Borderland
3144 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA. Im Süden bestimmen Not und Gewalt den Alltag. Was die Menschen auf der Flucht nach Norden durchmachen, lässt sich kaum beschreiben. Neue Bücher tun es trotzdem.
Von Michi Strausfeld (Text) und Kirsten Luce (Bilder), 03.09.2018
Die Ankunft auf der anderen Seite ist hart: «Im Kühlschrank weisst du nie, wie spät es ist. Nicht mal, ob Tag oder Nacht. Der Kühlschrank ist die Zelle, wo du landest, wenn dich die Grenzpolizei schnappt. Sie heisst Kühlschrank, weil es da drin so kalt ist, und das Einzige, was sie dir geben, ist eine Decke, die aussieht, als wäre sie aus Metall. Es ist so kalt, dass ich Krämpfe in den Beinen krieg, aber das kann auch daran liegen, dass ich die ganze Zeit stehen muss. Als sie mich einsperren, kann ich mich nicht mal setzen oder hinlegen, weil überall schon andere Mädchen schlafen und es keinen Platz mehr gibt.»
Hier warten sie oft tagelang, die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen auf ihrem gefährlichen Weg über die Grenze zwischen Süden und Norden. Sie warten auf ein Sandwich, einen Saft, vor allem auf einen Bescheid, wie die Behörden weiter mit ihnen verfahren werden.
Dieser Grenze, die Mittelamerika und Mexiko von den USA trennt, widmet sich eine Reihe aufsehenerregender Neuerscheinungen. Wir stellen sie vor (am Ende des Artikels finden Sie die Liste der Bücher).
Eine Telefonnummer im Gepäck
Seit Jahren flüchten immer mehr Minderjährige aus der Heimat. Ihr Ziel: die USA. Ein Rückgang der Zahlen ist nicht in Sicht. Der mexikanische Autor Juan Pablo Villalobos hat soeben «Ich hatte einen Traum» publiziert, ein schmales Buch (die eingangs zitierte Passage stammt daraus), das die Erlebnisse zehn solcher Minderjähriger aus Mittelamerika wiedergibt. Villalobos hatte sie 2016 in Los Angeles und New York interviewt, und ihre Schilderungen zeugen von dem bewundernswerten Mut, den sie aufgebracht haben, von der tiefen Verzweiflung, die sie antrieb, um alle nur vorstellbaren Gefahren zu überwinden. Der gemeinsame Wunsch: Eltern oder Verwandte in den USA wiederzufinden, die schon vor Jahren emigrierten. Im Gepäck haben sie oft nur eine Telefonnummer.
Der «Kühlschrank» ist fast immer die erste Erfahrung, die die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen machen, sobald sie mit Hilfe eines «Kojoten» (Schleppers) den Rio Grande oder Rio Bravo überquert haben. Sie kommen aus Guatemala, aus El Salvador, aus Honduras und weiteren Ländern. Meist lebten sie bei den Grosseltern oder anderen Verwandten, bis sie vor der Willkür krimineller Banden, ihren Erpressungen oder Morddrohungen fliehen mussten. So jedenfalls erging es dem dicken Jungen mit dem zu gross gewachsenen Herzen, der in die unerbittlichen Kämpfe der beiden Jugendgangs Mara Salvatrucha 13 und Barrio 18 in El Salvador gerät. Wie ein Ball wird er hin und her geworfen, bis die Grossmutter ihn und den jüngeren Bruder auf die gefahrvolle Reise gen Norden schickt.
Manche Kojoten kassieren das Geld, zeigen danach aber wenig Interesse, ihre «Klienten» sicher über die Grenze zu schleusen. Oft müssen diese tagelang warten: «Und so eine lange Flucht, um in der Wüste zu enden, an der Grenze von Sonoyta, ohne eine Chance, sie überqueren zu können. Ich war völlig am Ende, wegen der vielen Tage, die wir in der Wüste waren, mit den ganzen Verbrennungen auf der Haut, und weil man sich nicht waschen konnte und nichts Vernünftiges zu essen hatte. Ich war verzweifelt.» Nach fünf Tagen in der Wüste «sind wir zu zehnt den Hügel runter, um uns zu stellen. Wir sagen, sie sollten uns zurückbringen. Wir haben einfach die Grenze überquert, wo sie uns erwartet haben. Sie haben uns auf Pick-ups geladen und zu den Kühlschränken gebracht.»
