Sinnliche Erfahrung im öffentlichen Raum
Das renovierte Zürcher Museum für Gestaltung sieht wieder so aus wie bei seiner Eröffnung 1933. Ein Denkmal des Neuen Bauens – an dem die Geschichte spurlos vorbeigegangen zu sein scheint.
Von Serge von Arx, 28.08.2018
Die Stille um das Museum für Gestaltung mutet merkwürdig an. Ein Hauch von Euphemismus umweht das schlichte Gebäude.
Mit dem Tram kommt man vom Stadtzentrum her entlang der Limmatstrasse, seit der Westerweiterung Zürichs eine Hauptschlagader innerhalb der Stadt. Nur der Klingenpark, in der Art eines französischen Gartens, trennt die Haltestelle vom Museum. Der Kurzspaziergang bis zum Eingang fungiert dabei wie eine architektonische Ouvertüre: Die Fassade, grau in grau, präsentiert sich aus dieser Perspektive kontrapunktisch zum symmetrischen Park mit dem zentralen Springbrunnen als wohlproportioniertem, abstraktem Kunstwerk. Erhaben steht der Bau da.
Die Spuren seiner Geschichte sind getilgt. Das mag als Zynismus empfinden, wer die jüngere Vergangenheit des umgebenden Geländes miterlebt hat.
Blick zurück: Die wilden Jahre
Vor dreissig Jahren begrüsste ein täuschend offiziell anmutendes Halteschild mit der Aufschrift «ZUREICH» die Bahnreisenden unmittelbar vor der Einfahrt in den Kopfbahnhof der Bankenkapitale. Erst beim zweiten Blick offenbarte sich der Buchstabendreher auf dem Wohlgroth. Das besetzte Areal der Maschinenfabrik Oerlikon-Bührle war Anfang der 90er-Jahre ein Symbol des Widerstands gegen «den Kapitalismus» ganz pauschal und speziell gegen die beginnende Gentrifizierung, die sich alsbald gegen Westen erstreckte. Der Hauptbahnhof im Herzen Europas offerierte Direktverbindungen nach Hamburg, Wien, Mailand, Paris. Gleichzeitig war Zürich ein Ziel für Businesspartner aus den umliegenden Ländern – oder für Drogenkonsumenten. Sie versorgten sich hier mit Marihuana, Kokain, Heroin. Zürich, die europäische Hauptstadt des Drogenhandels.
Der malerische Platzspitz, wo Sihl und Limmat zusammenfliessen, wird nur durch das trutzig-historisierende Landesmuseum vom Hauptbahnhof getrennt. Im kleinen Pavillon unmittelbar daneben, heute ein asiatischer Imbiss, entstand einst die erste staatliche Spritzenabgabestelle. Der Platzspitz selber wurde zum Inbegriff einer ausser Kontrolle geratenen Drogenpolitik. Ein Moloch, wo Drogenhändler und Süchtige – häufig in Personalunion – zwischen machtlosen Polizisten in Zivil siechten und wo gut gekleidete Banker, die sich dem Mahlstrom noch entziehen konnten, ein- und ausgingen. Dem verklumpten Boden aus Erde, Spritzen, Zigarettenkippen und menschlichen Sekreten entstieg ein saurer Geruch von Hoffnungslosigkeit.
Eine Brücke verbindet die äusserste Ecke des Platzspitzes beidseitig mit dem Ufer. Damals war sie aus polizeilich-taktischen Gründen gesperrt. Jetzt führt sie wieder, wie einst, direkt zum Museum für Gestaltung. In den 80er-Jahren war dort die «Schule für Gestaltung» untergebracht, ein dynamisches Zentrum künstlerischen Treibens im Dreieck Platzspitz, Wohlgroth und dem nahen Limmatplatz, von wo die Langstrasse ins Red Light District abgeht.
Noch immer präsentiert die Bahnhofsumgebung ein multikulturelles Potpourri, mittlerweile aber zusammengesetzt aus Expats, Start-ups und Studierenden. Vergebens sucht man nach Zeichen der Vergangenheit, etwa einer Gedenkstätte für die Opfer der Drogenpolitik. Das Museum steht frisch herausgeputzt als stolze Inkunabel der modernen Architektur Schweizer Prägung da. Es beschwört – nicht mehr, nicht weniger – den geistigen Aufbruch herauf, der sich hier als Neues Bauen manifestierte.
