein Geschäftsmodell gemacht. «Unser Wahlsystem stammt aus einer Zeit, als man noch mit dem Pferd zum nächsten Wahllokal galoppieren musste. Diese Zeit ist abgelaufen», sagt er.

Revival ist möglich

Selbst die Konservativen schlagen versöhnliche Töne an. «Wir wollen unsere eigene Verfassung, aber sie soll nicht komplett umgeschrieben werden», sagt der konservative Abgeordnete Birgir Ármannsson. Anders als die Demokratie-Aktivistinnen etwa behaupten, sei das neue «Verfassungskomitee» alles andere als untätig gewesen.

Man habe einen «tragbaren Kompromiss» ausformuliert zur Frage der Referenden, der natürlichen Ressourcen und des Umweltschutzes. Also zu allen «heissen Eisen».

Auch die neue grüne Regierungschefin spricht sich stark für ein Revival aus. Katrín Jakobsdóttir, die mit der Unabhängigkeitspartei eine Koalition eingegangen ist, hat festgehalten, dass sie sich noch in dieser Legislatur für eine neue Verfassung einsetzen werde.

Wieder eine Frau, wieder eine Linke, wieder eine Reformerin. Smári McCarthy hat Hoffnung. «Es zeigt sich, dass die Frauen in Island bei Demokratiefragen einfach die bessere Politik machen.»

Möge Glámur ihr wohlgesinnt sein.

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