Jede dieser knappen Reportagen erzählt von einer einzigartigen, dramatischen Kindheit oder Jugend. Aber es gibt Gemeinsamkeiten: grassierende Armut, Hunger, keine Chance auf Arbeit, häusliche Gewalt, Angst vor der (Drogen-)Kriminalität, allgegenwärtige violencia und der Traum von einem besseren Leben. Väter, Mütter oder Verwandte sind längst drüben, rufen an, schicken manchmal Geld für ihre Kinder. Allein aus Mittelamerika flohen in den letzten fünf Jahren 189’000 Minderjährige, denn diese Länder des «Hinterhofs», in denen US-Firmen rechtlose Arbeiter ausbeuteten und jahrzehntelang grandiose Gewinne aus riesigen Plantagen schöpften, sind für die USA unwichtig geworden, jetzt nur noch ein lästiges Problem.
Donald Trumps Null-Toleranz
Das Grenzgebiet zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden ist schon lang eine lebensgefährliche Konfliktzone. Doch die «Null-Toleranz-Politik» des amerikanischen Präsidenten Donald Trump hat die Lage noch einmal verschärft. Wir erinnern uns: Ein Aufschrei ging durch die Welt, als im Frühjahr 2018 mehr als 2500 Kinder illegaler Immigranten aus Mexiko und Mittelamerika gewaltsam von ihren Eltern getrennt und in Auffanglagern und anderen Einrichtungen untergebracht wurden.
Familien brutal auseinanderreissen, den Müttern weinende Kleinkinder wegnehmen: Das ging auch Trumps Wählern zu weit. Viele verlangten mit lauten Protesten die sofortige Rückführung der Minderjährigen. Wie es diesen weiter erging, konnte man auf Fotos und im Fernsehen sehen oder in der Presse nachlesen. Die «New York Times» schilderte in der Ausgabe vom 14. Juli 2018 den streng organisierten Ablauf ihres Alltags, in dem selbst für Geschwister die strengen Regeln galten: «Don’t touch! Don’t cry.»
Ende Juli, nach Ablauf der Frist, die ein Bundesrichter aus San Diego der Regierung gesetzt hatte, um alle Familien wieder zu vereinen, warteten noch immer 711 Kinder zwischen fünf und siebzehn darauf, ihre Eltern zu finden. Doch viele von ihnen sind längst abgeschoben worden und unauffindbar, manche harren vermutlich irgendwo in Grenznähe aus und hoffen auf mehr Glück bei einer erneuten illegalen Einwanderung. Alle werden sie es noch einmal oder noch mehrere Male versuchen, denn der Weg zurück in die Heimat bedeutet Elend, Verfolgung oder Tod. Jedes einzelne Schicksal ist eine Tragödie.
Von solchen Tragödien, ihren Hintergründen und Folgen berichtet Juan Pablo Villalobos in seinem Buch, das El Salvador, Guatemala, Honduras und Nicaragua untersucht: Länder, deren unhaltbare Zustände eng mit Jahrzehnten politischer Einmischungen und wirtschaftlicher Ausbeutung durch die USA zusammenhängen. Diese wollen von der Verantwortung für ihre unkontrollierte imperialistische Politik, «big stick» genannt, heute nichts wissen. Die bitteren Kommentare auf der anderen Seite: Sie waren gut im Plündern, sie sind schlecht im Schützen.
Bürgerkriege, Blutbäder
Seit den 1980er-Jahren hatte sich die Lage in Mittelamerika durch die Bürgerkriege in El Salvador und Guatemala verschärft, in denen die von den USA ausgebildeten und bewaffneten Todesschwadronen Blutbäder anrichteten. Es galt ja, den Kommunismus zu besiegen. In Honduras schufen die USA Ausbildungslager für die Contra, um sie von dort nach Nicaragua zu schicken und die sandinistische Revolution zu stürzen. Die ehemaligen «Bananenrepubliken» haben sich bis heute nicht von den Folgen erholt, erhielten auch keine nennenswerte Unterstützung bei der Wiederherstellung ihrer fragilen Demokratien. In Guatemala ist fast die Hälfte der Kinder unterernährt.
In den Bürgerkriegen Mittelamerikas starben Zigtausende, «verschwanden» Zigtausende, flohen Zigtausende ins Exil, vor allem in den Norden. Dort entstanden in den 1980er-Jahren gewaltbereite Jugendbanden wie Mara Salvatrucha 13 oder Barrio 18, insbesondere in Los Angeles. Als die USA in den 1990er-Jahren ein paar tausend dieser illegalen Kleinkriminellen aus den Gefängnissen in die ihnen unbekannte Heimat zurückschickten, wuchsen sie dort zu mächtigen, unvorstellbar gewalttätigen (Drogen-)Gangs heran. Sie sind an ihren Tätowierungen erkennbar und herrschen inzwischen im Land, während die Politiker ausserstande sind, ihre Bürger vor der willkürlichen Brutalität zu schützen. El Salvador und Honduras, politisch und wirtschaftlich gescheitert, sind «failed states». Man will nur eines: weg!
Mexikos Niederlage
Die Beziehungen zwischen Mexiko und den USA sind ungleich komplexer. Ein hundertjähriges mexikanisches Sprichwort lautet: «Armes Mexiko, so nahe an den USA und so fern von Gott.» Es ist unverändert gültig. Auch hier waren und sind die Machtverhältnisse ungerecht und unausgewogen.
Man sollte also einen Blick in die Geschichte werfen, um das vielschichtige Verhältnis beider Staaten zueinander besser zu verstehen, das an der 3144 Kilometer langen frontera in aller Schärfe sichtbar wird. «Welcome to Borderland» heisst das soeben erschienene Buch der Ethnologin, Dokumentarfilmemacherin und Journalistin Jeanette Erazo Heufelder. Sie analysiert beide Seiten der Grenze historisch, erläutert die Aktualität aus verschiedenen Blickwinkeln und zeigt die widersprüchlichen Facetten, die sie auf ihren Reisen fasziniert und erschreckt haben.
Alles gibt es an der Grenze im Doppelpack, alles ist anders geworden, und dennoch war alles einmal ein vereintes Territorium. Als Mexiko 1821 seine Unabhängigkeit von Spanien gewann, herrschte es über ein riesiges und vor allem im Norden wenig bevölkertes Gebiet. Die neuen Regierungen waren schwach, die verkrusteten Kolonialstrukturen längst nicht abgebaut. So kam es ständig zu neuen Unruhen und Umstürzen, bis General Antonio López de Santa Ana es schaffte, zwischen 1833 und 1855 elfmal Präsident zu werden.
Eine «groteske Figur, ein Hahnenkämpfer und Frauenheld» – so der Schriftsteller Carlos Fuentes –, dessen Leben so abwechslungsreich verlief, dass ihm paradoxerweise nie literarische Gerechtigkeit widerfuhr: «Tatsächlich scheint Santa Ana einer literarischen Wiedergeburt einfach deshalb entkommen zu sein, weil sein Leben weitaus fantastischer war, als irgendein Romanautor es sich hätte ausmalen können.»
Durch seine politische und militärische Unfähigkeit verlor Mexiko 1848 erst die Provinz Texas und dann alle nördlichen Territorien, nämlich Arizona, New Mexiko, Colorado, Nevada, Kalifornien und einen Teil von Utah, also die Hälfte des gesamten Staatsgebietes. Nach Kriegen, Friedensabschlüssen, späteren Zukäufen und grosszügigem Landraub wurde 1854 die endgültige Grenze festgelegt.
