Der neue Chauvinismus
Sahra Wagenknecht lanciert die Bewegung #Aufstehen. Ihr Links-Nationalismus ist ohne Vorbild. Und gefährlich.
Von Daniel Binswanger, 18.08.2018
Quer durch Europa transformieren sich die nationalen Parteienlandschaften in schwindelerregendem Tempo. Auf der linken Seite des politischen Spektrums hat sich seit 2012 in zahlreichen Ländern die sukzessive «Pasokisierung» (will sagen: das Versinken in der Bedeutungslosigkeit analog der Pasok in Griechenland) der traditionellen Sozialdemokratien und das massive Erstarken linker Bewegungen beobachten lassen.
Auf der rechten Seite hat der unerbittlich sich ausbreitende Rechtspopulismus zwar bisher nur in einzelnen Ländern die Regierungsmacht erobern können, doch die konservativen Traditionsparteien geraten allenthalben dermassen unter Druck, dass er de facto in ganz Europa massiven Einfluss auf die politische Agenda nimmt. Was hier stattfindet, ist mit dem Schlagwort «Polarisierung» nicht hinreichend erfasst. Es handelt sich um eine grundlegende ideologische Neuorganisation.
Die Bundesrepublik Deutschland erschien lange als der politische Stabilitätsanker der EU, doch auch sie ist von diesem Transformationsprozess erfasst worden. Es ist atemberaubend, welche fundamentalen Veränderungen die deutsche Politiklandschaft bereits erfahren hat, seit im letzten September die AfD mit 94 Abgeordneten in den Bundestag eingezogen ist. Im unmittelbaren Nachgang zu den Wahlen herrschte in den Leitmedien die Ansicht vor, dass ein Wähleranteil von 12,6 Prozent zwar beunruhigend sei, dass die AfD aber minoritär sei und ihr faktischer Einfluss begrenzt bleiben werde.
Das hat sich als pitoyable Illusion erwiesen. Von der «Willkommenskultur» ist die deutsche Regierung gemeinsam mit den europäischen Partnern inzwischen zur Kriminalisierung der Seenotrettung übergegangen. Zwar gelingt es der begnadeten Taktikerin Merkel noch immer, sich an der Macht zu halten und ihre Feinde ins Leere laufen zu lassen. Freunde scheint sie im konservativen Lager aber nicht mehr viele zu haben.
Und jetzt also #Aufstehen von Sahra Wagenknecht. Wenn die deutsche Rechte in der Ära des Populismus angekommen ist, weshalb soll dann die deutsche Linke nicht die korrespondierende ideologische Radikalisierung durchlaufen? So wie in vielen anderen Ländern auch? Das wird wohl das Kalkül sein von Wagenknecht. Es dürfte richtig sein, dass links von der heutigen SPD ein politischer Raum zu besetzen ist, der von der Linken und den Grünen nicht ausgeschöpft wird. Allerdings wäre es erstaunlich, wenn ausgerechnet #Aufstehen ihn besetzen könnte. Und es wäre auch nicht wünschenswert.
Nach eigenem Bekunden will Wagenknecht eine überparteiliche Grassroots-Bewegung lancieren, die einer linken Agenda zu breiterer Akzeptanz verhilft. Diese Selbstbeschreibung ist jedoch einfach zu durchschauen. Was Wagenknecht de facto anstrebt, ist die Neugründung einer Partei, die eine breitere Basis für eine dezidiert linke Politik erreicht. Ihr Vorbild ist nicht Emmanuel Macron – wie das zum Beispiel von Heribert Prantl suggeriert wurde –, sondern Jean-Luc Mélenchon. Der nutzte sein Prestige nicht, um die linken Parteien zu «sammeln» und sich als ihr gemeinsamer Kandidat aufstellen zu lassen, ganz im Gegenteil: Er wollte eine linke Partei nach seiner Vorstellung aufbauen und damit die Sozialisten attackieren. Mélenchon ist angetreten, um zu spalten. Und das gelingt ihm auch hervorragend.
Die politischen Rahmenbedingungen sind in Frankreich jedoch völlig anders als in Deutschland. Was wird #Aufstehen ideologisch auszeichnen, das nicht bereits schon von der «Linken» vertreten wird? Es ist ausschliesslich die Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik. Zwar ist richtig, dass die zentralen Forderungen von Wagenknecht sozialpolitischer Natur sind, also «bessere Renten, höhere Löhne, eine Vermögenssteuer für Superreiche», wie sie in einem Interview mit der «Berliner Zeitung» zu Protokoll gab. Aber all dies sind Anliegen, welche die «Linke» seit langen Jahren erfolglos vertritt. Was diese Botschaft jetzt neu ergänzen und was ihr eine neue Dynamik verleihen soll, steht ausser Zweifel: die Kritik an «der grenzenlosen Willkommenskultur», das Insistieren auf den «Problemen, die bei hoher Zuwanderung entstehen». Wagenknecht will ihrer Basis mit einem zuwanderungsfeindlichen Nationalismus von links die nötige Popularität verschaffen. Es ist nicht auszuschliessen, dass hierfür ein politischer Raum entsteht. Aber es entspricht nicht der Strategie ihrer Vorbilder.
Mélenchon hat sich zwar europapolitisch sehr angriffig gezeigt. Doch seine Botschaft lautete nie: Ich bin gegen Europa. Seine Botschaft hiess immer: Ich bin gegen Europa, so wie es heute funktioniert. Natürlich bediente auch diese Geste einen nationalistischen Affekt. Natürlich ist es Mélenchons erklärtes Ziel, dem Front National seine Wähler abspenstig zu machen. Auch Jeremy Corbyns Labour-Party und die spanische Podemos sind EU-kritisch. Aber mit Wagenknechts direktem Buhlen um die AfD-Anhänger ist das nicht vergleichbar.
Auch in Deutschland, selbst nach der sogenannten Flüchtlingskrise, schlägt die Arbeitsmigration zahlenmässig viel stärker zu Buche als das Asylwesen. Trotzdem sind die Flüchtlinge das zentrale Politikum. Wenn die Kritik an der Wirtschaftspolitik der EU tatsächlich substituiert werden kann durch die Ablehnung der Flüchtlingspolitik, treten wir in eine neue Phase des Links-Nationalismus ein. Deutschland würde definitiv vom europäischen Stabilitätsanker zum Frontstaat des neuen Chauvinismus.
Es ist wohl unvermeidlich (und potenziell sehr positiv), dass links von der regierenden SPD eine neue politische Dynamik entsteht. Es wäre eine Katastrophe, wenn es die Dynamik von #Aufstehen wäre.
Debatte: Diskutieren Sie mit Daniel Binswanger
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Illustration: Alex Solman