Eltern, entspannt euch!
Stellen Sie sich einmal vor: Sie sind gar nicht so entscheidend für die Zukunft Ihres Kindes.
Von Sara Alfort (Text) und Doris Wöhncke (Übersetzung), 02.08.2018
Über den Begriff Eltern-Determinismus stolperte ich das erste Mal in einem Nebensatz einer Doktorarbeit über Schule-Elternhaus-Verhältnisse. Er war mir noch nie zuvor untergekommen. Aber jetzt, nachdem ich in die Tiefen des Eltern-Determinismus getaucht bin, über die intensive Elternschaft gelesen habe und darüber, wie sich unsere Sicht auf Kinder – und somit auch auf Eltern – in den letzten fünfzig Jahren radikal geändert hat, bin ich völlig aus dem Häuschen. Und zwei Dinge gehen mir nicht mehr aus dem Kopf:
1. Das erklärt einfach alles!
2. Warum in aller Welt habe ich vorher noch nie etwas davon gehört?
Früher suchten wir nach sozioökonomischen, biologischen, vielleicht sogar religiösen Erklärungen für verhaltensauffällige, kriminelle und psychisch instabile Kinder und Jugendliche.
Heute finden wir alle Antworten in der elterlichen Erziehung.
Eltern-Determinismus bezeichnet den Glauben daran, dass die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder grossziehen, eine direkte determinierende Auswirkung auf das zukünftige Leben der Kinder hat. Er nährt die von der amerikanischen Soziologin Sharon Hays schon vor zwanzig Jahren geprägte Begrifflichkeit der intensiven Elternschaft. Das heisst eine Elternkultur, in der erwartet wird, dass Eltern (vor allem Mütter) sagenhafte Mengen an Zeit, Energie und Geld für die Erziehung ihres Kindes aufbringen.
Eine Elternkultur, in der es heisst: Du hast die Macht, die Chancen im Leben deines Kindes zu verbessern oder zu verschlechtern. Don’t screw it.
Während ich obige Zeilen schrieb, postete die dänische Bildungsministerin Merete Riisager (Liberale Allianz) einen Kommentar auf Facebook. Sie kommentierte einen Artikel im Tabloid «Berlingske Tidende», gemäss dem ein paar Jugendliche Steine von einer Fussgängerbrücke geworfen hatten.
«Man übt keine potenziell verletzende Gewalt aus, bloss weil man sich langweilt. Das tut man, weil man zu Hause nicht gelernt hat, was falsch und was richtig ist», schrieb Riisager. «Das sind Eltern, die in ihrer Aufgabe völlig versagt haben.»
Der enorme öffentliche Fokus darauf, wie Eltern ihre Kinder erziehen, hat Alltagsdinge wie Mahlzeiten, Zubettgehen und das einfache Aufzeigen von Grenzen zu regelrechten Lehrsituationen formativen Charakters gemacht, in denen die praktischste Lösung nie gut genug sein wird.
Es gibt Tage, an denen ich nach einem Morgenmarathon von Kommandos voller Adrenalin ins Büro komme: Pack deine Tasche! Schmier dir ein Pausenbrot! Zieh dir die Strümpfe an!
Ich habe die Verantwortung
Denn ich habe schliesslich die Verantwortung dafür, ausgeruhte, satte und lernwillige Kinder in der Schule abzuliefern, mit den richtigen (!) Büchern im Ranzen, angespitzten Buntstiften (Wie ist es möglich, dass so viele Buntstifte einfach verschwinden?) und einem nährstoffreichen Pausenbrot. Dazu kommt noch genügend Obst für die kurzen Pausen (nicht zu gut verpackt, das halte nur auf, stand im letzten Rundbrief an die Eltern). Um acht Uhr morgens.
Ich habe auch die Verantwortung dafür, selbständige, robuste und wohlerzogene Kinder grosszuziehen, die selbst ihr Pausenbrot vorbereiten, ihre Tasche packen, die Cornflakes finden, eine Ausbildung durchlaufen und eine gute Arbeit finden. Das kann ich nicht alles für sie machen. Aber ich soll es ihnen beibringen. Vor acht Uhr morgens.
Und ich habe die Verantwortung dafür, empathische, starke Menschen mit innerer Ruhe zu formen, die Konflikte lösen, indem sie einen kühlen Kopf bewahren und ihren Mitmenschen mit Wärme und Vertrauen begegnen. Ich darf also nicht rufen, nicht schreien und um Gottes willen niemals den Kopf verlieren.
