Die Exilveteranin
Vor 30 Jahren floh Esen Isik aus der Türkei in die Schweiz. Heute ist sie gefeierte Filmemacherin. Und ist in der Schweizer Verbannung angekommen. Endgültig.
Ein Porträt von Solmaz Khorsand (Text) und Guadalupe Ruiz (Bilder), 03.08.2018
Ach, Thomas Mann. Immer kommen sie alle mit Thomas Mann. Als ob er die Schablone für alle Exilierten in der Schweiz wäre. Esen Isik verzieht den Mund. Klar musste auch Thomas Mann seine Heimat verlassen. Auch er war hier im Exil. Auch ihm hat das wehgetan.
Nur, war er eben auch Thomas Mann, der Literaturnobelpreisträger aus Deutschland mit der Villa in Kilchberg.
«Thomas Mann ist kein gutes Beispiel», sagt Isik. Die 49-Jährige nimmt einen Schluck von ihrem Milchkaffee. Es ist Freitagnachmittag, im Café Odeon am Bellevue in Zürich. An den Nebentischen draussen vor dem Café sitzen Italiener und Chinesinnen. Gierig löffeln sie aus ihren Eisbechern. Für sie ist das Odeon eine Touristenattraktion, eine schöne Kulisse, ein bisschen altes verschnörkeltes Europa.
Nicht für Esen Isik. Für sie bleibt das Odeon, was es früher war: Zürichs Schlupfwinkel der gestrandeten Intelligenzija. Hier ist das Exil im Exil. Dem zollt Isik ihren Tribut. So wie andere in der Kirche zur Bekräftigung ihres Glaubens einen Rosenkranz beten, trinkt sie im Odeon eine Tasse Kaffee.
Es ist eine Reverenz an ihresgleichen, auch wenn sich Isik längst nicht mehr zu ihnen zählt. Unverschämt wäre es, wenn sich eine wie sie noch als «Exilierte» bezeichnen würde. Sie ist keine Verbannte. Die Verbannten, das sind die anderen, die Akademikerinnen aus der Türkei, die Künstler aus Syrien, die Dissidenten aus Eritrea. Alle jene, die ihre berufliche Identität fürs Erste begraben müssen, um einmal Fuss zu fassen. Nicht Esen Isik, die kurdisch-alevitische Filmemacherin aus Istanbul, die mittlerweile zwischen der alten und der neuen Heimat pendelt. Mal hier und mal dort arbeitet. Es wäre Hochstapelei, wenn sie, die Schweizer Neostaatsbürgerin, sich in der Reihe der Verfolgten und Verstossenen wähnen würde.
Das gehört sich nicht. Das Label hat sie sich nicht verdient.
Dabei steht es ihr zu.
«Die ersten paar Monate waren gar nicht so schlecht»
Vor 30 Jahren kam Isik aus der Türkei in die Schweiz. 19 Jahre alt war sie damals, hatte ihren Schulabschluss in der Tasche und sechs Monate Gefängnis hinter sich. Sie hatte Flugblätter verteilt, auf denen sie gegen die Einzelhaft in türkischen Gefängnissen protestierte. Prompt landete sie deswegen selbst hinter Gittern. Die Behörden kannten sie bereits, die junge Frau, die in einer Studentenzeitung kritische Artikel zum Zustand der Republik schrieb. Isik lächelt. Eine gute Truppe waren sie dort in der Zeitung. Jung, kämpferisch, politisch durch und durch. Keine selbstverliebten Stubenhocker, sondern linke Haudraufs. Schule, Redaktion, Demo. Das war der Alltag. Etwas anderes kannten sie nicht.
Das Gefängnis hat Isik verändert. «Es war eine interessante Erfahrung», sagt sie heute nüchtern. Dennoch: Noch einmal wollte sie da nicht rein. Sie beschloss, das Land zu verlassen. Ihr Mann, den sie mit 16 auf einer Demonstration kennen gelernt und mit 18 geheiratet hatte, war politischer Flüchtling in der Schweiz. Sie folgte ihm.
Viel wusste sie nicht über diese Schweiz. Dabei war sie in ihrer Kindheit sehr präsent. Jeden Dienstag um 17 Uhr war die Schweiz eine halbe Stunde lang bei ihr im Wohnzimmer, dann, wenn «Heidi» lief. Es war der einzige Zeichentrickfilm, der damals im türkischen Fernsehen gezeigt wurde.
Da sollte sie nun also hin, in dieses Land mit den Bergen und den kleinen fröhlichen Mädchen. Isik erinnert sich noch gut an den Tag, als sie in der Schweiz, in Genf am Flughafen, ankam. Es war Ende April. Und es hatte geschneit. Auf ihrer Zugfahrt nach Basel, ihrem neuen Zuhause, musterte sie die Landschaft. Sie war aufgeregt. «Die ersten paar Monate waren gar nicht so schlecht», sagt sie. «Ja, die waren gar nicht so schlecht.»
Ihren ersten 1. Mai in der Schweiz wird sie nie vergessen. Sie hatte sich vorbereitet, extra bequeme Schuhe angezogen, um von der Polizei weglaufen zu können. So kannte sie es von zu Hause. In Istanbul war die Demo am 1. Mai verboten. Die Polizei schoss in die Menge. Und es gab Tote. «In Basel war alles entspannt. Es war ein Fest», erzählt sie und lacht, als könnte sie es nach 30 Jahren immer noch nicht glauben. Friedlich marschierte sie damals von der Rheinbrücke zum Marktplatz. Am selben Tag hat sie noch ihre Freundin in der Türkei angerufen und geschwärmt, in was für einem demokratischen Land sie doch gelandet sei. Eine gute Zeit war das damals. Am Anfang.
