Nerds retten die Welt
Folge 8: Gespräch mit Dirk Helbing, Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich, und assoziierter Professor für Technik, Politik und Management an der Technischen Universität Delft.
Von Sibylle Berg, 04.09.2018
Guten Morgen Herr Helbing. Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Ja, das gehört zu meinem Job. Aber davon darf man sich das Leben nicht vermiesen lassen.
Können Sie Ihre Tätigkeit in einem Satz zusammenfassen?
Ich interessiere mich dafür, wie komplexe Systeme, etwa Menschenmengen, Verkehrsströme, das Finanzsystem oder die Gesellschaft funktionieren – oder eben auch nicht –, und wie man sie gegebenenfalls verbessern kann.
Sie haben als Physiker begonnen. Wann kamen Sie zur Computer -und Informationstechnologie?
Als ich die ersten Fussgängersimulationen machte, hatten Computer noch zu wenig Speicherplatz. Ich musste mir etwas ausdenken und verwendete den Bildschirmspeicher. Später wurden solche Fussgängersimulationen zur Stadt- und Eventplanung benutzt. Als ich dann nach Zürich kam, begann ich vorzuschlagen, dass man mit den heute verfügbaren Daten die gesellschaftlichen Probleme gemeinsam verstehen und lösen könnte. Die Idee für das «FuturICT»-Projekt war geboren – eine Art Apollo-Projekt für die Gesellschaft.
Lassen Sie uns erst einmal über den gefühlten Weltuntergang reden. Momentan herrscht hier bei uns eine Diskrepanz zwischen Erleben und Erlesen. Im alltäglichen Schweizer oder deutschen Leben geht alles weiter wie gewohnt. Nur einfach ein wenig anstrengender. Man fühlt, dass man als Person unwichtiger geworden ist, dass man mehr für weniger Geld arbeitet, aber die Strassen sind noch nicht von Obdachlosen bewohnt, und verhungern tut keiner. Auf der anderen Seite die Realität 2.0, die uns Flüchtlinge zeigt, Naturkatastrophen, Rechtsradikale, Konfusion und Auflösung.
Ja, die heutige Weltordnung stösst an ihre Grenzen. Wir überbeanspruchen die Ressourcen der Welt. Das führt zu Engpässen, Konflikten, Kriegen, Massenmigration usw. Das Problem kommt jetzt bei uns an. Um es zu lösen, brauchten wir den Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft – und zwar weltweit.
«Die heutige Wirtschaftsordnung, der Kapitalismus 1.0, wie wir ihn kennen, ist kein Naturgesetz.»
Wenn man dem Club of Rome glaubt, dann erleben wir jetzt die Grenzen des Wachstums. Wasser und Öl werden nach und nach knapp. Auch die Schuldenwirtschaft kann so nicht weitergehen. Schon bald wird ein Einbruch der Dienstleistungen pro Kopf prognostiziert. Spätestens ab 2050 würden Milliarden Menschen vorzeitig sterben.
Dieses am Anfang der Antwort erwähnte WIR ruft vornehmlich Ohnmacht und Aggression hervor. Wir trennen unseren Müll und fahren Fahrrad. Und müssen dennoch sehen, wie Regierungen, die WIR gewählt haben, ökologische Interessen der Wirtschaft unterordnen. Was können WIR also tun?
In der Tat haben wir im Rahmen des jetzigen Systems wenig Möglichkeiten. Aber die heutige Wirtschaftsordnung, der Kapitalismus 1.0, wie wir ihn kennen, ist kein Naturgesetz. Wir müssen uns trauen, etwas Besseres auszudenken, und das dann auf den Weg bringen.
Die manipulativ und sehr klug eingesetzte Vereinfachung der rechtspopulistischen Politiker hat eine Lösung für alle Probleme: Die Flüchtlinge müssen weg, die Nationalstaaten müssen gestärkt und die Schwulen in den Untergrund geschickt werden.