Genau deswegen sitze ich mit meinem Kaffee im Büro, während Adrenalin durch meine Adern pumpt, und denke mir neue Strategien für bessere Morgen aus und drücke die Daumen, dass sich gerade dieser nicht allzu sehr in die kleinen Gehirne einbrennt. Die zukünftigen Bürger unserer Gesellschaft forme ich morgen weiter, heute lieber nicht mehr.
Als ich also las, wie der Eltern-Determinismus meine Elterngeneration definiert, war das die reinste Katharsis: Er fasst genau in Worte, weshalb eine Kindheit heute ist, wie sie ist, weshalb Eltern das tun, was sie tun, weshalb unsere Gesellschaft so sehr von Erziehung besessen ist und weshalb meine Morgen immer so voller Adrenalin sind.
Eltern-Determinismus ist ein Paradigma, das wir gar nicht mehr hinterfragen. Wir fordern es gar nicht erst heraus. This blows my mind.
Lassen Sie uns also (noch mehr) über den Eltern-Determinismus sprechen.
«Eine unlösbare, belastende Aufgabe»
Wie entstand überhaupt die Idee des Eltern-Determinismus? Ich rief den Mann an, der diesen Begriff als Erster prägte. Der Soziologe und Professor emeritus Frank Furedi von der Universität in Kent hat eine ganze Reihe von Büchern herausgegeben. 2001 publizierte er das Buch «Paranoid Parenting», in dem er über das schreibt, was er den Mythos des Eltern-Determinismus nennt:
«Da die Fähigkeit der Kinder, Widerstand zu leisten, unterschätzt wird, intensiviert er die Angst der Eltern und ermutigt zu übertriebener Einmischung in das Leben der Kinder; indem die Notwendigkeit der Einmischung durch die Eltern für eine normale Entwicklung des Kindes überschätzt wird, macht er die Erziehung zu einer unlösbaren und belastenden Aufgabe.»
Furedi behauptet heute, dass diese Tendenz nicht zurückgegangen ist. Ganz im Gegenteil, so meint er, sei sie eskaliert. Es bereitet ihm Sorge, dass wir ein Bild etabliert haben, nach dem die Eltern der ultimative, alles überschattende Faktor in der Entwicklung der Kinder sind. Natürlich anerkennt er, dass die Eltern eine bedeutende Rolle in der Kindesentwicklung spielen, sein Punkt aber ist, dass Eltern nicht der wegweisende Faktor sind, der über die Zukunft des Kindes entscheidet.
«In vielem von dem, was über das erste Lebensjahr von Kindern geschrieben wurde, wird argumentiert, dass ein Kind nahezu ausschliesslich vom Input der Eltern abhängig ist und, sollte man diese kritische Periode verpassen, Eltern ihr Kind auf Dauer schädigen würden», erzählt er am Telefon.
Frischgebackene Eltern werden nahezu bombardiert mit Informationen über das Stillen und dessen Bedeutung für den IQ, die Gesundheit und die emotionale Bindung des Kindes. Dass das Kind Lernschwächen entwickeln kann, wenn es nicht ordentlich krabbeln lernt, bevor es mit dem Laufen anfängt. Dass das Kind möglichst viel getragen werden soll, um seine soziale Intelligenz zu stimulieren – jedoch nicht mit dem Gesicht zur Aussenwelt, da dies wiederum zu viele Stimuli bedeutet und es das Kind überfordern könnte.
Um Eltern-Determinismus zu verstehen, müssen wir über Risiken sprechen. Unsere Auffassung von Risiken hat sich geändert, und sie hat die Art und Weise geändert, wie wir Kinder sehen. Im Ausgangspunkt sehen wir Kinder grundsätzlich erst einmal «at risk», also einem konstanten Risiko ausgesetzt, auch wenn keine offensichtliche Gefahr besteht. Das bedeute, dass Eltern Risk-Manager geworden sind, behauptet Soziologin Ellie Lee, eine der Forscherinnen hinter dem Buch «Parenting Culture Studies» von 2014, das sich mit dem von Furedi erschaffenen Begriff auseinandersetzt.