«Mit der Niederlage 1848 begannen für die in den Vereinigten Staaten ansässige mexikanische Bevölkerung Jahrzehnte schlimmster Diskriminierung», so Erazo Heufelder, insbesondere für die dunkelhäutigeren Mexikaner. Indianische Gesichtszüge galten schlicht als Charakteristikum einer «minderen Rasse», und damit nahm auch das bis heute virulente Rassenproblem im Grenzgebiet und in den ehemaligen mexikanischen Regionen seinen Lauf. Für die Mexikaner bleiben die verlorenen Kriege und die aktuelle Grenze eine offene Wunde.
Ungerechter Verlust, gerechte Entschädigung
Der mexikanische Historiker Enrique Krauze publizierte im April 2017 einen Artikel in der «New York Times», in dem er die 170-jährige Geschichte Revue passieren liess und verlangte, dass man «diese an Grausamkeiten überreichen Kriege, provoziert durch rassistische Vorurteile und das Streben nach territorialer Expansion, wieder in Erinnerung bringen müsse». Er denke nicht an eine physische Rückeroberung der ehemaligen Gebiete, «die uns geraubt wurden» und für die die USA nur die «bescheidene Summe von 15 Millionen Dollar in Raten bezahlt haben». Eine gerechte Entschädigung, so Krauze, sei eine Reform der Einwanderungsgesetze, damit die Nachkommen jener Mexikaner, die «den ungerechten Verlust der Hälfte ihres Landes erlitten», heute endlich das Bürgerrecht der USA erhielten.
Handelskrieg und Drogenhandel
Erazo Heufelder nimmt uns mit auf ihre Reise entlang der Grenze, mal in den Norden, mal in den Süden. Sie beschreibt das Leben in den vielen Zwillingsstädten: Tijuana/San Diego, Ciudad Juárez/El Paso, Mier/Roma, Nuevo Laredo/Laredo. Manche dieser Namen sind inzwischen berühmt geworden, allerdings aus finstersten Gründen: Frauenmorde in Juárez, «Verschwundene» in Nuevo Laredo, gestrandete Haitianer in Tijuana.
Präzise wird die Entstehung des Drogenhandels aufgezeigt, dessen Ursprünge bis tief ins 19. Jahrhundert reichen. Der Schmuggel begann schon in der Kolonialzeit, weil die Spanier jeglichen Handel mit den nördlichen Nachbarn verboten – alle verkäuflichen Güter sollten in die Heimat geleitet werden. Also entwickelten sich Routen nach Louisiana, um diese Befehle zu unterlaufen.
Später folgte der Tabak, und schon bald florierte der Schmuggel in beiden Richtungen. Immer neue Produkte kamen hinzu, etwa die Baumwolle. Auch die Jahre der Prohibition waren Goldgräberzeiten: Der Alkoholschmuggel war zwischen 1919 und 1933 ein blühendes Geschäft, bis das Verbot aufgehoben wurde. Das erste Opium kam 1914 illegal über die Grenze.
Heute dominiert der Drogenhandel das Leben im Borderland. «Als der Drogenschmuggel in Tamaulipas in den 70er-Jahren an Fahrt aufnahm, karrten noch Lastwagen die illegale Ware aus dem Süden heran. (...) Jeder schmuggelte so lange auf eigene Rechnung, bis in den 1990er-Jahren das Golf-Kartell von Matamoros aus die Kontrolle übernahm und das Geschäft neu organisierte. Als bewaffneter Arm dieses Kartells tauchten Anfang 2000 die Zetas auf, deren Reihen sich ursprünglich aus Überläufern von Spezialeinheiten des mexikanischen Militärs rekrutierten.»
Das Material der Autorin beeindruckt. Schon 2011 hatte sie eine Reportage mit dem Titel «Drogenkorridor Mexiko» publiziert, die die vielschichtigen Verstrickungen von korrupten Militärs und Drogenkartellen, Waffenimporten aus den USA versus Drogenexport in die USA ausführlich dokumentierte.
Seitdem haben sich die Verhältnisse weiter verschlechtert, denn der vom mexikanischen Präsident Felipe Calderón ausgerufene und von den USA unterstützte «Krieg gegen die Drogen» während seiner Amtszeit von 2006 bis 2012 hat ein verheerendes Erbe hinterlassen: geschätzte 100’000 Tote und mehr als 30’000 «Vermisste». Aus zerschlagenen Grosskartellen waren noch grausamere Splittergruppen entstanden, die sich an der Grenze blutige Kämpfe um die begehrten Drogenumschlagplätze, die plazas, liefern.
Die mexikanische Autorin Carmen Boullosa und ihr nordamerikanischer Ehemann, der Historiker Mike Wallace, publizierten 2015 den Bericht: «¡Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen». Sie beginnen mit Ayotzinapa, wo 43 Lehramtsstudenten 2014 «verschwanden». Die Autoren zeichnen die Entwicklung Mexikos vom Beginn der Revolution (1910) bis heute nach. Seit etwa 2000 entstand aus dem Drogenschmuggel eine Hydra, deren Köpfe mittlerweile nicht mehr zählbar sind. Ein schmutziger Krieg in Komplizenschaft mit den staatlichen Organen. «Die neue Dimension des Kampfes entsetzte die Amerikaner, hätte sie eigentlich aber nicht überraschen dürfen, wurde doch dank der US-Waffenindustrie und dem mächtigen rechten Flügel der Republikaner der sogenannte ‹eiserne Fluss› der Aufrüstung gen Süden immer kräftiger.»
Ciudad Juárez
Erazo Heufelder zeigt in ihrem Kapitel «Ciudad Juárez – die neue Stadt auf dem Hügel», wie aus dem Ort ein erschreckendes «Laboratorium unserer Zukunft» geworden ist, in dem der einzelne Mensch nicht mehr zählt. Wechselnde Finanzkrisen bescherten den Arbeitern in den Fabriken dieser Sonderzone mal etwas Wohlstand (also den Firmen, deren Namen auf die Besitzer im Norden verweisen), bei mangelnder Nachfrage dann abrupt wieder bitterste Armut, mit der sie allein gelassen werden.
Die Armut wiederum verschärft die violencia, die auch eine der Erklärungen für die vielen Frauenmorde liefert und zur wachsenden illegalen Emigration führt. Heute beträgt die Mordrate in der Stadt 60 pro 100’000 Einwohner. Auch Aktivisten, Menschenrechtler und Journalisten sind beliebte Opfer.
Der Kulturwissenschaftler Alexander Gutzmer porträtiert in seiner Studie «Die Grenze aller Grenzen. Inszenierung und Alltag zwischen den USA und Mexiko» einzelne Persönlichkeiten: eine Aktivistin, einen Ökonomen, einen Architekten. Er erläutert auch den Fall des Verlegers Oscar Cantú: Nach der Ermordung der investigativen Journalistin Miroslava Breach auf offener Strasse schloss dieser 2017 seine Zeitung «Norte» nach 27 Jahren. Die Mörder wurden bis heute nicht gefunden.
Neben die Gräuel von Ciudad Juárez stellt Erazo Heufelder immerhin das erstarkende Engagement der Zivilgesellschaft, die das Vertrauen in den Staat zwar verloren hat, nicht aber die Zuversicht, selbst die Dinge in die Hände zu nehmen, um Verbesserungen und etwas Gerechtigkeit zu erzielen. Viele Künstlerinnen und Künstler engagieren sich, Fotografen, Dichterinnen, Maler, Filmemacher, und ihre Arbeiten zeugen von einer grossartigen Kreativität im Bemühen, den Blick der Weltöffentlichkeit auf diese Missstände zu lenken. Selbst Papst Franziskus machte auf seiner Mexikoreise einen Abstecher nach Juárez und benannte vor Ort die drängenden Probleme: Migration und Narco-Gewalt.
In der Sonora-Wüste
Vor der zunehmenden Militarisierung der frontera seit den 90er-Jahren gab es durchaus Grenzgänger, die ihr Habitat auf beiden Seiten des Flusses als eine Selbstverständlichkeit betrachteten: Indianer der Sonora-Wüste. Erazo Heuberger vermittelt ethnologische Einblicke in die Geschichte der einzelnen Stämme, die schon im 17. Jahrhundert von den Jesuiten vor der Willkür der spanischen Krone geschützt wurden. Ihre Beschreibungen der Landschaft, die zu den heissesten Flecken der Welt zählt, der Kakteenwälder, Lavafelder und des «Teufelswegs» sind bestrickend. Und beängstigend: Weiss man doch, dass heute verzweifelte Flüchtlinge genau diesen Weg durch die Wüste in den Norden nehmen. Viele verdursten. Ihre Leichen werden spät oder nie gefunden, selten werden sie gezählt oder bestattet.
