«Kommt das Thema Ausländer ins Spiel, wird nur noch geschrien»
Gewalt gegen Frauen sei für die Rechte erst dann spannend, wenn sie gegen Ausländer hetzen könne, sagt die SP-Nationalrätin Min Li Marti im Gespräch.
Interview von Daria Wild und Daniel Ryser, 22.08.2018
Nach der brutalen Attacke auf Frauen in Genf lud der «Blick» zum Streitgespräch: «Was hat die Gewalt gegen Frauen mit Migration zu tun?» Man dürfe die Diskussion über Gewalt an Frauen nicht auf die Ausländerfrage reduzieren, sagt die SP-Politikerin. Denn dass gewisse Männer Frauen hassen, hänge nicht allein davon ab, aus welcher Region oder Kultur sie stammen.
Der «Blick» machte publik, Sie hätten die Einladung zum Talk ausgeschlagen, und folgerte: Das sei typisch links. Sobald es um Ausländer gehe, sei man nicht bereit, sich einer ehrlichen Debatte zu stellen.
Daran ist so ziemlich alles falsch.
Warum?
Weil die Debatte, die der «Blick» führen wollte, nicht ehrlich war. Die Prämisse war falsch, und schon bei der Ausgangsfrage war klar, dass es nicht um eine sachliche Debatte zum Thema Gewalt gegen Frauen gehen sollte, sondern einzig darum, das Ausländerthema zu bewirtschaften. Der Vorwurf, man stelle sich nicht der Debatte, ist beispielhaft dafür, wie unehrlich der Diskurs verlaufen ist.
Erklären Sie das.
Betrachten Sie die Chronologie: Nach dem Vorfall in Genf haben linke Frauen Demonstrationen gegen Gewalt an Frauen organisiert. Darüber wurde zwar berichtet, in diversen Kommentarspalten aber war der Tenor klar: Die Feministinnen sollten mal nicht einen solchen Aufruhr machen. Tut nicht so blöd, hiess es. Männer seien im öffentlichen Raum viel häufiger von Gewalt betroffen. Dann sickerte gerüchteweise durch, dass es sich bei den Tätern um Ausländer handelt – und plötzlich konnte es von rechts nicht Aufruhr genug sein: Diese Gewalt sei ein massives Problem, hiess es jetzt, und zwar ein Problem von Männern aus gewissen Kulturkreisen, und am Schluss heisst es, das allergrösste Problem seien linke Frauen, die dieses Problem schönredeten. Als hätten jene Frauen nicht umgehend nach den Gewalttaten demonstriert. Eine Verzerrung der Tatsachen.
Hätten Sie das alles dem «Blick» nicht besser so gesagt, statt die Debatte auszuschlagen?
Ich hatte keine Lust auf ein Streitgespräch, bei dem ich mich eine Stunde lang zu etwas verteidigen muss, das einfach nicht stimmt: die angeblich falsche Toleranz linker Frauen, weil die Täter Ausländer seien. Man muss nichts schönreden, aber man muss differenzieren. Da steckt man sofort in der Defensive. Um jetzt doch noch darauf einzugehen: Mir ist keine Kultur bekannt, die es gutheisst, dass man Menschen im öffentlichen Raum fast zu Tode schlägt. Man muss derartige Vorfälle zum Anlass nehmen, darüber zu diskutieren, was konstruktiv getan werden kann, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Aber sobald das Thema Ausländer dabei ins Spiel kommt, wird nur noch geschrien.
Sie haben auf den Vorwurf «linker Realitätsverweigerung» getwittert, dieser sei ein Hohn gegenüber allen vornehmlich linken Frauen, die sich in zahlreichen Projekten gegen Gewalt an Frauen engagierten – während die Rechte auf politischer Ebene sich für das Thema nicht interessiere. Können Sie das ausführen?
Die meisten Projekte, die sich alltäglich gegen Gewalt an Frauen engagieren – das Fraueninformationszentrum (FIZ), Frauenhäuser, Opferberatungsstellen, Terre des Femmes –, sind aus linken und feministischen Kreisen gewachsen. Hier wird viel Arbeit geleistet unter zum Teil prekären Bedingungen. Die SVP wiederum hat im Parlament vor einem Jahr die Istanbul-Konvention des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen abgelehnt. Vorstösse im Parlament zu diesem Thema werden in der Regel von der rechten Ratsseite abgelehnt. In den Kantonen sind Präventionsprojekte und Frauenhäuser regelmässig Ziel von bürgerlichen Sparangriffen.
Sie sagen: Die Rechte interessiert das Thema erst, wenn es sich bei den Tätern um Ausländer handelt?