Wenn das Kind grundsätzlich einer potenziellen Gefahr ausgesetzt ist, so ist es Aufgabe der Eltern, zu warnen, zu beschützen und diese Gefahr abzuwehren. Deshalb überwachen Eltern auch jeden Schritt ihres Kindes. Greifen sie ein, ersparen sie dem Kind das Gefühl der Niederlage. Dies definiert die Rolle der Eltern aufs Neue und gibt ihr einen deterministischen Dreh.
Hierzu habe ich neulich ein wunderbares Beispiel gesehen:
Ein etwa sieben Jahre alter Junge stand auf zwei aufeinandergestapelten Milchkästen. Sein Vater stand gleich daneben und bat ihn, herunterzukommen. «Bevor du noch fällst und dir wehtust», sagte er. Der Junge blieb auf den Kästen stehen, und schliesslich hob der Vater den Jungen herunter. «Die Milchkästen können umkippen», sagte er.
Der Junge war keinem Risiko ausgesetzt gewesen, sich ernsthaft zu verletzen. Im schlimmsten Fall hätte es einen blauen Fleck gegeben. Das tatsächliche Risiko war also überschaubar. Wichtiger aber noch war: Der Vater sah es als seine Aufgabe an, und nicht als die des Jungen, das Risiko einzuschätzen und ihn nicht seine eigenen Erfahrungen mit umkippenden Milchkästen sammeln zu lassen.
Der Vater sah keinen Jungen, der nur spielen wollte, sondern ein Kind in einer potenziellen Gefahr, und das zeigt eine radikale Veränderung in der Sicht auf das Kind und die Aufgabe der Eltern. Diese neue Auffassung von Risiko hat den physischen Wirkungskreis von Kindern verändert.
Ständiger Fokus auf das Risiko
Spielplätze werden umgebaut zu gummibelegten Sicherheitsanstalten, der Radius, in dem sich Kinder frei, ohne die Überwachung der Eltern, bewegen können, ist sehr begrenzt. Wissenschaftliche Untersuchungen über die ständigen Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind, erscheinen im steten Strom: Vor kurzem gab die American Academy of Pediatrics eine Studie heraus, die zeigt, dass es ein höheres Verletzungsrisiko gibt, wenn ein Kind auf dem Schoss eines Erwachsenen einen Hang herunterrutscht – es ist also gefährlicher, mit einem Elternteil zu rutschen als allein.
Okay. Wir sind uns also der Risiken bewusster geworden. Aber warum eigentlich? Der deutsche Denker Ulrich Beck hat aufgezeigt, dass die moderne Gesellschaft besonders gerne über jene Risiken diskutiert, sie behandelt und verhindert, die sie selbst geschaffen hat. Die moderne Gesellschaft ist zu einer Risikogesellschaft geworden, die sich ihre Risiken selbst erschafft.
Früher war der Mensch ein Element in einer Reihe von äusserlichen strukturierenden Elementen. Familien, Traditionen, soziale Normen, Klassenunterschiede und religiöse Werte prägten den weiteren Lebensweg eines Kindes. Die Strukturen ergaben einen Werterahmen, der uns den Unterschied zwischen richtig und falsch aufzeigte. Heute aber finden wir keine Weisheit oder Autorität in Wertesystemen. Wir bekommen diesen Werterahmen nicht mehr automatisch als Beigabe zur Geburt.
Wenn wir aber keine Antwort mehr auf richtig oder falsch haben, entsteht ein Vakuum, auf das wir eine Antwort im Ungewissen finden müssen – und die Antworten, die wir dort finden, werden zur Norm.
Heute bietet eine überwältigende Menge an wissenschaftlichen Untersuchungen Antworten. Sie behaupten, dass Eisenmangel in der Stillzeit zu einem erhöhten Risiko für Autismus führt, dass mehr als zwanzig Minuten im Kindersitz den Rücken des Kindes schädigen können, dass es negative Auswirkungen auf das Gehirn des Kindes hat und seine spätere Fähigkeit, Stress zu bewältigen, beeinträchtigt wird, wenn es sich allein in den Schlaf weint.
Wenn wir keinen historischen und kulturellen Rahmen mehr dafür haben, was richtig oder falsch ist, verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was wissenschaftlich bewiesen, und dem, was einfach nur allgemeine Auffassung ist.
