Die zerbrochenen Spiegel von Aleppo
Von Barbara Villiger Heilig, 20.08.2018
Sonntagnachmittag, Rote Fabrik. Brennende Sonne, brüllende Hitze – arabisches Klima, quasi. Willkommen im wohltemperierten Halbdunkel der Aktionshalle!
Ich sitze an einem Tisch. Zwischen mir und der jungen Frau gegenüber ein Stadtplan: Aleppo. Wie die anderen Gäste habe ich vor dem Betreten der Halle ein Viertel ausgesucht, das ich nun in den Plan einpasse. Die junge Frau, eine Schauspielerin, wird in Kürze zu erzählen beginnen, wie das Leben in diesem Viertel war, damals vor der Flucht. «Aleppo – A Portrait of Absence» heisst die Performance oder Installation des syrischen Autors und Künstlers Mohammad Al Attar, der bereits vor zwei Jahren ans Zürcher Theaterspektakel eingeladen war.
Zehn Zuhörerinnen und Zuhörer sind wir, verteilt im Raum, alle an ihrem Tisch mit je einem Gegenüber. Die Stimmen ergeben ein Hintergrundgemurmel. Ich konzentriere mich auf die Geschichte von Marcelle, die aus «meinem» Viertel stammt. Erste Sätze klingen auf Arabisch aus dem kleinen Aufnahmegerät vor uns, danach übernimmt die Schauspielerin auf Deutsch. Sie spricht an Marcelles Stelle.
«Ich bin bei der Sankt-Elias-Kathedrale aufgewachsen», fängt sie an, «als Christin.» Sonntags wohnte Marcelle dem Gottesdienst bei, den ihr Vater als Priester zelebrierte (bei den Maroniten gilt das Zölibat nicht). Überhaupt spielte sich ihre Sozialisierung in der Kirchengemeinschaft ab. Die prunkvolle Kathedrale schildert sie wie in einem Kindermärchen. Marcelle verbrachte ihre Kindheit sorglos im Wohlstand. Mit der Pubertät kamen die Zweifel – neue Freunde wohnten in armen Quartieren. Schliesslich brach die Revolution aus, und Marcelle verlor ihre Mutter: Sie wurde erschossen von Anhängern der Baath-Fraktion.
Marcelle hat den Krieg erlebt, aus nächster Nähe. Schliesslich wählte sie das Exil. Mohammad Al Attar sammelt persönliche Biografien aus Aleppo, weil sie uns näher gehen als die News in den Medien. Er tut es auch aus der Überzeugung, dass die Erinnerung – an früher, an vorher – das Einzige ist, was bleibt von der unterdessen schwer zerstörten Stadt.
Nur: In meinem Fall bewirkt das Setting, so karg und apart es sich präsentiert, nicht jene Erschütterung, die Marcelle verdient hätte. Bin ich ausserstande, Empathie zu empfinden? Was hindert mich daran?
Mir fehlt die Distanz – zur Schauspielerin, die ihren Text spricht. Wir schauen uns in die Augen. Das allein schon erschwert die Konzentration. Auch würde ich gern unterbrechen, nachfragen, da und dort mehr erfahren. Das scheint aber nicht vorgesehen zu sein. Denn trotz der Ich-Form handelt es sich ja gar nicht um die Erfahrungen der Sprecherin – meine Fragen würden sie vermutlich in Verlegenheit bringen.
Am Schluss, bevor sie sich diskret verabschiedet, streckt sie mir das Aufnahmegerät hin mit der Bitte, meinerseits eine Erinnerung draufzusprechen, an Marcelle gerichtet. Ich sage Marcelle, dass ich vor zwanzig Jahren Aleppo besucht hätte, und bemühe mich, ein paar touristische Eindrücke aus dem Gedächtnis hervorzukramen. Dann fällt mir noch etwas ein: Auch ich, streng katholisch erzogen, ging als Kind jeden Sonntag zur Kirche, allerdings unfreiwillig.
Im Vergleich zu Marcelles tragischem Schicksal kommt mir das unsäglich banal vor. Und jetzt verstehe ich plötzlich, was der Sinn dieser kurzen Begegnung ist: dass wir uns spiegeln in einem zerbrochenen Glas.
Aleppo – A Portrait of Absence
Heute Montag findet die Performance von Mohammad Al Attar letztmals statt, allerdings sind alle Vorstellungen ausverkauft. Wer es auf gut Glück versuchen will: Rote Fabrik, Aktionshalle. Beginn jeweils um 18 Uhr, 19 Uhr, 20 Uhr, 21 Uhr.
Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese
Kulturredaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 16. bis zum 31. August übers Zürcher Theaterspektakel. Ihre Kolumne erscheint unter der Woche um die Mittagszeit. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge.