Eine gutschweizerische Lösung
Zwei Männer stehen erstmals vor Gericht, der eine als Kläger, der andere als Beklagter. Knapp zwei Stunden später verlassen sie den Saal in Andelfingen ZH – ohne Urteil, aber versöhnt. Eine Geschichte, die helvetischer nicht sein könnte.
Von Brigitte Hürlimann, 29.08.2018
Ort: Bezirksgericht Andelfingen
Zeit: 16. August 2018, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: FV180002
Thema: Bauhandwerkerpfandrecht
Wer Schwielen an den Händen trägt, wer mit ehrlichem, fleissigem Handwerk zum Wohle der Gesellschaft beiträgt, dem gebührt Ehre und Schutz. Dieser Gedanke ist alt und hat auch im digitalen Zeitalter nichts an Bedeutung verloren; schon gar nicht in einem Land wie der Schweiz mit ihrer langen, mit Stolz gepflegten Handwerkstradition. Solches Gedankengut fliesst natürlich in die Rechtsordnung ein und geniesst bis heute erstaunlich viel Rückhalt. Ein Beispiel gefällig? Das Bauhandwerkerpfandrecht – ein gutschweizerisches Instrument, das vor wenigen Jahren vom Bundesgesetzgeber sogar noch ausgebaut und verstärkt wurde, dem gegenteiligen Ansinnen der Immobilienwirtschaft zum Trotz.
Genau darum, um das Bauhandwerk und eine damit verbundene, strittige Geldforderung, geht es an einem hochsommerlichen Donnerstagvormittag vor dem Bezirksgericht Andelfingen, im zürcherischen Weinland und an der Thur gelegen, einen Katzensprung von Winterthur und vom Rhein entfernt. Das kleinste und ländlichste Bezirksgericht des Kantons Zürich tagt mitten im Dorf, zwischen Kirche, Schloss, Mühlrad und Riegelhäusern, es residiert in einem markanten Amtshaus aus dem Jahre 1833 und ist vom Bahnhof aus in wenigen Gehminuten zu erreichen. Typisch Andelfingen, dass man auf dem kurzen Weg ans Gericht mindestens einen Traktor kreuzt und vom Dorfpolizisten höflich gegrüsst wird.
Ins Amtshaus hinein treten kurz nach 8 Uhr morgens zwei Herren, die sich nur knapp begrüssen und sonst keines Blickes würdigen. Schweigend nehmen sie im ersten Stock des Gerichtsgebäudes auf der Wartebank vor dem denkmalgeschützten Gerichtssaal Platz. Sie starren auf ihre Hände, es ist ihnen sichtlich unwohl in ihrer Haut. Beide werden sie später dem Leitenden Gerichtsschreiber Georg Merkli, der als Ersatzrichter im Einsatz ist, beteuern, sie stünden zum allerersten Mal vor Gericht – und sie hofften sehr, dass sich dieses Erlebnis nicht wiederholen werde.
Was ist geschehen?
Der Herr im kurzärmligen rot karierten Hemd und in den Bluejeans übernimmt den Part des Klägers. Er ist der Handwerker beziehungsweise der Auftragnehmer und Inhaber einer Bauhandwerksfirma. Für den anderen Herrn im Poloshirt und in der dunkelblauen Chino-Hose hat er Arbeiten ausgeführt, das heisst: von seinen Angestellten ausführen lassen. Der Beklagte ist in der beneidenswerten Situation, sich ein stattliches Einfamilienhaus mit Blick auf den Rhein leisten zu können. Der Bauhandwerker führt zu seiner grössten Zufriedenheit umfangreiche Arbeiten am Neubau durch, das Auftragsvolumen beträgt über 200’000 Franken. Zum Zwist zwischen Bauherrn und Handwerker kommt es erst, als es um die Gestaltung der Terrasse geht. Das Haus steht bereits, der Eigentümer wohnt schon drin, es ist Sommer, und er drängt darauf, dass es nun auch mit der Terrasse vorwärtsgehe. Da macht ihm der Architekt eine Änderung schmackhaft: Neu soll die Terrasse aus einem Holzkonstrukt bestehen, die ursprünglich geplanten Stahlträger werden überflüssig, dafür brauchts mehr als doppelt so viele Stützpfosten. Und sehr viel Holz.