Die wahnsinnigen Mengen an Fakten, Expertenratschlägen und wissenschaftlichen Untersuchungen (die sich gerne auch widersprechen können) schaffen richtige und falsche Arten, Eltern zu sein – und zwar nicht mehr nach beispielsweise protestantischen Massstäben, sondern danach, wie Eltern den Myriaden von (selbst erschaffenen) Risiken begegnen, denen Kinder ausgesetzt sind. Mit anderen Worten:
Die Abwesenheit eines moralischen Werterahmens hat einfach alles zu einer moralischen Landschaft gemacht.
Während man früher schlechte Eltern daran erkannte, dass sie ihren Kindern gar kein Essen gaben, sollten Kinder heutzutage am besten ökologisches, nährstoffangepasstes Essen bekommen, das sie selbst mit zubereitet haben. Das verändert die Skala der Moral grundlegend.
Ein Beispiel für die verschwimmende Grenze zwischen Fakten und Moral ist unser Verhältnis zur Stillfrage. Charlotte Faircloth, die einen Doktorgrad in Sozialanthropologie innehat und die Kultur rund ums Stillen erforschte, berichtet am Telefon, dass Babys, die gestillt wurden, tatsächlich gesünder sind.
Es ist aber auch richtig, dass die meisten Frauen, die stillen, aus der Mittelklasse stammen, also grundsätzlich gesünder und bessergestellt sind als ein grosser Teil der Bevölkerung. Und wir wissen nicht, so Faircloth, ob es die Lebensumstände der Kinder sind oder ob es das Stillen ist, das sie gesünder macht als andere Kinder. Nicht zuletzt ist die Frage rund ums Stillen selbst voller moralischer Vorurteile.
Was ist also der Grund dafür, dass Eltern für alles, was dem Kind passiert, sowie für hypothetische Gefahren verantwortlich gemacht werden? Offensichtlich ist die Verantwortung der Eltern individualisiert worden. Es bedeutet aber auch, dass die Rolle der Eltern auf die Gebiete ausgeweitet wurde, in denen früher die Gesellschaft das Verantwortungsmonopol hatte.
«Wenn die Gesellschaft immer weiter fragmentiert und privatisiert wird», erzählt Furedi, «wird eine immer grössere Bürde auf die Schultern der Eltern übertragen.»
Er erwähnt zum Beispiel auch, dass das Schulsystem bezüglich der Schulbildung der Kinder immer höhere Anforderungen an die Eltern stellt. Die schulische Ausbildung der Kinder hänge davon ab, dass die Eltern mit ihren Kindern zusammen lernen, deren Hausaufgaben kontrollieren und sich mit den Rundschreiben der Schule aktiv auseinandersetzen.
«Das Schulsystem involviert die Eltern als Assistenten, es wird erwartet, dass sie ihre Rolle verantwortungsvoll ausüben. Es ist fast so, als würden auch die Eltern wieder die Schulbank drücken», sagt er.
Diese Ausweitung der Elternrolle, das Bewusstsein ob der vielen Risiken und die Individualisierung der elterlichen Verantwortung haben bei den Eltern einen nicht zu stillenden Hunger nach greifbaren Ratschlägen von Experten und wissenschaftlichen Untersuchungen ausgelöst.
Eine, die sich zu diesem Verlangen nach Expertenrat in Erziehungsfragen auf konkrete Zahlen berufen kann, ist Sofie Münster. Sie schrieb den Bestseller «Cleverness muss man üben» und ist ehemalige Direktorin des Løkke-Fonds der DrengeAkademie in Kopenhagen.
Im Dezember 2014 ging sie mit ihrer Website raisinglearners.dk online. Dort veröffentlichte sie Artikel mit greifbaren Ratschlägen zur Kindererziehung, basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Schon nach einem Monat hatten 70’000 Däninnen ihre Artikel gelesen.
«Das hat grossen Eindruck hinterlassen, und ich wollte mich noch mehr mit der Thematik auseinandersetzen», erzählt sie, als ich sie anrufe. Schon im ersten Halbjahr schrieb sie mehrere Artikel pro Woche und hatte etwa 200’000 Leser im Monat.
Vor einem Jahr relaunchte sie ihre Website unter dem Namen «Nopa, Nordic Parenting» und begann, täglich Artikel zu veröffentlichen. In den besten Monaten hat sie rund eine halbe Million individueller Leserinnen.