Ich sage, dass man es sich wahnsinnig einfach macht, wenn man sagt: Gewalt gegen Frauen ist ein Problem patriarchaler Ausländer. Man weist damit jede Verantwortung von sich: Das hat nichts mit uns zu tun. Bei der Waffeninitiative 2011 sprach man verniedlichend von Familiendramen, wenn ein Schweizer Mann mit dem Sturmgewehr die ganze Familie erschiesst. Es käme niemandem auf der rechten Ratsseite in den Sinn, von mehr als einem Einzelfall zu reden, davon, dass es kulturell bedingt sei, dass Schweizer Männer ihre Familie mit dem Sturmgewehr bedrohen oder töten.
Sie beklagen ein Diskursmuster. Kaum gehts um Gewalt an Frauen, gehts um Ausländer. Wie wollen Sie dieses Muster durchbrechen?
2015 reichte ich in der Stadt Zürich ein Postulat ein, dass die Polizei bei Meldungen die Nationalität der Straftäter nur noch nennt, wenn sie für die Tat relevant sind. Das machte Schlagzeilen, ich erhielt gehässige Mails. Dabei war es in diesem Land lange Praxis, dass man die Nationalität nur dann nennt, wenn ein direkter Zusammenhang mit dem Vorfall besteht. Auf Druck der Rechten begann man irgendwann, dies zu ändern. Zu Beginn wurde es medienethisch noch diskutiert, aber die Diskussion ebbte rasch ab. Seither übernimmt man ein Attribut, das in der Regel für die Straftat nicht relevant ist.
Warum ist die Nennung der Nationalität nicht relevant?
Die Nennung der Nationalität suggeriert einen Zusammenhang, der nichts erklärt. Die Religion nennt man ja auch nicht. Wenn es einen antisemitischen Überfall gibt, ist klar, dass man sagt, dass das Opfer ein Jude war. Aber wenn ein Mann jüdischen Glaubens eine Tankstelle überfällt, ist seine Religion für die Tat nicht relevant. Dann wird in der Diskussion Korrelation mit Kausalität verwechselt: Erwachsene, die über 1,75 Meter gross sind, verüben mehr Straftaten als kleinere – aber die Körpergrösse ist kein Faktor, der Kriminalität auslöst. Der Faktor Körpergrösse bildet nur ab, dass die Mehrheit der Straftäter Männer sind. Verbrechen werden in der Regel von jungen Männern mit niedrigem Bildungsstand und aus tieferen sozialen Schichten begangen. In der Tat sind hier Ausländer übervertreten. Aber über Bildung und sozialen Status steht in der Meldung über ein Verbrechen nichts. Es wäre erklärender, und es würde einen Hinweis darauf geben, wo man ansetzen könnte, um Kriminalitätsfaktoren in Gesellschaften zu verringern.
Dieses Argument stösst nicht nur bei Rechten auf Ablehnung, sondern auch bei einzelnen Feministinnen …
Es müssen auch nicht alle Feministinnen gleicher Meinung sein.
Nach den Vorfällen der berüchtigten «Kölner Silvesternacht» 2016 äusserte beispielsweise Alice Schwarzer die These einer «importierten Machokultur».
Und daraus wird in den Medien dann gleich ein Generationenkonflikt unter Feministinnen konstruiert, quasi ein Kulturkampf. Das würde ich bestreiten. Es gibt viele Fragen, die unter Feministinnen umstritten sind, bei denen ich selbst ambivalent bin. Bei der Prostitution zum Beispiel: Ich bin gegen ein Verbot und trotzdem ambivalent. Dasselbe beim Burkaverbot. Es geht nicht um Schwarz und Weiss, sondern eher um eine prozedurale Frage: Bei der Prostitution sind sich beide Seiten, die feministischen Befürworterinnen und Gegnerinnen eines Verbots, im Ziel einig: die Frauen zu schützen. Der Streit dreht sich um die Frage, welcher Weg der bessere ist.
Was sagen Sie zu Alice Schwarzers These?
Die ägyptische Journalistin und Feministin Mona Eltahawy hat 2015 einen Essay verfasst mit dem Titel «Warum hasst ihr uns so?». Sie bereiste islamische Länder, beschrieb unter anderem eine toxische, frauenfeindliche Kultur in Ägypten, die im Arabischen Frühling gezielt eingesetzt worden sei, um Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Mit Angrapschen zum Beispiel. Sie prangerte das konservative Frauenbild in diesen Ländern an. Und das kann durchaus ein Faktor sein, der bei den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht eine Rolle gespielt hat. Aber das heisst nicht, dass jeder Nordafrikaner ein Problem mit Frauen hat, und es heisst auch nicht, dass kein Schweizer ein Problem mit Frauen hat. «Grab ’em by the pussy» – das ist ein Ausspruch des Präsidenten der USA. Das toxische Frauenbild unter einem Teil seiner Anhänger war ein grosses Thema während seines Wahlkampfes: Eine grosse Bewegung weisser, junger, christlicher Männer, vermutlich mit guter Ausbildung, die einen extremen Frauenhass im Internet ausleben. Ich halte viel von Alice Schwarzer, aber hier widerspreche ich: Frauenverachtung ist nicht allein geografisch oder kulturell verortbar.
