Portrait von Hojat Hameed an einer Backsteinmauer stehend
«Die Schweiz lässt dich nicht schlafen. Sie tritt dir in den Hintern, schmeisst dich in die Gesellschaft und drängt dich in eine Richtung», erklärt Hojat Hameed.

Der Tüpflischiisser

In Afghanistan war Hojat Hameed ein Rockstar. Dann musste er fliehen. Seit vier Jahren lebt er in der Schweiz und ist dankbar für sein Leben unter Pedanten.

Ein Porträt von Solmaz Khorsand (Text) und Guadalupe Ruiz (Bilder), 02.08.2018

Auf der anderen Seite ist das Gras immer grüner.

Gut, dass Hojat Hameed auf dieser anderen Seite lebt. Den Beweis tritt er am Ufer des Bodensees an. Breitbeinig steht der 26-Jährige an der Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland, mit einem Bein in Kreuzlingen, mit dem anderen in Konstanz. Er grinst. Auf der Schweizer Seite des Ufers ist der Rasen akkurat getrimmt, das Gras saftig und grün. Auf der deutschen Seite wuchert das Unkraut zwischen vergilbten Halmen. «Siehst du? Bei uns ist es viel grüner», ruft Hameed. Er kichert und zückt sein Handy. Sein Beweis gehört auf Instagram.

Es war Schicksal, sagt er, dass er auf der grünen Seite bei den Tüpflischiissern Europas gelandet ist. Ist er doch selbst einer, wie ihm die Schweizer Kollegen versichern, der grösste gar, den sie je kennengelernt hätten. So genau, so pünktlich, so pedantisch. Hojat Hameed lacht. Er weiss, es passt nicht ins Bild. Er ist jung, Afghane, Rockmusiker und sieht aus wie das Klischee eines heissblütigen Latinos. Schwarze Haare, dunkler Teint, muskulöse Oberarme und ein breites Lächeln. «Aber ich bin wie sie, auch ein Tüpflischiisser», sagt Hameed. Er mag das Wort. So wie alle Wörter auf Schweizerdeutsch. Er kann sich gar nicht satthören an der Melodie und der eigenwilligen Grammatik, erinnert sie ihn doch an seine Muttersprache Dari und ihren Status in der persischen Sprachfamilie. Auch sie wird gern von den vermeintlichen Bessersprechern als einfacher Dialekt abgetan. Wahrscheinlich rührt daher seine Liebe für den helvetischen Zungenschlag.

Seit vier Jahren lebt Hojat Hameed in der Schweiz, seit knapp drei ist er anerkannter Flüchtling. Und nichts, absolut nichts lässt er über das Land und seine Leute kommen. Keine Sitte, keine Geste, keine Politik ist plump, irritierend oder verstörend genug, als dass er die Schweiz dafür infrage stellen würde. «Hier ist das Paradies auf Erden», sagt er. Er versteht, warum die Eidgenossen so streng sind, dass sie nicht jeden hier reinlassen und dass keiner hier auf der faulen Haut liegen darf, egal ob Einheimischer, Behinderte oder Flüchtling. Für alle gilt: schaffen, schaffen, schaffen. «Die Schweiz lässt dich nicht schlafen. Sie tritt dir in den Hintern, schmeisst dich in die Gesellschaft und drängt dich in eine Richtung», erklärt Hameed, «das ist gut so.»

Noch immer kann er es kaum glauben, dass es ihn hierher, ins Paradies, verschlagen hat.