Das sind Ablenkungsmanöver, «Brot und Spiele», aber Probleme löst das nicht. Als die UNO 2015 die Nachhaltigkeits-Agenda 2030 beschloss, da dachte ich mir: «Meine Herren, das ist ja sportlich – die Situation muss wirklich ernst sein!» Das Problem ist leider: Mit Hiobsbotschaften kann man keine Wahlen gewinnen.
Nun ist die UNO ja nicht gerade bekannt dafür, Probleme effizient zu lösen. Wirtschaft und Politik – oft kaum voneinander zu trennen – scheinen mir auch nicht die Rettung zu sein.
Man hat zwar schon einiges unternommen. Aber die vermeintlichen Lösungen ziehen zum Teil noch grössere Probleme nach sich, etwa den Rückgang fruchtbarer Böden. Hätte man seit den 70ern jedes Jahr 3 Prozent Ressourcen eingespart, dann hätten wir heute eine nachhaltige Wirtschaft. Diese Entwicklung war sogar schon auf dem Weg. Man erinnert sich noch an «Jute statt Plastik», autofreie Sonntage, die aufkommende Umweltbewegung, die Gründung der Grünen.
Die heute verspottet werden, wenn sie so etwas wie einen fleischfreien Tag vorschlagen. Dieser unglaubliche Hass, wenn man Fleischverzehr infrage stellt – ist das seit der Steinzeit genetisch verankert? Apropos Vergangenheit: Kann man sagen, dass nach der Steinzeit, der Bronzezeit usw. irgendwann die Ölzeit kam?
(schmunzelt) Die geht langsam zu Ende. Klimawandel, Peak Oil, Mikroplastik, Nachhaltigkeitskrise, die Krise in Gesundheitswesen und Landwirtschaft sowie die Finanzkrise deuten alle darauf hin, dass jetzt etwas Neues kommt. Ich wette, wir werden bald völlig neue Technologien sehen, die das Militär bisher für sich behalten hat.
Das Öl hat ein Kapitel der Menschheitsgeschichte geprägt und auch zur Bevölkerungsexplosion auf der Erde geführt. Seit wir den Petrodollar haben, ist Geld nicht mehr durch Gold abgesichert, sondern durch Öl. So kann man zwar fast beliebig Geld erzeugen, aber das führt zu mehr Ölverbrauch, was mit CO2-Produktion und Klimaerwärmung endet.
Lange waren die USA durch die Leitwährung Petrodollar privilegiert. Ohne Dollar bekam man kein Öl. Inzwischen sind aber die Brics-Staaten erstarkt und drängen auf ein faires System. Das erklärt viel von der neuen Politik von Präsident Trump: Industriepolitik, Nato, Handelskriege.
Nach der Globalisierung und der Demokratisierung der Welt kommen autokratisches Denken, Diktaturen und Neofaschismus unter den Steinen hervorgekrochen. Und das in einer Zeit, in der akut globale Probleme gelöst werden müssen – das ist völlig unsinnig.
Diktatoren sind heimliche Verbündete von Krisen. Tatsächlich gibt es bedenkliche Anzeichen eines aufkeimenden digitalen Faschismus. Beispielsweise haben wir nun wieder Massenüberwachung, Propaganda und Zensur, Mind Control, Versuche der Gleichschaltung, unethische Experimente mit Menschen, Social Engineering, die Infragestellung von Menschenrechten sowie das Gerede von einem «wohlwollenden Diktator», der Big Data als Kristallkugel und Algorithmen als Zepter benutzt. «Predictive Policing» ermöglicht einen neuen Polizeistaat. Es gibt übrigens tatsächlich Verbindungen, die bis zu den Nazis zurückreichen. Wenn wir nicht aufpassen, geraten wir in einen technologischen Totalitarismus.
Da ist es wieder, dieses mystische WIR. Wie sollen wir denn aufpassen, wenn fast jeder Schritt des täglichen Lebens bereits digitalisiert ist und kaum einer in der Lage ist, seine Systeme zu schützen, mit quelloffener Software zu arbeiten oder biometrische Kameras auszutricksen?