Vereinzelte Zivilgruppen helfen den Flüchtlingen in Arizona, stellen Wasserkanister auf und etwas Nahrung, versuchen Tote zu bergen. Aber die hochmilitarisierten und technologisch bestausgerüsteten Soldaten der Border Patrol sehen dieses Engagement gar nicht gerne. Deshalb zerstören sie auf ihren Rundfahrten mutwillig die bescheidenen Hilfsmöglichkeiten. Ihnen hat man beigebracht, dass Illegale minderwertige Lebewesen sind.
Mexiko und die USA sind in vielen Bereichen untrennbar miteinander verbunden, besonders im Borderland und trotz des Zauns, wie das Buch von Jeanette Erazo Heufelder einprägsam und überzeugend beschreibt. Erste und Dritte Welt prallen an dieser frontera ungebremst aufeinander, kreieren eine Sondersituation, die genau beobachtet werden sollte.
Die nordamerikanische Politologin Wendy Brown konstatiert in «Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität»: «Die nordamerikanische Sperranlage ist ein Produkt jener von ihr zugleich vertieften Widersprüche, die die neoliberale Globalisierung für die souveräne Integrität und Funktionsfähigkeit eines Erste-Welt-Landes aufwirft.» Und sie hält fest, dass wir in einer globalen Übergangsphase leben, «einer Zeit nach dem Zeitalter staatlicher Souveränität, aber noch vor der Formulierung und Realisierung einer Weltordnung, die an deren Stelle treten wird».
Die Würde des Menschen gilt nichts mehr
In den Worten von Francisco Cantú, ehemaligem Mitglied der United States Border Patrol, ist die praktizierte Verrohung der Sprache der erste Schritt zur Abstumpfung der Gefühle und der kalten, gedankenlosen Ausführung aller Befehle. Die Würde des Menschen gilt nichts mehr. Er selbst konnte diesem Druck nicht standhalten und quittierte nach vier Jahren den Dienst.
Im Buch «No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze» schildert Cantú seine Erfahrungen, das Aufspüren der Flüchtlinge an der Grenze und in der Wüste, den Transport in die «Kühlschränke», die namenlosen Toten, das Gefühl von Hilflosigkeit. Heute engagiert er sich für die Migranten. Einer seiner Schützlinge ist ein Familienvater, der seine todkranke Mutter in Oaxaca besuchte und dann nicht mehr über die Grenze zur Ehefrau und den drei in Amerika geborenen Kindern gelangte. Cantú kennt alle Vorschriften und Gesetze. Er versuchte zu helfen, vergeblich. Ein starker Bericht.
Fragen, Fragen, Fragen
1972 rief Nixon den Krieg gegen die Drogen aus. Aber noch immer hat sich kein Erfolg eingestellt, im Gegenteil: Die Kartelle sind mächtiger denn je. Wenn in Mexiko 2,5 Millionen Jugendliche zwischen 18 und 29 Jahren keine Arbeit oder Ausbildung haben, sind sie anfällig für die Angebote der Drogenmafias, die das schnelle Geld garantieren. Welch andere Chancen haben sie?