Einer der am häufigsten gelesenen Artikel trägt den Namen «Die perfekte Antwort, wenn Ihr Kind ‹Ich kann das nicht› sagt». Der Artikel wurde innerhalb 24 Stunden über 100’000-mal gelesen und wurde über 22’000-mal in sozialen Medien geteilt. (Antwort: Sagen Sie nicht: «Doch, du kannst es», sondern: «Du kannst es noch nicht.»)
Ein weiterer Artikel, der sehr viel gelesen wurde, heisst «Grosseltern, die auf ihre Enkel aufpassen, leben bis zu fünf Jahre länger» und wurde über 70’000-mal in sozialen Medien geteilt. Die Leserinnen sind hauptsächlich Frauen.
«Wir wollen so gerne besser sein, und vielen fällt es schwer, die Balance zwischen Ausprobieren und ‹Nein bedeutet wirklich Nein› zu finden. Es ist schwierig, Liebe zu geben und das Kind gleichzeitig zu fördern», erzählt Münster.
Die Nachfrage nach konkreten Anweisungen, wie man die Aufgabe des Elternsein löst, ist anders gesagt ausserordentlich gross (kürzlich stolperte ich über den Buchtitel «Discipline Without Damage – How to Get Your Kids to Behave Without Messing Them Up»), und sie hat einen wahren Mount Everest von Büchern über Kindererziehung erschaffen.
Ein Blick auf die steigende Anzahl Bücher, die das Wort «parenting» enthalten, zeigt, dass Erziehung zu einem Big Business geworden ist. Er erzählt aber noch eine andere Geschichte: nämlich, dass sich unser Verständnis von Kindheit im Laufe der letzten hundert Jahre fundamental geändert hat.
Das Bewusstsein dafür, dass Kinder Aufmerksamkeit brauchen und man auf sie besonders gut aufpassen muss, verbreitete sich zeitgleich mit der Überzeugung, dass das, was Eltern tun, Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder hat. Diese Idee entstand im 19. Jahrhundert, als sich mit der Industrialisierung auch die Kernfamilie durchsetzte. Familien bekamen weniger Kinder, ihre Lebenserwartung stieg, und sie wurden immer weniger als Arbeitskräfte eingesetzt.
Der explizite Fokus auf Eltern und ihr Verhalten entstand erst im 20. Jahrhundert, als die Zahl der Bücher darüber, wie Eltern Eltern sein sollten, wuchs. Auch im Bücherregal meiner Eltern stand Penelope Leachs Bestseller «Die ersten Jahre deines Kindes» von 1977.
Auftritt der Entwicklungspsychologie
Eigentlich ergibt das gar keinen Sinn. Die Sintflut an Elternratgebern und die intensive Elternschaft traten etwa zur gleichen Zeit auf wie der verstärkte Eintritt von Frauen auf den Arbeitsmarkt. Logisch gesehen hätten Frauen damit weniger Zeit für ihre Kinder haben müssen. Das Gegenteil aber ist der Fall: Kinder verbringen heute mehr Zeit mit ihren Eltern als noch 1981.
(Lesen Sie etwa auch: «Kinder statt Putzen»: Warum Schweizer Eltern kaum weniger unbezahlte Arbeit leisten als früher – obwohl viele Frauen deutlich mehr Stunden erwerbstätig sind.)
Damals ist aber auch noch etwas anderes passiert: In den 1970er-Jahren trat die kognitive Entwicklungspsychologie endgültig auf die Bühne der Populärwissenschaften. Diese Entwicklung hatte schon in den 1950er-Jahren begonnen, erreichte aber in den 1970er-Jahren neue Höhen, als der englische Begriff «to parent» Einzug in das Vokabular junger Eltern erhielt.
Mit dem wachsenden Interesse für Entwicklungspsychologie richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der ersten Lebensjahre des Kindes: Mein Einfluss auf die ersten Jahre meines Kindes wird einen Einfluss auf die gesamte Zukunft meines Kindes haben. Genau das ist, laut den Autoren von «Parenting Culture Studies», der Grund für den heute so weit verbreiteten Eltern-Determinismus. Und dies ist zutiefst problematisch.
«Was wir mit dem Buch sagen wollen, ist nicht, dass Versäumnisse und Traumata unwichtig sind – sie haben selbstverständlich einen Effekt darauf, wie Menschen später werden. Aber die Besessenheit rund um das Elternsein ist dabei ausser Kontrolle geraten», sagt die Soziologin des Londoner University College Charlotte Faircloth.