Wir müssen aus der bequemen Konsum-Lethargie ausbrechen, unsere Politiker aufwecken, das Treiben der Geheim- und Sicherheitsdienste transparent machen. Wir sollten selber politisch aktiv werden, Änderungen des Geld-, Finanz- und Wirtschaftssystems fordern und, soweit es geht, sie selber auf den Weg bringen – Stichwort «Blockchain». Es gibt durchaus beeindruckende Initiativen der Zivilgesellschaft. So hat Pretty Easy Privacy (PEP) ein einfaches und kostenloses Verschlüsselungsverfahren für jeden entwickelt. Nutzen Sie es, damit Sie nicht rundum überwacht und in Ihren Konsum- und Wahlentscheidungen manipuliert werden.
Die Kombination aus Diktatur mit Mitteln der KI, Big Data und der Algorithmen läuft ja schon ganz gut.
In China erhält man jetzt nach und nach für alles, was man tut und lässt, Plus- oder Minuspunkte! Wenn man die Miete ein paar Tage später bezahlt: Minuspunkte! Wenn man bei Rot über die Fussgängerampel geht: Minuspunkte! Wenn man regierungskritische Nachrichten liest: Minuspunkte! Wenn man die falschen Freunde hat: Minuspunkte! Der Gesamtpunktestand bestimmt dann, wie viel man für einen Kredit bezahlen muss, welchen Job man bekommt, in welche Länder man reisen kann, ob man noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen darf, welches Restaurant man besuchen darf und wie schnell das Internet ist.
Ob die Systeme in China zuverlässiger arbeiten als jene, die zum Beispiel in Deutschland schon im Einsatz sind? Die Biometrische Überwachung in Berlin mit einer täglich absurd hohen Fehlerquote.
Einem totalitären Regime geht es nicht in erster Linie um Fehlervermeidung, sondern um Macht. Leider sind westliche Regierungen auf einem ähnlichen Weg, wie das «Karma Police»-Programm des britischen Geheimdiensts zeigt – eine Art digitales «Jüngstes Gericht». In unseren Ländern sammeln auch Unternehmen Unmengen an Daten.
Irgendwann erwartet uns dann ...
... ein beinahe perfektes digitales Gefängnis – eine Kombination aus einer Big-Brother-Welt, Neofeudalismus und besserwisserischen staatlichen Institutionen oder Unternehmen, die sich überall einmischen.
In der Fernsehserie «Black Mirror» ersetzt der Citizen-Score das Geld. In der Realität werden immer mehr Bankautomaten abgebaut. Bald wird man nicht mehr in ein Flugzeug kommen, ohne die biometrische Erkennung passiert zu haben. Ohne eine Verifizierungs-App kann man bei der Swiss online kein Ticket mehr kaufen (1.0 sind sie dann erheblich teurer), Ticketschalter der Bahn werden geschlossen, weil die Mitarbeiter durch Algorithmen ersetzt werden. Apple wirbt mit «Zahle mit deinem Gesicht» – und tschüss Menschenrecht auf Privatheit.
Manche Unternehmen arbeiten jetzt an superintelligenten Systemen, die nicht nur mit uns sprechen, sondern uns auch erkennen und unsere Gefühle lesen und manipulieren. Irgendwann überwachen sie uns nicht nur, sondern fangen an, uns Vorschriften zu machen und uns zu bestrafen. Das ist sicher kein Zufall. Man könnte durchaus sagen, Google (jetzt: Alphabet) spiele Gott. Das Unternehmen versucht allgegenwärtig und allwissend zu sein. Allmächtig ist es zwar noch nicht, aber mit personalisierter Information versucht es, das Weltgeschehen zu lenken. Darüber hinaus unterstützt Google Projekte, die über das Lebensende entscheiden oder den Tod zu überwinden versuchen. Es erschafft künstliches Leben und Intelligenz. Alles Dinge, die bisher Gott vorbehalten waren.