Im Industriequartier
Das Gebäude entstand aus einem 1926 durchgeführten Architekturwettbewerb für ein Gewerbeschulhaus und ein Gewerbemuseum, und zwar im Industriequartier hinter dem Hauptbahnhof in der Nähe der Gas- und Flusskraftwerke, wo früher Abwässer geklärt wurden. Aufgrund des Zweifels, ob der Erstrangierte, Max Gomringer, seine vage ausformulierte Bauhülle auch würde realisieren können, kam es vorerst allerdings zu keiner Entscheidung (der Beitrag entstand heimlich, weil Gomringer gleichzeitig bei einem Architekturbüro unter Vertrag stand, das ebenfalls am Wettbewerb teilnahm).
Den zweiten Wettbewerb 1927 gewannen die Architekten Adolf Steger und Karl Egender. Sie hatten ihr ursprüngliches Projekt weiter ausgearbeitet, indem sie die volumetrische Komposition vereinfachten und deutlicher herausschälten. Der Schultrakt mit seinen grossen, gleichmässig im Raster angelegten Fenstern über vier Geschosse lehnt sich an die Industriearchitektur an und erinnert an das kurz zuvor fertiggestellte Bauhaus von Walter Gropius in Dessau. Als einfacher Kasten entlang der Limmat bildet er das Rückgrat zum halb so hohen Museumstrakt, der sich quer dazu in Richtung Klingenpark erstreckt. Die zwei Baukörper sind geometrisch klar voneinander getrennt, bilden aber dank Material und Fassadengestaltung eine Einheit. Im Innern setzen sich die Parallelen fort: Beide Volumen sind symmetrisch um Innenhöfe angelegt, flankiert von Korridoren, welche die Schul- oder Ausstellungsräume erschliessen.
Architektur und Design waren in der Zwischenkriegszeit im Umbruch, das Monumentale und das Dekorative erschienen nicht mehr zeitgemäss. Form, Material und Konstruktion sollten eine Einheit bilden, einzig der Funktion dienen und diese auch visuell ausdrücken. Die gebaute und gestaltete Umgebung musste sich den industriellen Prozessen und deren Beschleunigung anpassen. Funktionalismus und Rationalismus markierten relevante Entwurfsparadigmen. Deshalb waren die Lichthöfe des siegreichen Entwurfs für das Museum für Gestaltung dem jungen Architekturtheoretiker Sigfried Giedion ein konservativer Dorn im Auge, Ausdruck verschwenderischer Architektur. Seine Kritik, in der NZZ publiziert, brachte die Stadt und die Architekten dazu, den Entwurf entsprechend zu läutern.
Innen und aussen
Zwei Lager dominierten die Kontroversen in der ideologischen Architekturdebatte zwischen den Kriegen. Historisierende Positionen verteidigten den Erhalt von Schmuck an öffentlichen Gebäuden. Das Neue Bauen machte sich Einfachheit, Funktionalität und Ehrlichkeit im architektonischen Ausdruck zum Prinzip. Die Kunstgewerbeschule und das Kunstgewerbemuseum reihten sich klar ins progressive Lager ein – und nahmen in der Folge ikonografische Bedeutung an.
Zahlreiche Details zeichnen das Bauwerk als Unikat schweizerischer Architekturgeschichte aus. Nicht nur ist der Museumseingang aus der zentralen Achse der Frontfassade verlegt, sondern auch um neunzig Grad gedreht, unter den Vortragssaal. Der Zugang löst die Idee einer Tür als Schwelle auf und erweitert so den öffentlichen Raum ins Museum. Der leicht abgesenkte Garten schafft als Kontrapunkt zu den grosszügigen Dachterrassen des nun sechsgeschossigen Schultrakts einen Ort der Kontemplation und erhöht subtil den niedrigeren Museumsteil. Die starken Gesten der inneren Raumorganisation werden gebrochen, indem das zweiläufige Treppenhaus in der Flucht des Eingangs zum Foyer im ersten Obergeschoss führt, dessen raumhohe Verglasung die Sicht auf die Stadt freigibt.