Was schlagen Sie vor, um dieses toxische Frauenbild zu bekämpfen?
Die Rechten sagen, die Linken seien täterfixiert, würden die Täter verhätscheln. Ich würde sagen, es sind die Rechten, die täterfixiert sind. Denn für die Opfer bewegt sich rechts politisch relativ wenig. Die SVP kürzte die Beträge beim Opferschutzgesetz, will bei Frauenhäusern sparen. Dabei müsste es in erster Linie um die Opfer gehen: Kriegen sie genügend Beratung? Kriegen sie genügend Kompensation? Aber das interessiert nicht, wenn man nur über Täter spricht, wenn man immer nur auf das Strafrecht fokussiert, das in den letzten Jahren sowieso massiv verschärft wurde, etwa auch durch die Ausschaffungsinitiative. Wenn man aber ein Bild in einer Gesellschaft grundsätzlich verändern will, muss man früher ansetzen. Dann braucht es in erster Linie viel Aufklärungsarbeit. Aber hier ist es wiederum die SVP, die sich querstellt. Wie bei der Diskussion in Genf heisst es etwa bei der Diskussion um häusliche Gewalt von rechts häufig, es brauche nicht nur Frauenhäuser, sondern auch Männerhäuser, denn auch Männer seien Opfer häuslicher Gewalt. Das ist ein typisches Ablenkungsmanöver.
Betreffend Strafrecht: In England hat eine Grafschaft «cat calling» in die Liste von «hate crimes» aufgenommen …
Was ist «cat calling»?
Nachpfeifen.
Ach so.
Worum es uns geht: Denken Sie, man kann oder soll den Wertekompass einer Gesellschaft über das Strafrecht verändern? Bringen Verschärfungen etwas?
Vor fünfzig Jahren war es in der Schweiz normal, dass man Kinder schlägt. Heute ist es gesellschaftlich geächtet, trotzdem kommt es noch vor. Hier bin ich durchaus der Meinung, dass man das Gesetz gesellschaftlichen Veränderungen anpassen muss, dass dies sinnvoll ist. Aber der entscheidende Schritt war, dass zuerst einmal ein gesellschaftliches Umdenken stattgefunden hat, das zur Ächtung dieses Verhaltens führte. Deshalb halte ich es für dringlicher, dass man auf Aufklärung setzt, damit solche Verhaltensweisen aussterben. Wenn man zum Beispiel Kindern beibringt, wie man sich gegenseitig respektiert, wird auch sexistisches Verhalten eingedämmt.
Zurück zur Diskursfrage. Warum dreht sich die Diskussion um Gewalt an Frauen so rasch um Ausländer oder Uneinigkeiten unter Feministinnen?
Weil sich die Männer aus der Verantwortung stehlen. Es ist krass, wie schnell Debatten bei diesen Themen eskalieren. Das jüngste Beispiel ist die Rede, die kürzlich die Juso-Präsidentin Tamara Funiciello gehalten hat: sieben Minuten gegen Sexismus in der Gesellschaft. In einem Nebensatz sagt sie, dass sie den Radiohit «079» persönlich als sexistisch empfinde. Sofort entsteht ein Shitstorm: Was ihr eigentlich einfalle. Und sofort wird sie sexistisch angegriffen. Ich frage mich, auch wenn ich den Song nicht sexistisch finde: Warum regen sich Leute dermassen darüber auf, dass sie das empfindet? Darf sie das nicht? Das wird dann sofort zum Kulturkrieg erklärt. Anderes Beispiel: Sexistische Beleidigungen gehören gerade in den sozialen Medien für Frauen zum Alltag. Das ist kein grosses Thema. Gleichzeitig regen sich reihenweise Männer fürchterlich auf wegen eines blöden Hashtags wie #MenAreTrash. Ich kriege den Eindruck, wenn Schweizer Männer selbst Rassismus und Sexismus erfahren, dann finden sie es plötzlich das Allerschlimmste. Aber wenn Frauen Sexismus thematisieren, sich gegen Sexismus wehren oder gegen Gewalt demonstrieren, heisst es: Tut mal nicht so blöd!
Min Li Marti ist SP-Politikerin, Verlegerin und Chefredaktorin der linken Wochenzeitung «P.S.». 2015 wurde sie in den Nationalrat gewählt, wo sie der Kommission für Rechtsfragen (RK) angehört.
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