Die Totalüberwachung für die göttliche Absolution, die freiwillige Beteiligung am Citizen-Score-Projekt in China, wäre überwältigend, sagt man. Endlich lobt einen einer. Endlich werde ich wahrgenommen. Ich habe nichts zu verbergen, ich führe ein rechtschaffenes Leben. Auch hier in den Resten der Demokratie kann sich kaum einer vorstellen, dass eine Staatsmacht all die Informationen über uns einmal gegen uns verwenden könnte.
Im Laufe der Zeit verwandelt so ein System eigenverantwortliche, freie, kreative Bürgerinnen und Bürger in digitale Untertanen. Solange es mit der Wirtschaft bergauf geht, scheint alles einigermassen o. k. Aber spätestens wenn die Ressourcen knapp werden, wie es prognostiziert ist, dann schnappt die digitale Falle zu. Und dann wird das System nicht mehr nur komfortabel und nett sein. Dann wird es entscheiden, wer noch was bekommt und darf – und wer Pech gehabt hat. Es gibt sogar wieder Forschung zu Euthanasie, diesmal im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz. Es braucht eine Kombination von rechtlichen Vorschriften und technischen Lösungen. Persönliche Daten müssten an eine Datenmailbox gesandt werden, über die wir ihre Verwendung steuern können. Schon heute gibt es im Prinzip ein sehr detailliertes digitales Abbild von uns, ein digitales Double.
Unser Leben wird also von Firmen und Geheimdiensten kostenlos heruntergeladen, aber wir haben keine Kontrolle über unser Double und unsere Daten. Das muss sich ändern. In Zukunft könnten wir entscheiden, wer welche Daten für welche Zwecke benutzt. Ausser für Statistiken dürften unsere persönlichen Daten nur verwendet werden, wenn sie von uns freigeschaltet wurden. Alle Verwendungen würden genau aufgezeichnet und wären jederzeit einsehbar. Die Unternehmen könnten alle personalisierte Produkte und Services anbieten, müssten aber unser Vertrauen gewinnen. Dadurch entstünde ein Vertrauenswettbewerb, eine digitale Vertrauensgesellschaft. Und der Zugang zu Daten würde Wissenschaft und Wirtschaft, Spin-offs und KMU enorm nutzen.
In Ihren Videos
schlagen Sie Lösungen für die Weltprobleme vor. Schade eigentlich, dass Regierungen oft die Vorschläge von Wissenschaftlern ignorieren. Entweder weil sie sie nicht verstehen, oder weil sie sich nicht mit den Interessen der Lobbys verbinden lassen.
Wir sollten uns nicht auf Mangelverwaltung konzentrieren, sondern auf die Erhöhung der nachhaltigen Tragfähigkeit der Erde. Das braucht kollektive Intelligenz und kombinatorische Innovation. Ich plädiere für einen demokratischen Kapitalismus. Denn Demokratie und Kapitalismus sind die beiden Systeme, die am erfolgreichsten waren, aber sie müssen miteinander versöhnt werden. Leider wurde bei der Demokratisierung das Geldsystem vergessen. Der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, droht die Demokratie jetzt nach und nach zu beseitigen. An die Stelle privilegierter Könige sind privilegierte Unternehmen getreten. Sie haben sich über die Interessen von Privatpersonen und Staaten erhoben.
Wie kann die Lösung praktisch aussehen?
Wirkungsvolle Massnahmen gegen das drohende Systemversagen wären: 1. Ein Grundeinkommen zur Existenzsicherung. 2. Crowdfunding für alle, Wettbewerb und Breiteninnovation. 3. Ein multidimensionales Koordinationssystem zur Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. 4. Digitale Demokratie zur Förderung kollektiver Intelligenz. 5. Städtewettbewerbe zur Lösung der Weltprobleme.
Das Grundeinkommen ist doch keine Utopie, es wird einfach zur Notwendigkeit, weil viele Menschen mit ihren Teilzeitarbeits-Verträgen nicht mehr genug Geld zum Leben haben. Menschen über vierzig zum Beispiel, Alleinerziehende, Kranke. Grundeinkommen ist doch nur mehr ein eleganter Begriff für: Sozialhilfe für den nicht netzfähigen Menschen.