Eigentlich wollte er Kabul nie verlassen. Aufgewachsen im Exil, im iranischen Isfahan, kehrte er 2005 mit seiner Familie unmittelbar nach der US-Invasion in seine Heimat Afghanistan zurück. Es hiess, es sei sicher, Afghanistan auf dem Weg zu Frieden und Stabilität. Die Hameeds glaubten daran. Sie schickten ihren damals 13-jährigen Sohn in die Musikschule. Dort lernte er Geige, bekam sein Diplom und startete seine Karriere im afghanischen Jugendorchester als Violinist und Dirigent. Den Amerikanern gefiel das, passten musizierende Afghanen doch so gut in das Bild eines befreiten und prosperierenden Afghanistans. Hofiert wurde das Orchester, seine Mitglieder wurden gar nach Amerika eingeladen, wo sie in der Carnegie Hall, im Kennedy Center und im Weissen Haus auftraten. Gern erinnert sich Hojat Hameed an diese Zeit zurück. Und noch viel lieber daran, als er mit seinen drei Freunden Gitarre in der Rockband White Page spielte.

«Soldier» war Hojat Hameeds Lieblingsnummer. Er hat das Lied in seinem Smartphone gespeichert. Stolz spielt er es vor. «Das ist, wie die Soldaten angegriffen werden, das Maschinengewehr, hörst du das? Das sind die Bomben, die auf sie niedergehen, jetzt verstecken sie sich in einem Unterschlupf, und warte … jetzt bläst ihr General zum Angriff. Bamm!» Minutiös entziffert er jede gespielte Note, bevor er den Refrain laut mitsingt.

«There is horror in a soldier. You can hear it, when he talks.
There is courage in a soldier.
You can see it in his eyes.»

Oft hat er das Lied mit seiner Band in Kabul gespielt, vor den Expats in ihren Botschaften und vor Afghanen auf dem Campus der Universität Kabul. Berühmt war die Gruppe, nicht zuletzt, weil Rooshan, der grösste Telekommunikationsbetreiber im Land, die vier Jungs zu seinen Testimonials erklärte. Ob im Fernsehen, auf Plakaten oder Sim-Karten, von überall grinsten die Rockmusiker ihre Landsleute an.

Nicht allen gefiel das.

Das wusste Hojat Hameed. Er sah ihre finsteren Blicke auf den Konzerten. «Sie hielten uns für Satanisten und Ketzer, denen man am besten den Kopf abschneidet», erzählt er.

Irgendwann waren die finsteren Blicke ganz nah. So nah, dass sie Instrumente zerstörten und ihnen rieten, sich nie wieder in Afghanistan blicken zu lassen.

Die Ketzer verliessen ihr Land. In Schweden wollten sie 2014 bleiben. Da sie davor in der Schweiz haltgemacht hatten, wurden sie dorthin zurückgeschickt.

Ihr erster Stopp: Kreuzlingen.

Portrait von Hojat Hameed
Neben seiner Rockband spielt Hameed noch mit Schweizer Jugendlichen Gitarre in der Pop-Gruppe Aging Skies.

Zürich darf nicht Malmö werden

Vor ein paar Monaten hat er Kreuzlingen zum letzten Mal besucht. Immer wieder kommt er hierher. Er führt zu den Plätzen, die sie damals in ihren ersten Tagen und Wochen aufgesucht haben, zu seiner ehemaligen Unterkunft, die ganz nah am Bahnhof liegt. Er erinnert sich noch gut an den Geruch vom frischen Gras und vom Kompost, der ihm auf dem Weg zum Flüchtlingsheim entgegenkam. Nach vier Jahren riecht es immer noch so. Vom Parkplatz aus kann man in sein altes Zimmer im obersten Stock des Betonkomplexes sehen, in die Reihen von Stockbetten, die er sich damals mit zwanzig anderen Männern geteilt hat.

Er schaut nur kurz hoch. Es war keine gute Zeit. Vor allem die ersten 17 Tage will er nicht wiederkäuen. Jede Nacht hat ein Bus die Männer zu einem Bunker gefahren. «Wir waren drei Afghanen und achtzig Afrikaner. Es war die Hölle», erzählt Hameed. Nacht für Nacht hat er in seinem Bunkerbett unter der Erde geschlafen, die Decke so fest über seinen Kopf gezogen, dass er fast keine Luft bekam. Sein Schlafnachbar, nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt, hatte sich den ganzen Tag schon erbrochen. Hameed wollte nicht am nächsten Morgen in dessen Kotze aufwachen.