Die Fragen nach der grassierenden violencia müssen sicher anders gestellt werden. Wer konsumiert? Wer profitiert vom Drogenhandel, von der Geldwäsche? Wo liegen die Ursachen der ökonomischen und politischen Schwäche der Demokratien Mittelamerikas? Sind es Spätfolgen des Kolonialismus und des US-Imperialismus? Müssen diese nicht aufgearbeitet und die Länder entschädigt werden? Warum kann Mexiko seine Probleme nicht meistern, wie steht es um die eigene Verantwortung, die omnipräsente Korruption und Misswirtschaft endlich unter Kontrolle zu bekommen? Warum kann man die Verstrickung von Staatsmacht und Drogenbossen nicht beenden? Ist Mexiko verurteilt, ein Exportland für Billigarbeiter zu sein? Sollte die Droge nicht endlich entkriminalisiert und legalisiert werden, wie eine Kommission ehemaliger Präsidenten und Intellektueller in Lateinamerika verlangt? Schon 2012 hielt Mario Vargas Llosa, eines der Mitglieder, fest: «Das Verbot der Droge hat nur dazu gedient, den Narco-Handel in eine schwindelerregende Wirtschaftsmacht zu verwandeln, und hat so Unsicherheit und violencia vervielfacht.»
Der Traum vom besseren Leben
Die zehn Kinder aus Mittelamerika, die Juan Pablo Villalobos interviewt hat, führen in den USA inzwischen ein neues Leben und scheinen es gut zu meistern – was nicht überrascht, wenn man daran denkt, was sie zuvor in der Heimat und auf dem Weg in die USA alles durchgestanden haben. Javier Zamora, ein junger Dichter aus El Salvador, der 1999 mit neun Jahren allein in den Norden floh, hat seine Erlebnisse im Band «Unaccompanied» (2017) in eindringlichen lyrischen Bildern festgehalten. Sie reflektieren eine Odyssee, wie sie Hunderttausende irreguläre Migranten und Jugendliche Jahr für Jahr wagen, um ihren Traum von einem besseren Leben zu erfüllen:
«It was dusk for kilometers and bats in the lavender sky,
like spiders when a fly is caught, began to appear.
And there, not the promised land but barbwire and barbwire
with nothing growing under it. (…)»
Die im Artikel erwähnte Literatur
Juan Pablo Villalobos: Ich hatte einen Traum. Jugendliche Grenzgänger in Amerika. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Berenberg, Berlin 2018. 96 S., ca. 32 Franken.
Jeanette Erazo Heufelder: Welcome to Borderland. Die US-mexikanische Grenze. Berenberg, Berlin 2018. 254 S., ca. 35 Franken.
Carmen Boullosa/Mike Wallace: ¡Es reicht! Der Fall Mexiko: Warum wir eine neue globale Drogenpolitik brauchen. Deutsch von Gabriele Gockel und Thomas Wolfermann. Kunstmann, München 2015. 284 S., ca. 30 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Francisco Cantú: No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Hanser, München 2018. 238 S., ca. 32 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Wendy Brown: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität. Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann. Suhrkamp, Berlin 2018. 260 S., ca. 40 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.
Alexander Gutzmer: Die Grenze aller Grenzen. Inszenierung und Alltag zwischen den USA und Mexiko. kursbuch.edition, Hamburg 2018. 216 S., ca. 32 Franken.
Javier Zamora: Unaccompanied. Copper Canyon Press, Port Townsend/Washington 2017. 88 S., ca. 22 Franken. Hier können Sie das Gedicht von Javier Zamora komplett lesen und eine Audioversion des Autors hören.
Michi Strausfeld ist Literaturvermittlerin, Herausgeberin zahlreicher Anthologien und Kritikerin. Von 1974 bis 2008 war sie im Suhrkamp Verlag verantwortlich für die iberoamerikanische Literatur, danach bis 2015 im S. Fischer Verlag. Sie lebt in Berlin und Barcelona.
Zur Fotografin und zu den Bildern in diesem Artikel
Kirsten Luce, 37, ist Fotografin. Ehe sie nach New York zog, lebte und arbeitete sie lange im Süden der USA, in Mexiko City und an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Ihre Bilder werden regelmässig in der «New York Times» veröffentlicht, zudem war sie bereits für «National Geographic», «GEO France» and weitere grosse Zeitungen weltweit tätig.
Die Bilder für diesen Artikel nahm sie aus einem Helikopter des Ministeriums für Innere Sicherheit der USA auf, die Homeland Security arbeitet mit der Grenzpolizei zusammen gegen illegale Migration.
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