Nein. Wer Sozialhilfe bekommt, wird stigmatisiert und kann heute nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Ein Grundeinkommen sollte nichts Beschämendes sein, schon gar nicht in Zeiten, wo die Lebensgrundlagen bald von Robotern erzeugt werden und die klassische Arbeit allmählich verschwindet. Ein Grundeinkommen hätte viele Vorteile: wirtschaftliche und politische Stabilität durch existenzielle Sicherheit. Die berufliche Neuorientierung würde gefördert und damit auch der digitale Strukturwandel, vor dem wir jetzt stehen. Es wäre denkbar, dass jeder das Gleiche bekommt oder aber 60 Prozent des letzten steuerlich erklärten Einkommens.
Wichtig ist, dass das Grundeinkommen möglichst komplett in die Wirtschaft fliesst, aus der es dann durch eine Umsatzsteuer wieder entzogen wird. Das macht es billig, denn dann entsteht ein effizienter Geldkreislauf. Im Übrigen sollte man es nicht durch Einkommenssteuern bezahlen, sondern durch ein neues Geldsystem. Die Geldschöpfung sollte allen gleichermassen zugutekommen. Heute profitieren nur wenige davon. Daher explodiert die Ungleichheit. Die Welt verdient ein besseres Geld- und Finanzsystem. Wir können es ändern. Es ist doch eigentlich nur ein Koordinationssystem für knappe Ressourcen.
Oh, das Finanzsystem. Ein Hobby von mir. Ist Blockchain die Lösung, um das alte System zu ersetzen?
Jein. Das heutige Geld ist im Prinzip eindimensional. Dadurch gibt es ein ständiges Auf und Ab, Booms und Rezessionen, Wirtschaftskrisen, Kriege und Revolutionen, seit nunmehr Tausenden von Jahren. Immer wieder machen wir die gleichen Fehler. Die Eindimensionalität impliziert reich und arm, mächtig und ohnmächtig. Sie schafft eine geschichtete Gesellschaft, die mit demokratischer Chancengleichheit früher oder später unvereinbar wird.
Die Unlogik der neoliberalen Nahrungskette.
Wir brauchen ein multidimensionales Koordinationssystem. Wir nennen es auch das «sozioökologische Finanzsystem». Stellen Sie sich vor, es gäbe verschiedene Sorten Geld, für verschiedene Ressourcen. Damit könnte man komplexe Systeme wie unsere Wirtschaft und Gesellschaft deutlich besser organisieren. Positive Auswirkungen auf die Umwelt würden belohnt, schlechte wären teuer.
Heute wachsen die rücksichtslosesten Unternehmen am schnellsten. In Zukunft könnte man mit umweltfreundlicher Produktion Geld verdienen – genau genommen verschiedene Gelder. Statt vieler Regulierungen würde man neue Marktkräfte erzeugen, welche die Stoffkreisläufe schliessen und so zu einer Kreislaufwirtschaft und Sharing Economy führen.
Kommen wir zum Crowdfunding und der Sharing-Industrie: Sind sie nicht eine Aufforderung an die Bürger, die Lücken zu füllen, die der Staat nicht mehr zu füllen bereit und in der Lage ist? In England ist das gut zu beobachten. Private kümmern sich um die Ärmsten, Private sammeln für Künstler. Und teilen ihre Autos. Soll das die Lösung sein?
