Es brodelt in der Youtube-Hölle
Wo Michelle Obama ein Mann, eine College-Schiesserei nur inszeniert und Justin Trudeau ein Idiot ist: Die Google-Tochter Youtube ist zum Paradies für Verschwörungstheoretiker geworden. Nun reagiert der Konzern. Endlich.
Von Adrienne Fichter , 31.07.2018
Diese Frage hat Youtube-Chefin Susan Wojcicki geschmerzt: «Mutter, stimmt es, dass es biologische Gründe gibt, weshalb es weniger Frauen in Führungspositionen von Tech-Unternehmen gibt?»
Ihre Tochter hatte das Manifest von James Damore gelesen. Der Google-Ingenieur versuchte darin, mit biologischen Argumenten zu erklären, weshalb Frauen weniger geeignet für Spitzenjobs seien als Männer.
Das Memo stiess im liberalen Silicon Valley auf viel Kritik. Google-Chef Sundar Pichai distanzierte sich, Wojcicki schrieb im Magazin «Forbes» eine vernichtende Kritik. Damore wurde im August 2017 geschasst, der progressive Frieden im Silicon Valley wiederhergestellt.
Doch Wojcicki blendete etwas Entscheidendes aus: welche Rolle ihre eigene Plattform Youtube – ein Tochterunternehmen von Google – bei der Bildung von Damores kruden Weltanschauungen spielte. Der damals 28-jährige Harvard-Absolvent verschlang nach eigenen Angaben alle Videos von Jordan Peterson, einem umstrittenen kanadischen Psychologieprofessor, der berühmt ist für seine Anti-Transgender-Ansichten. So geriet Damore immer tiefer in den Sog von dessen pseudowissenschaftlichem Biologismus, Chauvinismus und Antifeminismus.
Klick-Müll bestrafen
Brandredner wie Jordan Peterson gibt es viele auf Youtube. Die Plattform wurde in den letzten Jahren immer populärer unter Konservativen und Rechtsextremen.
Der Grund dafür ist der Empfehlungsalgorithmus. Dieser präsentiert uns ein tägliches, individualisiertes Menü, und zwar aufgrund dessen, was wir früher gesucht haben, was uns jetzt interessieren könnte und was wir künftig wahrscheinlich suchen werden.
Dabei werden die Empfehlungen immer extremer: Wer sich für Vegetarismus interessiert, erhält am nächsten Tag Veganismus-Empfehlungen. Wer sich Tipps für regelmässiges Jogging holt, bekommt später Marathonläufe angepriesen.
Die Konsequenz: Wer nur Youtube konsumiert, glaubt nach einigen Wochen, Michelle Obama sei in Wirklichkeit ein Mann, die Erde flach, der Klimawandel inexistent und etliche Schulmassaker in den USA bloss «Inszenierungen».
Algorithmusoptimierung 2012
Das war nicht immer so. Das Geburtsdatum für den heutigen Empfehlungsalgorithmus ist der 10. August 2012. Seit diesem Tag entscheidet im Besonderen die Verweildauer, ob ein Video in die Empfehlungsleiste befördert wird, und nicht mehr die Anzahl Aufrufe.
Damit soll Klick-Müll abgestraft werden, also Videos, die uns mit effekthascherischen Titeln und Vorschaubildern zwar zum Anschauen verleiten, die Erwartungen der Zuschauerin aber nicht erfüllen. Youtube wollte damit eigentlich auf Qualität setzen.
Der Schritt hat sich aus kommerzieller Sicht ausbezahlt: Seit dieser Zäsur verbringt der durchschnittliche Zuschauer heute zehnmal so viele Stunden auf Youtube als zuvor. Der Konzern behauptet, das liege fast ausschliesslich an den Empfehlungen auf der Seitenliste.
Extreme Videos machen süchtig
Aber offensichtlich haben die Youtube-Ingenieure einen zentralen sozialpsychologischen Befund unterschätzt: Menschen, denen immer extremere Meinungen und Behauptungen präsentiert werden, verweilen länger auf den Seiten des Portals und schauen sich noch mehr Videos an. Wer den Youtube-Kosmos also einmal betreten hat, der bleibt. Und gerät dadurch in Parallelwelten wie der frühere Google-Mitarbeiter Damore.
Seit der Algorithmusänderung haben scharfe Kommentatoren und Laien ein leichtes Spiel, weil – wie übrigens auch auf Facebook – eine künstliche Intelligenz bei ihrer Selektion nach «Relevanz» nicht zwischen Verschwörungstheorie und faktenbasiertem Qualitätsjournalismus unterscheidet.
Gleichbehandlung aller Kanäle
Heute tummeln sich auf Youtube, der wichtigsten Informationsquelle für US-Teenager, die verschiedensten Akteure: Schönheitsbloggerinnen, Game-Spieler, Veranstalter von Wissenschaftsshows und auch etablierte Medien. Das Auswahlverfahren für die Empfehlungen ist höchst demokratisch. Jeder Kanal – unabhängig, ob er Schönheitstipps oder Dokumentarfilme zeigt – ist gleich viel wert, alle stehen im Wettbewerb zueinander.
Doch diese Gleichbehandlung hat zur Folge, dass man sich schon nach einigen Wochen in einer Parallelwelt jenseits des Faktischen wiederfindet.