«Es gibt viele Mittelklassefrauen, die sich darüber Sorgen machen, ob ihr Kind vielleicht doch zu früh das eigene Bettchen bekommen hat oder ob sie länger hätten stillen sollen, ob sie genug mit dem Kind sprechen oder dessen sprachliche Entwicklung gar schon hinterherhinkt», erklärt sie übers Telefon.
Die intensive Elternschaft wurde aus der Entwicklungspsychologie heraus geboren. Die Ansprüche an Zeit, Einsatz und Emotionen der Frauen lassen sich viel leichter nachvollziehen, wenn das Verhalten der Frau einen lebenslangen Schaden am Gehirn des Kindes verursachen kann.
Aber gilt diese Besessenheit vom Stillen, vom perfekten Übergang zum eigenen Bettchen oder von der Wortschatzentwicklung wirklich für alle oder nur für eine bestimmte Gruppe von Eltern?
«Nein, sie gilt nicht für alle», so Faircloth. «Wir beobachten die intensive Elternschaft besonders bei Mittelklassefrauen, die gebildet genug sind, um wissenschaftliche Untersuchungen zu lesen, und sich diese Sorgen um die optimale Entwicklung leisten können.»
«Aber», fährt sie fort, «diese Form der Elternschaft, die die Entwicklung des Kindes optimiert, ist besonders in Experten- und Politikerkreisen verbreitet. Die intensive Elternschaft wird so von politischer Seite her in der Gesellschaft verankert und färbt dann auf die anderen ab.»
Das dänische Sozialamt bietet unter anderem den Elternkurs «Die unglaublichen Jahre» an, der «die Kompetenz der Eltern stärken soll, die grosse Bedeutung für die Entwicklung des Kindes hat». Und auch das Bildungsministerium fordert alle Eltern dazu auf, aktiv und verantwortungsvoll für eine gute Schulbildung des Kindes zu sorgen, denn «der schulische Alltag baut auf einer sicheren und guten Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern auf».
Auch wenn Faircloth einen positiven Effekt sehen kann, so ist sie gleichzeitig zutiefst besorgt. Denn wenn Politiker Bürger dazu auffordern, «mehr Mittelklasse zu sein und ihre Elternschaft zu intensivieren», wie sie es formuliert, lenke es den Fokus von grösseren Problemen ab.
«Wenn Kinder Schwierigkeiten haben, ist der Grund dafür häufig, dass Schulen nicht gut genug sind, ihnen zu wenig Geld zur Verfügung steht oder es keine vernünftigen Transportmöglichkeiten gibt. Es ist nicht zwingend deshalb, weil ihre Mütter sie nicht gestillt haben», sagt Faircloth, die von britischen Verhältnissen ausgeht, aber trotzdem den Kern der Sache trifft:
«Wir laufen meiner Meinung nach Gefahr, den Müttern die Schuld für etwas zu geben, was eigentlich das Problem einer ungleichen Gesellschaft ist.»
Nur eine kurze Pause
Letztes Jahr interviewte ich Professor Per Schultz Jørgensen über die Notwendigkeit, Kinder robuster werden zu lassen. Während des Interviews machte er folgenden Kommentar: «Es wäre wahrlich erfrischend, wenn wir nur eine kurze Pause von jenen Menschen bekämen, die sich eine Meinung darüber bilden, wie andere Eltern ihre Aufgabe erfüllen.»
Dieser Kommentar macht deutlich, wie satt wir dieses Thema haben. Und sie begegnet mir immer wieder: die Eltern-Bashing-Sattheit. Denn heutzutage haben wir nicht nur einen extremen Fokus auf Kindererziehung. Influencer, Politiker und die Eltern anderer Kinder haben auch viele starke Meinungen darüber, was Eltern überhaupt zu tun haben (und das ist meistens etwas anderes, als das, was sie tatsächlich tun).
Im Zuge der wachsenden Intensivierung des Elternseins sind auch immer mehr Gegenbewegungen entstanden. Auf den Debattenseiten der Zeitungen übertrumpfen sich Kritiken an Helikoptereltern, Aufforderungen, doch endlich mal loszulassen, die Kinder mehr Risiken auszusetzen, sie robuster zu machen, sie ihre eigenen Fehler begehen zu lassen, dafür zu sorgen, dass sie ihre Schultasche selbst tragen und ihren eigenen Zeltplatz auf dem Roskilde-Festival aussuchen.