Das ist zu negativ gedacht. Es wurden sogar schon Wolkenkratzer per Crowdfunding finanziert. Warum dann nicht auch neue Medikamente und Innovationen? Jeder sollte neben dem Grundeinkommen regelmässig eine Investmentprämie, also Geld für Crowdfunding, bekommen. Ich stelle mir vor, dass in Zukunft viele ihre Zeit mit Projekten verbringen: wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Projekten. Manche davon würden wir koordinieren, andere würden wir unterstützen. Das wäre eine flexible Organisationsform, die an die lokalen Gegebenheiten und Bedürfnisse leicht angepasst werden kann. Wer selber nicht kreativ sein oder in Projekten mitwirken will, könnte mit der Investitionsprämie immerhin bestimmen, welche Ideen, Innovationen und sozialen, ökonomischen, kulturellen, Umwelt- oder Nachbarschafts-Projekte umgesetzt werden.
Projekte klingen immer ein wenig nach: Wir machen irgendetwas Sinnloses, klingt aber toll. Nichts gegen Beschäftigungstherapie, aber wollen viele nicht eher Arbeit, feste Bürozeiten und das durch Geld bewiesene Gefühl der Nützlichkeit?
In Zeiten, in denen es um das Überleben von Milliarden Menschen geht, braucht es digitale Plattformen, die Projekte unterstützen und auch Expertenwissen für alle zugänglich macht. Persönliche digitale Assistenten können Menschen anleiten und organisatorisch unterstützen. Auch Kreativität, Innovation und Kooperation könnte durch künstliche Intelligenzsysteme gefördert werden. Mit dem sogenannten Internet der Dinge wird es einfach, Schäden zu messen und zu vermeiden, Nutzen zu stiften und einen fairen Lastenausgleich zu erreichen.
Zusätzlich braucht es Plattformen für «digitale Demokratie». Wenn schwierige Entscheidungen anstehen, sollten die Argumente auf einer digitalen Plattform gesammelt werden. Im Unterschied zu Facebook ginge es aber nicht darum, wer am lautesten schreit, sondern alle Argumente würden so strukturiert, dass die verschiedenen Perspektiven sichtbar werden, die für ein Problem relevant sind. Dann würden die Hauptvertreter der verschiedenen Perspektiven an einen runden Tisch eingeladen mit dem Ziel, Perspektiven und Lösungen auf innovative Weise zu integrieren. Über die integrierten Lösungen kann man dann abstimmen. Es geht aber nicht in erster Linie darum, dass sich die einen gegen die anderen durchsetzen, sondern dass Lösungen gefunden werden, die für viele funktionieren. Wenn man die beste Einzellösung mit anderen Lösungen kombiniert, dann entsteht oft eine noch viel bessere Lösung. Das ist das Geheimnis der kollektiven Intelligenz.
Sie gehen da von jungen, IT-fähigen, gut ausgebildeten Menschen aus? Das sind vielleicht 10 Prozent der Weltbevölkerung.
Das sollte eigentlich reichen. Jeder benutzt Wikipedia, aber nur ein kleiner Prozentsatz hat jemals einen Artikel dafür geschrieben – und trotzdem funktioniert es.
Sie haben vielleicht auch eine Idee, wie man eine Art vernünftige Weltregierung errichten kann, eine Alternative zum Irrsinn der Abschottung von Kleinstaaten auf einer Erde, die global vernetztes Handeln verlangt.
Ich denke da an globale Städtenetzwerke. Alle paar Jahre ginge es darum, in einem freundschaftlichen Wettbewerb zwischen Städten die besten Ideen zu finden und neue Lösungen zu entwickeln. Über einige Monate hinweg würde man gemeinsam an neuen Lösungen tüfteln. Medien und Politik würden die Gesellschaft mobilisieren, um die Transformation zur digitalen und nachhaltigen Gesellschaft in kurzer Zeit zu bewältigen. Am Ende würde eine Best-of-Liste der Lösungen erstellt. Jeder dürfte sie verwenden, miteinander kombinieren und weiterentwickeln. Die Innovationsfähigkeit der Gesellschaft würde voll entfesselt, die Lösung der drängenden Weltprobleme käme schneller voran. Und wir könnten alle dazu beitragen – jedenfalls, wer will.
Sehr geehrter Herr Professor – ich hoffe sehr, dass Ihre Ideen umgesetzt werden. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihren Optimismus.
Illustration Alex Solman