Vertragsrechtlich gesprochen bedeutet dies: Der bereits unterschriebene Werkvertrag wird nachträglich abgeändert, was die Terrasse betrifft. Aufgaben fallen dahin, neue kommen hinzu, ein Ingenieur muss konsultiert werden, das Vorgehen und die Bauart sind ganz anders als vertraglich festgehalten. Und, man ahnt es bereits: Es kommt zu Mehrkosten. Der Handwerker sagt, er habe von Anfang an darauf aufmerksam gemacht, es habe ihm aber niemand zuhören wollen, in der Eile und im Bestreben, die Terrasse so schnell wie möglich herzurichten, was im Übrigen gelingt. Der Architekt akzeptiert danach anstandslos die Mehrausgaben und die Rechnung des Handwerksbetriebs, leitet diese an den Bauherrn zwecks Bezahlung weiter – und der Einfamilienhausbesitzer fällt aus allen Wolken.
Niemand, sagt er vor Gericht, habe ihn im Voraus darauf aufmerksam gemacht, das sei einfach nicht in Ordnung: «Die Arbeiten wurden einwandfrei ausgeführt, aber diese extremen Mehrkosten haben mich enttäuscht. Da hätte man doch zuvor miteinander reden müssen! Vielleicht hätte ich sogar eine Gegenofferte eingeholt.» Der Bauherr zahlt dennoch einen Grossteil der Mehrkosten, am Schluss geht es noch um eine Forderung von rund 3000 Franken, die offen bleibt. Weil er diesen Restbetrag partout nicht begleichen will, droht ihm nun die definitive Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts – das ist Thema der Gerichtsverhandlung in Andelfingen.
Das Bauhandwerkerpfandrecht ist ein Privileg der Handwerker und ein Albtraum der Hauseigentümer. Das hiesige Recht kennt das Instrument seit Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches, also seit über hundert Jahren. Sinn und Zweck des Bauhandwerkerpfandrechts ist folgendes: Der Bauhandwerker leistet seine Arbeit oft im Voraus, bevor er seinen Lohn kassiert und für die Unkosten entschädigt wird, er geht also ein finanzielles Risiko ein. Der Bauherr wiederum wird durch die Vorarbeit des Handwerkers bereichert. Kommt es zum Zwist über eine ausstehende Forderung, darf der Handwerker deshalb das von ihm wertvermehrte Gebäude belasten. Er bekommt ein Pfand zugesprochen, das ihm das Eintreiben der offenstehenden Beträge erleichtern und sichern soll und ihn vor einer allfälligen Insolvenz des Bauherrn schützt. Unseriöses Geschäften mit Immobilien und hochspekulatives Gebaren war schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Thema. Ein Dauerbrenner, sozusagen.
2012 ist in der Schweiz die revidierte Regelung des Bauhandwerkerpfandrechts in Kraft getreten. Neu werden auch Abbrucharbeiten, der Gerüstbau oder die Baugrubensicherung vom Privileg erfasst – zum Missfallen der Immobilienbranche. Diese steht dem Bauhandwerkerpfandrecht skeptisch gegenüber und betont das Doppelzahlungsrisiko des Bauherrn: wenn dieser die Rechnungen der Handwerksfirmen abmachungsgemäss bezahlt, die Firmen die Zahlungen jedoch nicht an ihre Subunternehmen weiterleiten. In einer solchen Situation dürfen auch die geprellten Subunternehmer das Grundstück belasten, und es ist der Bauherr, der die leidige Sache austragen muss.