Diese Kritik aber baut auf genau demselben Grundpfeiler auf wie die intensive Elternschaft: Was Eltern tun (oder nicht tun), entscheidet über die Zukunft des Kindes. Wenn Kritiker Helikoptereltern auffordern, ihre Kinder robuster werden zu lassen, setzt das genau die gleiche Vorstellung davon voraus, wie viel Macht Eltern haben, die Chancen im Leben des Kindes zu verbessern oder zu verschlechtern.
Dies wiederum setzt den Gedanken voraus, dass die Eltern selbst ein Risiko für ihre Kinder darstellen. Das Argument lautet, dass, wenn man sein eigenes Kind übermässig beschützt, es in Watte packt und jedes Mal eingreift, wenn es hinfällt, es eine determinierende Bedeutung für das Kind haben wird. Es ist also eine Aufforderung, Kinder vor dem eigenen, übertriebenen Schutz zu schützen, und das ist genauso fatal wie die intensive Elternschaft, die sie so inbrünstig kritisieren.
Die Kritik an Helikoptereltern nähre die Schuldfrage bezüglich der Eltern nur noch mehr, anstatt die gesellschaftliche Quelle des Problems zu adressieren, argumentiert die Soziologin Jennie Bristow in «Parenting Culture Studies».
«Diese Schuldzuweisungen an die Eltern werden immer normaler, sodass die Sorge um den übertriebenen Schutz der Kinder immer mehr auf vermeintliche Probleme mit den Eltern abzielt», schreibt Bristow.
Aber vielleicht sind die Eltern ja gar nicht das Hauptproblem? Wie ein Echo auf Charlotte Faircloth schrieb die Leitende Wissenschaftlerin des dänischen Nationalen Forschungszentrums für Wohlfahrt, Mai Heide Ottosen, in einer Chronik in der dänischen Zeitung «Berlingske» letzten Sommer, dass die Art und Weise, wie die Mittelklasse Dänemarks ihre Kinder erzieht, gar nicht das grösste Problem dieser Thematik sei.
Das grösste Problem sei die Gruppe von Kindern und Jugendlichen – und zwar aus allen Gesellschaftsschichten –, die Misshandlung, Missbrauch, psychischen Krankheiten oder Kriminalität ausgesetzt sind. Mai Heide Ottosen meint, dass die Kritik an Helikoptereltern vom eigentlichen Problem ablenke, und «das ist also nicht etwa zu viel Liebe oder Zuwendung, sondern das grosse Gesellschaftsproblem».
Was also tun? Wenn wir dem Eltern-Determinismus nicht den Rücken kehren können, ihn aber auch nicht kritisieren dürfen, ohne ein Teil des Problems zu werden – was ist dann die Lösung? Das war meine Frage an Charlotte Faircloth.
«Es geht darum, einen neuen Rahmen für Gespräche zu kreieren, andere darin zu bestärken, dass ihre Kinder sicherlich zurechtkommen werden, und anzuerkennen, dass grössere soziale Kräfte mitspielen als nur der eigene Einsatz für das Wohlergehen des Kindes», sagt sie.
«Und von einem politischen Gesichtspunkt aus ist es dringend nötig, weniger Wert auf das zu legen, was einzelne Individuen mit ihren Kindern machen, und mehr auf Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser zu achten. Es geht darum, eher herauszuzoomen und das Ganze zu betrachten, als hineinzuzoomen auf das Einzelne.»
Auf meiner Jagd nach einer Lösung dafür, wie wir den Klauen des Eltern-Determinismus entkommen können, stolperte ich über eine Aussage, in die ich mich gleich verliebte:
«Um Kindern Platz zum Spielen geben zu können, müssen wir anerkennen, dass der Eltern-Determinismus ein Mythos ist. Das, was uns zu dem macht, was wir sind, ist eine komplexe Kombination von Erfahrungen und Relationen, und nicht einmal die intensivsten Eltern können für die Sicherheit ihres Kindes garantieren oder voraussagen, wie ihr Kind werden wird. Dem Kind Freiheit zu geben, seine eigene Welt zu formen, und gleichzeitig Eltern die Freiheit zu geben, ihre Kinder die Welt erforschen zu lassen – das ist ein essenzieller Teil der Kindererziehung.»