Er schüttelt sich. Ungern lässt er diese Tage Revue passieren. Das ist nicht die Schweiz, an die er sich gern erinnert. Lieber spaziert er zum See, zu den Bänken gleich hinter dem Fussballfeld auf der Schweizer Seite, wo er mit seinen Freunden immer gesessen ist. Oder zum Café, «Mama Afrika» haben sie es genannt. Es war ein Treffpunkt für Asylbewerber, wo der Kaffee gratis war und sie Tischfussball spielen konnten. Hier hat die Band auch den Journalisten kennengelernt, der den Männern Instrumente und einen Raum organisierte, wo sie auftreten konnten. Es war das erste Konzert der White Page in Kreuzlingen, vor 300 Schweizern.

Das sind die Momente, an die sich Hameed erinnern will. Er sieht auf den See. Die Sonne wärmt. Er ist dankbar, dass ihn die schwedischen Behörden damals vor vier Jahren hierher zurückgeschickt haben. Versauert wäre er dort in diesem kalten, dunklen Norden.

Er weiss, warum er Kreuzlingen so verklärt: Weil ihm dieses kalte Schweden noch so im Nacken sitzt. Und weil sich alles am Ende zum Guten gewendet hat.

Was andere in der Schweizer Asylpolitik als Schikane interpretieren, sind für ihn Integrationsmassnahmen. «Wenn sie es uns Migranten überliessen, würden wir alle nach Basel oder Zürich ziehen. Dann würden dort Zustände wie in Malmö herrschen, wo die Einheimischen den Migranten die Stadt überlassen haben und wegziehen», sagt Hameed. Er schüttelt wieder den Kopf.

Klar hätte auch er lieber in Basel gelebt, wenn er die Wahl gehabt hätte. Das Schicksal – oder die Behörden – wollten ihn lieber im Kanton Solothurn. Seit einem Jahr lebt er nun in Grenchen, einer Gemeinde mit knapp 17’000 Einwohnern, bekannt für ihre Uhrenindustrie. Hier hat seine Deutschlehrerin seinen Arbeitgeber so lange bearbeitet, bis er eine Lehrstelle in der Uhrenmanufaktur bekommen hat. Dankbar ist er ihr dafür.

In zwei Jahren ist er gelernter Uhrmacher. Noch mehr Schweiz geht gar nicht. Nervös war er an den ersten Arbeitstagen. Er weiss noch, wie sein Lehrmeister sein Handgelenk kritisch prüfte. Damals trug Hameed noch eine riesige Diesel-Uhr, ein Geschenk von Schweizer Freunden. Sein Lehrer rümpfte die Nase. «Du kommst mit so einer Uhr hier rein?», hat er gescherzt, «kauf dir was Anständiges.»

Stolz zeigt Hojat Hameed seine neue Uhr, wieder ein dicker Klunker, aber dieses Mal ein Schweizer Fabrikat. Er weiss, was sich hierzulande gehört. Und dass man über gewisse Dinge keine Scherze macht, auch wenn es sich manchmal so anhören mag.

Debatte: Was bedeutet für Sie Heimat

Aus welchen Fakten, Mythen und Legenden speisen Sie Ihr Schweiz-Bild? Was wurde in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten vergessen, was Sie als Teil des helvetischen Nationalcharakters definieren würden – im Guten wie im Schlechten? Was bedeutet für Sie Heimat?

Lesen Sie auch die anderen, unten angezeigten Artikel von Solmaz Khorsand, und unterhalten Sie sich heute Freitag von 13 bis 15 Uhr mit der Autorin sowie Michael Rüegg und Daniel Binswanger. Hier gehts zur Debatte.