Doch rasch fühlte sich Isik in diesem demokratischen Land allein, verlassen, ja abgeschnitten von der realen Welt. Sie begann sich zu wundern über die Leute. Ihre Ahnungslosigkeit, ihre Kleinkariertheit, ihre Ignoranz gegenüber allem jenseits der Berge. Was hatte sie hier verloren? Sie weinte viel, schrieb Tagebuch und spazierte stundenlang am Rhein. Nur sie, ihre Gedanken und die paar Junkies, die sich am Ufer tummelten. Am Wasser fühlte sie sich wohl, bis heute. Es erinnert sie an Istanbul. Auch in Zürich muss sie mindestens einmal am Tag zum See, um ihre Sehnsucht nach ihrer Stadt zu stillen.
Zwischen Uni und Ausschaffung
Vor 30 Jahren reichte ihr das bisschen Geplätscher dafür nicht. Sie fühlte sich gefangen. Während ihr Mann zur Arbeit ging, blieb Isik zu Hause und wartete mit dem Essen auf ihn. «Was soll die Scheisse?», hat sie sich damals gedacht. «Ich war von mir selbst schockiert. Wer war diese Frau?», sagt sie heute und zieht an ihrer Zigarette. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Regisseurin wollte sie werden, nicht Heimchen am Herd. In Istanbul war sie bereits an der Filmakademie aufgenommen worden, bevor sie inhaftiert wurde.
In der Schweiz wollte sie das nachholen. Es war Zeit, die Frau zu werden, die sie immer sein wollte. Sie schrieb sich an der Zürcher Hochschule der Künste für Video und Film ein. Nebenbei arbeitete sie in Basel in einem Café und ehrenamtlich in einer Fixerstube mit Drogensüchtigen.
Ihrem Mann gefiel das nicht. Und er gefiel ihr nicht mehr. Sie trennten sich. Nur war ihr Aufenthalt in der Schweiz an ihrem Mann gekoppelt. Asyl hatte sie nicht beantragt. «Ich dachte, ich nähme jemand anderem den Platz weg.» Als Ehefrau eines Flüchtlings glaubte sie sich auf der sicheren Seite. Die Schweizer Behörden sahen das anders. Und wollten sie ausschaffen. Isik tauchte unter, jahrelang, bis ihr Anwalt ihr Bleiberecht erkämpft hatte. «Die Uni hat mich damals sehr unterstützt», erzählt sie. Für Isik war das damals eine Selbstverständlichkeit. Schliesslich hatte die Hochschule für ihre Studentin eine Verantwortung. Heute weiss sie, welche Chuzpe die Professoren gehabt haben müssen, um sich schützend vor sie zu stellen. Ob das heute noch möglich wäre? Ein wehrhaftes Unipersonal, das eine ausländische Studentin nicht bei den Behörden verpfeift? «Ich weiss es nicht», sagt Isik, «das waren schon starke Persönlichkeiten.»
Lange ist das nun her, fast so, als gehöre es zu einem anderen Leben. Seit 20 Jahren arbeitet Isik als Regisseurin, seit 16 Jahren ist sie Schweizer Staatsbürgerin und seit 15 Jahren Mutter einer Tochter, die sich ohne Wenn und Aber als Schweizerin begreift.
Und sie? Wann hat die Schweiz aufgehört, Exil zu sein? Hat sie es überhaupt? Esen Isik seufzt. «Exil, das sind für mich immer so wiederkehrende Gefühle», druckst sie herum. Die Schweiz hat in ihrer Logik nicht mehr Exil für sie zu sein. Diese Schublade ist anderen vorbehalten. So wie damals im Gefängnis, als Isik dachte, dass politische Gefangene ganz bestimmte Erfahrungen gemacht haben müssen, um sich so nennen zu dürfen. Nur wenn alle Parameter in ihren Augen exakt zutreffen, steht ihr auch ein bestimmter Titel zu. Vorher nicht.
Sie trinkt ihren Kaffee aus. Sie hat es eilig. Neben ihrer Sozialarbeit im Frauenhaus muss sie noch alles für ihren nächsten Film über radikale Islamisten vorbereiten. Diesen Sommer dreht sie wieder in der Türkei. Auch dieses Mal wird sie in Istanbul Halt machen. Und auch dieses Mal werden sie ihre Freunde nach 30 Jahren immer noch fragen: «Wann kommst du endlich zurück nach Hause?»
Für sie ist Isik immer noch die Verbannte.
Sie wiegt den Kopf und lächelt gequält. Wann sie wieder heimkommt? Ihre Antwort wird auf diese Frage immer dieselbe sein: Nie.
Debatte: Was bedeutet für Sie Heimat?
Aus welchen Fakten, Mythen und Legenden speisen Sie Ihr Schweiz-Bild? Was wurde in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten vergessen, was Sie als Teil des helvetischen Nationalcharakters definieren würden – im Guten wie im Schlechten? Was bedeutet für Sie Heimat?
Lesen Sie auch die anderen, unten angezeigten Artikel von Solmaz Khorsand, und unterhalten Sie sich heute Freitag von 13 bis 15 Uhr mit der Autorin sowie Michael Rüegg und Daniel Binswanger. Hier gehts zur Debatte.