Das Zitat stammt aus dem Buch «Reclaiming Childhood – Freedom and Play in an Age of Fear» von Helene Guldberg aus dem Jahr 2009. Ich bat Frau Guldberg um einen Hinweis, wie wir diese Freiheit erreichen können.
«Ich glaube, wir brauchen eine kulturelle Veränderung. Es ist sehr schwer für Eltern, gegen kulturelle Erwartungen anzugehen. Das Wichtigste für mich ist, Vertrauen zwischen Erwachsenen zu schaffen. Wenn wir als Eltern nicht alleingelassen werden, sondern Solidarität von anderen Erwachsenen erfahren, werden wir weniger davon besessen sein, dass wir das Richtige tun», war ihre Antwort.
Okay. Meine Meinung ist: Wir können uns nicht alle einzeln, jeder für sich, vom Eltern-Determinismus abwenden – wir müssen kollektiv akzeptieren, dass Eltern nicht die Macht haben, allein über den Lebenslauf ihres Kindes zu entscheiden. Und vielleicht müssen wir gar lernen, in ganz neuen Bahnen zu denken.
Stellen Sie sich doch einmal vor, wir könnten dem alten Sprichwort, wonach es eines ganzen Dorfes bedarf, um ein Kind grosszuziehen, neues Leben einhauchen. Wo also nicht nur Gute-Nacht-Rituale, Hausaufgabenbetreuung und stimulierendes Spielen in den einzelnen Familien über die Zukunft der Kinder entscheiden, sondern das lebendige Treiben des ganzen Dorfes, von Kindern und Erwachsenen.
Wo wir zuallererst unser Verständnis von Kindern und unserer Rolle als Eltern ändern, wo wir Kinder nicht als Lehm, der geformt werden muss, betrachten, sie nicht mit den optimalen Lernformen stimulieren müssen, wo Nähe nicht bloss als Instrument gesehen wird und wo der Tagesablauf der Kinder nicht minutiös geplant ist, um eine möglichst effiziente Zeitausbeute zu erreichen.
Wo wir sie einfach nur Kind sein lassen. Wo sie die Freiheit bekommen, zu erforschen, Freiheit, Risiken selbst einzuschätzen, Freiheit, über die eigene Zeit zu verfügen.
Wie könnte also dieses Dorf in unserer hyperindividualisierten, fragmentierten Gesellschaft aussehen?
Ein Dorf, das Vertrauen im Ungewissen findet, das auf ein Spielen ohne Hintergedanken und auf freie, ungeplante Zeit vertraut, das in all das vertraut, was wir nicht kontrollieren können.
Denn es ist an der Zeit, die vertrauensvolle Elternschaft zu lancieren.
Debatte: Bürdet die Gesellschaft den Eltern zu viel Verantwortung auf?
Aber sind die Eltern wirklich der entscheidende Faktor in der Erziehung ihrer Kinder? Oder ist der Ansatz des Eltern-Determinismus ein Mythos? Sind Kinder oft überbetreut? Wie stellen Sie sich eine machbare, verantwortungsbewusste Erziehung vor? Diskutieren Sie heute von 14 bis 16 Uhr mit Anke Moors, Co-Geschäftsführerin von a:primo, und von 15 bis 17 Uhr mit Daniela Melone, Geschäftsführerin der Elternbildung CH. Hier gehts zur Debatte.
Das dänische Online-Magazin «Zetland» verfolgt ähnliche Ziele wie die Republik. Es ist bürgerfinanziert, werbefrei und setzt auf «Einsichten statt Nachrichten». Wir haben darum beschlossen, hie und da zusammenzuarbeiten und Artikel auszutauschen. Dies nicht nur, weil die Beiträge der Kolleginnen an sich spannend und gut geschrieben sind. Sondern auch, weil wir so mehr darüber erfahren, was die Menschen in Dänemark umtreibt und wie dort über Themen gesprochen wird.
Genau aus letzterem Grund verzichten wir auch darauf, die Beiträge «einzuschweizern», wie es so schön heisst. Das heisst: Referenzen auf Politiker, Anekdoten oder andere Verweise so abzuändern, dass der Text genauso gut hier hätte entstanden sein können – oder vielmehr in einem luftleeren, internationalen Zwischenraum, in dem eine seltsam saubere Sprache gesprochen wird. Kurz: Man soll den Beiträgen anmerken dürfen, woher sie kommen.
Das Original des Artikels vom 27. September 2017 finden Sie hier.