Die damals üblichen urbanen Verhältnisse zwischen innen und aussen werden hiermit umgedreht. Symmetrie ist zwar nach wie vor ein Leitthema, die Achsen werden aber stets abgeknickt und verleihen der räumlichen Erschliessung Dynamik. Die Essenz der Architektur drückt sich nicht in den Baukörpern selbst aus, sondern im offenen, durch sie gestalteten Raum.
Glas und Beton
1933 wurden die Gewerbeschule und das Kunstgewerbemuseum eröffnet. Vor 14 Jahren ging die Liegenschaft in der Funktion als Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich von der Stadt an den Kanton über. Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten gewannen den Wettbewerb zur notwendigen Sanierung des Gebäudes. Trotz verschiedenster Nutzungsanpassungen während des jahrzehntelangen Betriebs war die Grundsubstanz erhalten geblieben. Die Rückführung zum Originalzustand verlangte keine grossen Eingriffe.
Wer das seit diesem Frühjahr neu eröffnete Museum für Gestaltung betritt, gelangt erst in die Eingangshalle. Eine spartanische Cafeteria, ein unprätentiöser Museumsshop: Der Fokus bleibt auf Architektur und Design gerichtet und wird nicht, wie so häufig im Museumsbetrieb, auf den Konsum gelenkt. Die grosszügige zweiläufige Treppe führt nach oben zum Vortragssaal, zur Bibliothek und zur Museumsverwaltung.
Hinter Glastüren öffnet sich die dreischiffige Museumshalle. Um sie herum läuft oben eine Galerie, auf der Designstücke aus dem Möbelfundus zum Verweilen einladen. Diese Galerie ist durch die – neue – Verglasung zwar vom Hauptausstellungsraum getrennt, eine optische Verbindung bleibt aber bestehen. Der harte architektonische Ausdruck der Halle mit ihrer markanten Tragstruktur aus Beton erinnert daran, dass Design immer im Spannungsverhältnis zwischen industriellen, funktionalen und damit wirtschaftlichen Prozessen steht. (Die Anfänge des Zürcher Kunstgewerbemuseums von 1875 und der Kunstgewerbeschule drei Jahre später richteten sich primär auf den Absatz handwerklicher Gebrauchsgüter.)
Licht
Die erste temporäre Ausstellung in der grossen Halle präsentiert (noch bis Ende September) eine Werkschau des Westschweizer Ateliers Oï. Die sich drehenden, pulsierenden, klappernden, reflektierenden und surrenden Objekte aus Papier, Pappe, Glas und Leder lassen die übliche Unterscheidung zwischen Kunst und Design kollabieren. Von den Wänden der niedrigeren Seitenräume strahlt kaltes blaues Licht über die Vitrinen. Der Mitteltrakt, in warmes Gelb getaucht, lenkt den Blick in die Höhe zu einem Blätterdach oder einem Schmetterlingsschwarm von weissen Papierschirmchen.
Aurel Aebi, Armand Louis und Patrick Reymond gründeten das Atelier Oï im Westschweizer Städtchen La Neuveville. Entstanden ist die Troïka, wie sie sich nennen, aus einer gemeinsamen Jazzband. 2002 gewannen sie im Architekturwettbewerb zur Schweizerischen Landesausstellung eine der vier Arteplages, an der Seite von internationalen Architekturkoryphäen. Swatch-Entwickler Nicolas Hayek beauftragte das Designatelier mit dem Bau einer Fabrik und verhalf ihm zum Aufstieg in die oberste Riege der Branche. Für Louis Vuitton entwickelten sie «Objets Nomades», für B&B Italia futuristische Luxusmöbel aus Abfall und für Foscarini lose zusammengefügte Lampen, die beim kleinsten Windhauch Harfenklänge von sich geben. Alle Designstücke überraschen durch das ungewohnte Zusammenspiel von Materialität und Formgebung.
Katalog zur Ausstellung: atelier oï. How Life Unfolds. Lars Müller Publishers, Zürich 2018. 384 Seiten, 511 Illustrationen. Fr. 48.90.
Das Verfremden natürlicher Materialien ist ein roter Faden durch die Ausstellung, deren Exponate immer wieder an japanische Traditionen erinnern. Die Gestalter des Ateliers Oï haben sich stets von der östlichen Handwerkskunst inspirieren lassen (und sogar den Griff eines Samurai-Schwerts designt). Sie hauchen den Dingen Leben ein und heben sie in die Schwerelosigkeit. So schaffen sie einen Dialog mit dem Haus, das sich selber zwischen massivem Eisenbeton und lichtdurchstrahlten Räumen artikuliert.
Auf elegante Weise manifestiert sich, dass die Design-Avantgarde der Schweiz – Stichwort: Einfachheit bis zum Minimalismus – nicht der Vergangenheit angehört. Obwohl das Atelier Oï die Schlichtheit feiert, kokettiert sein Design mit Brüchen, spielt mit Gewohnheiten und stellt diese sinnlich infrage. Die Werke sprechen das Kind in uns an.
Alltagsdesign
Im Untergeschoss wartet eine Wunderkammer: Der Raum erscheint als Sammelsurium von Artefakten aller Art. Welche Ordnung den unzähligen, eng an- und übereinander aufgereihten Dingen innewohnt, erschliesst sich erst nach und nach. Die Bahnhofsuhr ist ein Déjà-vu zwischen all den Kuriositäten. Sie unterstreicht, wie selbstverständlich eine Reduktion aufs Notwendige im Design ist.
Und was hat das Kleid von Issey Miyake hier verloren? Die Schweiz gesondert zu betrachten, ergibt keinen Sinn. Textil- und Kleiderdesign, aber auch Form und Farbe von Küchenausrüstung, Spielen, Verpackungen, Logos und Schriften: Alles, was uns umgibt, entsteht durch gestalterische Prozesse, die sich nicht national eingrenzen lassen.
Designgeschichte des letzten Jahrhunderts wird nebenan vermittelt. Eine Zeitreise führt durch Wohn- oder Esszimmer. Auch die Stühle, Tische, Sofas, Bücherregale, Lampen, Radios sind nicht alle schweizerisches Design. Vielmehr war es den Ausstellungsmachern ein Anliegen, internationale Wechselwirkungen aufzuzeigen. (Die Möbelkollektion besteht weitgehend aus einer Donation der Sammlungen von Arthur Rüegg und Ruggero Tropeano – mit den Objekten dieser an der Sanierung beteiligten Architekten vergegenständlicht sich im Museum auch ein Moment der Identifikation.)
Synergien für die Zukunft
Mit dem Anspruch, nicht einfach Designgeschichte zu verwahren und zu präsentieren, sondern auch eine Plattform für gegenwärtige Diskurse zu bieten, nimmt das Museum für Gestaltung eine Schlüsselposition ein. Seit deren Gründung ist es mit der Kunstgewerbeschule verbunden. Dass das Publikum, grösstenteils wohl Studierende, den Weg von der nun im Toni-Areal am Stadtrand domizilierten Zürcher Hochschule der Künste zurück zum Klingenpark findet, soll nicht einfach ein frommer Wunsch bleiben. Das Masterprogramm Art Education, Curatorial Studies stellt die richtigen Weichen: Es hat unter anderem die Realisierung von Ausstellungen zum Inhalt und bindet die Studierenden so bereits ans Museum.
Solche Verbindungen zwischen Museen, Akademien und Forschungseinrichtungen könnten jene Synergien schaffen, deren es in der Kunst, in der Architektur und im Design bedarf. Denn überall geht es um Reflexion von sinnlicher Erfahrung und Interaktion im öffentlichen Raum. Das Museum für Gestaltung ist eine potente Hülle vergangener Werte – auch des Aufbruchs. Ob es zum Inkubator für Entwicklungen wird, hängt von der Dialogbereitschaft ab. Auf allen Ebenen.
Serge von Arx studierte Architektur an der ETH Zürich. Er ist künstlerischer Leiter der Abteilung Szenografie an der Norwegischen Theaterakademie in Fredrikstad, regelmässiger Mitarbeiter des US-amerikanischen Theaterkünstlers Robert Wilson und Kurator bei der Quadriennale Prag. Ausserdem arbeitet er als Bühnenbildner, Ausstellungsgestalter und Architekt.