Von alldem ist in Andelfingen aber nicht die Rede und eigentlich auch herzlich wenig umstritten. Wie gesagt, es geht nur noch um 3000 Franken für tadellos ausgeführte Arbeiten. Bauherr und Handwerker stehen sich im Gerichtssaal direkt gegenüber, ohne Anwälte; je länger die Verhandlung dauert, desto mehr entspannt sich die Atmosphäre. Richter Georg Merkli lässt beide Parteien ausführlich zu Wort kommen, navigiert sie behutsam durch das prozessuale Regelwerk, packt dann die Chance und macht den beiden Streithähnen einen Vergleich schmackhaft. In einer vorläufigen Einschätzung legt er dem beklagten Bauherrn und Einfamilienhausbesitzer dar, dass der Handwerker die besseren Argumente und Dokumente vorzuweisen habe und wohl eine reelle Chance bestehe, dass das Bauhandwerkerpfandrecht definitiv eingetragen werde.
Nach kurzem Hin und Her einigen sich Kläger und Beklagter auf folgenden Vergleich, der noch an Ort und Stelle beidseitig unterzeichnet wird: Der Bauherr zahlt bis spätestens Ende August die offenstehenden 3000 Franken und übernimmt die Kosten des Andelfinger Verfahrens. Der Handwerker wiederum übernimmt die bereits entstandenen Kosten des Grundbuchverfahrens und verzichtet auf jegliche weitere Forderung aus diesem Bauauftrag.
Zufriedene Gesichter im Gerichtssaal. Kläger und Beklagter verlassen das Haus, nicht ohne im Gang das Vorgehen des Richters in höchsten Tönen zu loben. Georg Merkli seinerseits gönnt sich einen Kaffee und trifft im Pausenraum auf Gerichtspräsident Lorenz Schreiber. Noch bis vor wenigen Jahren war Schreiber der einzige gewählte Richter Andelfingens, der ein abgeschlossenes Rechtsstudium mit ins Amt brachte; flankiert vom ebenfalls juristisch ausgebildeten Leitenden Gerichtsschreiber, der regelmässig als Ersatzrichter einspringt. Alle anderen Richter waren sogenannte Laienrichter – und sind es bis auf eine Ausnahme noch heute. Im Juni 2016 aber bestimmte das Kantonalzürcher Stimmvolk, dass dem Laienrichtertum ein Ende zu setzen sei. Bereits amtierende Laienrichter dürfen dennoch bleiben und sich auch der Wiederwahl stellen.
Als einziger Bezirk im Kanton Zürich stimmte Andelfingen für die Beibehaltung der Laienrichter, und auch Gerichtspräsident Schreiber betonte stets, seinetwegen und wegen des Bezirksgerichts Andelfingen müsse das Laienrichtertum nicht abgeschafft werden. Heute ist die Situation so, dass einer der Andelfinger Laienrichter aus Enttäuschung über das Abstimmungsergebnis sein Amt aufgab (dem Bezirksresultat zum Trotz) und durch einen Parteikollegen ersetzt wurde: ein Wirtschaftsanwalt, der in Zürich arbeitet, im Bezirk Andelfingen lebt, ein SVP-Mitglied, das gegen die Abschaffung der Laienrichter gestimmt hatte, ganz im Sinne der Parteiparole.
Der Jurist sitzt mit einem Zwanzig-Prozent-Pensum auf der Richterbank, wie die übrigen drei Teilamtsrichter auch, die Bäuerin, IT-Fachmann und pensionierte Sekundarlehrerin sind. Treten sie zurück, werden sie durch Juristinnen und Juristen ersetzt, so will es die neue Regelung im Kanton Zürich. Und all jenen Kreisen, die darob frustriert sind und den Verlust von gesundem Menschenverstand im Gerichtssaal befürchten (ein im Abstimmungskampf ständig vorgebrachter Slogan), sei empfohlen, eine Gerichtsverhandlung zu besuchen und herauszufinden, ob die Juristenrichter ihren Menschenverstand tatsächlich für immer und ewig an den Garderoben der Rechtsfakultäten abgelegt haben. Der Handwerker und der Bauherr, die sich seit dem Prozess in Andelfingen wieder in die Augen schauen können, werden von anderen Erfahrungen berichten.
Illustration Friederike Hantel