Schweiz, du gelobtes Land der Parias!

Vor knapp einem Jahr kam unsere Autorin in die Schweiz. Nun hält sie die 1.-August-Rede. Hommage einer Wienerin.

Von Solmaz Khorsand, 01.08.2018

Schweiz, du gelobtes Land der Parias
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Der 1. August ist Ihr Tag. Heute dürfen Sie Ihren nationalen Mythen frönen. Ganz ungeniert pathetisch und verklärt. Seien Sie stolz auf Ihre Willensnation, um die Sie andere Länder beneiden. Lassen Sie Ihre Nationalhelden hochleben. Ja, seien Sie Patrioten.

Wir Fremde gönnen es Ihnen. Auch wir feiern mit. Auch wir legen unsere Wurst auf den Grill. Auch wir halten Ihre Mythen hoch. Um genau zu sein, halten wir genau einen Mythos hoch. Ihnen wird er vielleicht fremd sein, da er hierzulande kaum beschworen wird. Uns Ausländern dient er hingegen als Orientierung: die Schweiz, Sehnsuchtsort von uns Ausgestossenen.

Penibel haben wir diese Schweiz studiert. Wir wissen, wem Sie über Jahrhunderte Zuflucht geboten haben. Wie sehr es Ihrem nationalen Selbstverständnis entsprach, den Parias dieser Welt einen sicheren Hafen zu bieten. Egal, wie suspekt sie Ihnen waren. Wir kennen die Werke, die nur in dieser ereignislosen Abgeschiedenheit entstehen konnten, die Utopien, die in Ihren Bibliotheken erste Formen annahmen, und die Revolutionen, die aus schmalen Zürcher Gassen geplant wurden.

Und wir wissen, was Sie geleistet haben.

1685 machten Sie den Hugenotten in Ihren eigenen Reihen Platz. 1848 durften Europas liberale Feuerköpfe hier konspirieren. 1915 konnten sich die Proletarier aller Länder im Zimmerwald für ein paar Tage vereinigen. 1933 überliessen Sie der deutschen und österreichischen Intelligenzija Ihr Schauspielhaus. 1956 hiessen Sie die Männer und Frauen aus Ungarn willkommen und 1968 jene aus der Tschechoslowakei.

Wir haben das nicht vergessen.

Wir haben diese Schweiz nicht vergessen. Im Gegenteil.

Diese Schweiz ist der Boden unseres Patriotismus. Weil sie gewähren liess, wo andere verfolgten. Weil sie trotz Schikane, Misstrauen und Ignoranz am Ende den Unsrigen genug Luft zum Atmen liess. Ja, ganz recht, auch wir Emigrantinnen, Flüchtlinge und Exilierte werden sentimental am 1. August. Auch wir begreifen uns als Teil einer längeren Tradition und Nachkommen einer illustreren Ahnenreihe. Ihre beginnt mit Wilhelm Tell, unsere mit Georg Büchner, Rosa Luxemburg, Thomas Mann, Robert Musil oder Else Lasker-Schüler.

Diese Schweiz ist unser Zuhause. Sie lassen wir hochleben. Mit dieser Schweiz prahlen wir. Auch wenn Sie es nicht tun.

Weder früher noch heute. Höchstens hier einmal eine Ausstellung, da ein Grab, dort eine Plakette. Mehr Fanfare ist nicht.

Vielleicht hat es mit Ihrer helvetischen Bescheidenheit zu tun, dem Tiefstapeln, das keine Diskriminierung kennt.

Vielleicht ist es aber auch nur Klarsicht. Weil man weiss, dass es unsere Schweiz eigentlich nie wirklich gab. Weil die Schweiz schon sehr früh nichts mehr übrighatte für uns Parias. Dass unser Zufluchtsort in Wirklichkeit nur ein Fantasiegebilde ist. Ein Mythos eben.

Auch wir haben diese Klarsicht, täuschen Sie sich da nicht. Dennoch, wir wollen an diese Fantasie glauben. Denn wir haben es geschafft. Wir sind da – wenn auch nur vorübergehend und oft mit der Drohung, jederzeit verschwinden zu müssen, wenn wir uns nicht benehmen.

Doch wir nehmen es hin. Gelassen, fast schon gnädig, weil wir im Vergleich leben. Wir wissen, wie es anderswo sein kann. Immer wieder ziehen wir dieses Anderswo zurate, wenn uns diese Schweiz vor den Kopf stösst mit ihren Sozialdetektiven, ihrer Obsession, kein Geld zu verschwenden, und ihrem stillen Stolz, als Vorbild für Europas rechtsextreme Kräfte herzuhalten.

Dann halten wir inne und fragen uns: War es zu Hause denn besser? War es im alten Nest so viel zivilisierter, humaner, kompetenter?

Der Vergleich ist für uns omnipräsent und wird es vielleicht für immer sein. Deswegen werden Sie hier auch keine Brandrede lesen. Denn es ist dieser Vergleich, der uns einen kühlen Kopf bewahren lässt. Zumindest am Anfang. Je länger wir hier sind, desto schwächer wird der Vergleich und umso schärfer wird unser Blick. Irgendwann hören wir auf zu vergleichen und begreifen diese Schweiz als unser Nest. Dann ist es vorbei mit der Gelassenheit. Dann kennen auch wir keine Gnade mehr.

Bis dahin pflegen wir unseren Schweizer Exilmythos. Bescheiden sind wir dabei nicht. Noch hat sich die helvetische Zurückhaltung bei uns nicht eingenistet. Wir werden mit dieser Schweiz, dieser Zufluchtsstätte, die sie für so viele war und ist, in der Republik protzen. Drei Tage lang pure Fanfare.

Nur zu, feiern Sie mit. Trauen Sie sich.

Es ist ja schliesslich auch Ihr Mythos.

PS: Falls Sie Anlaufschwierigkeiten haben, helfen Ihnen diese Woche die Filmemacherin Esen Isik, der Rockmusiker Hojat Hameed und der Salatsaucen-Macher Abdulrazek Seid dabei. Ihre Porträts werden Sie in der Republik lesen.

Debatte: Was bedeutet Ihnen Heimat?

Aus welchen Fakten, Mythen und Legenden speisen Sie Ihr Schweiz-Bild? Was wurde in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten vergessen, was Sie als Teil des helvetischen Nationalcharakters definieren würden – im Guten wie im Schlechten? Was bedeutet für Sie Heimat?

Lesen Sie auch die anderen, unten angezeigten Artikel von Solmaz Khorsand, und unterhalten Sie sich heute Freitag von 13 bis 15 Uhr mit der Autorin sowie Michael Rüegg und Daniel Binswanger. Hier gehts zur Debatte.