Wenn man beispielsweise nach politischen Themen sucht, bekommt man von der Suchmaschine keinen ausgewogenen Medienspiegel vorgeschlagen, sondern die neuesten Videos von Alt-Right-Kommentatoren wie dem berühmten Infowars-Kanal von Alex Jones. Oder Inhalte von Next News Network, einer auf den ersten Blick seriös aussehenden rechtspopulistischen Gerüchteschleuder.
Beide machen zuverlässig Stimmung für US-Präsident Donald Trump und diskreditieren liberale Entscheidungsträger wie zum Beispiel jüngst den kanadischen Premierminister Justin Trudeau.
Wenn Sie auf Youtube im Suchfenster «Justin Trudeau» eingeben, sehen Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit als Erstes ein Video des rechten Verschwörungstheoretikers Paul Joseph Watson mit dem Titel «Justin Trudeau Is a Complete Idiot».
Watson kommentiert eine Szene, in der Trudeau eine junge Frau ermahnt, von «peoplekind» und nicht von «mankind» zu sprechen, mit einer Geste, als ob er sich eine Pistole in den Mund halten würde. Dann rechnet er ab mit Trudeaus Political Correctness und lässt sich aus über die Symbolik seiner bunten Socken.
«Ausreisser»-Phänomen
Was Trudeau genau zum Idioten qualifiziert, bleibt bis zum Ende unklar. Die Spekulation allein hat gereicht, dass man in die Clickbait-Falle getappt ist. Verweildauer: 6 Minuten, 34 Sekunden. Die Zuschauerin beförderte mit ihrer Neugier, dass das Video in der Empfehlungsleiste in den obersten Plätzen rangiert.
Das Justin-Trudeau-Phänomen zeigt sich bei vielen anderen liberalen und linken Politikern. Nur wenige Entscheidungsträger haben auf Youtube eine loyale Community, wie das bei Musikstars der Fall ist. Ihnen fehlen die «Fan-Videos», die gerade negative, rufschädigende Beiträge der Alt-Right-Bewegung ausbalancieren.
«Gerade in Fällen von geringer Nachfrage kann eine aktive Gruppe die Ergebnisse überproportional beeinflussen. Youtube nimmt somit einen Zusammenhang an, der objektiv gar nicht existiert», sagt der Youtube-Experte und Medienwissenschaftler Bertram Gugel.
Anti-Hillary-Videomaterial dominierte
Die extreme Rechte hatte auch 2016 die Nase vorn. Youtube ist im Kontext der US-Wahlen die am meisten unterschätzte Plattform, sagt Internet-Soziologin Zeynep Tufekci. Nach Angaben von Google wurden in den Swing States – also in den Staaten, die am Ende den Ausschlag für die Wahl von Trump gaben – stundenweise Trump-Videos verschlungen. Egal, nach welchem Kandidaten man auf Youtube suchte, der Trend ging fast immer in dieselbe Richtung: gegen Hillary Clinton. Mit absurden und erfundenen Geschichten.
Der ehemalige Youtube-Ingenieur Guillaume Chaslot kann das belegen. Er verliess das Unternehmen 2013. Angeblich, weil er die Konsequenzen der Algorithmusänderung von 2012 nicht länger verantworten konnte.
Chaslot wies mit seiner Anwendung «Algo Transparency» nach, dass siebzig Prozent aller Videos im US-Präsidentschaftswahlkampf Clinton-feindlich gewesen seien. Am 7. November 2016 figurierten Videos wie «Alert Shocking! Anonymous to Reveal Bill Clinton Pedo Video Hillary for Prison!» (über eine Million Aufrufe) weit oben in fast allen wahlrelevanten Suchanfragen.
Das «Radikalisierungs-Netflix»
Während die Weltöffentlichkeit in den letzten Jahren auf Facebook eindrosch, hat sich Youtube ungestört zu einer Art «Radikalisierungs-Netflix» entwickelt. Hier ist die Fake-News-Problematik ausgeprägter als anderswo. Dennoch fehlte bislang der grosse Aufschrei rund um das Videonetzwerk von Google.
Das liegt unter anderem am Erwartungsmanagement der Plattformen. Auf Facebook präsentieren Algorithmen ein Kunterbunt an Filmchen, Memes, Status-Befindlichkeiten oder Boulevard-Artikeln. Das Überraschungselement ist gross, die Empörung über verstörende Propagandainhalte ebenso. Man fühlt sich fremdgesteuert.
Youtube suchen wir hingegen gezielt auf. Hier navigieren wir uns mit Klicks und Suchstichworten durch den Kosmos und schreiben uns eine grössere Eigenverantwortung an den Resultaten zu. Dabei ist unsere Autonomie aufgrund des ausgeklügelten Algorithmus genauso beschränkt.
Kosmetische Verbesserungen
Es ist nicht so, dass dem dreizehnjährigen Konzern diese negativen Entwicklungen unbekannt wären. Das Netzwerk reagierte bei jeder negativen Schlagzeile. Doch oft nur zögerlich und mit minimalen Verbesserungen. Ein Beispiel: 2017 listete die Londoner «Times» in einem brisanten Bericht Werbespots auf, die im Vorfeld islamistischer Propagandavideos automatisch ausgespielt wurden.
Die Opfer – darunter der britische Rundfunk BBC und die Bank JP Morgan Chase – stoppten sofort ihre Werbegelder. Daraufhin kündigte Youtube-Chefin Susan Wojcicki, die das Unternehmen seit 2014 führt, Massnahmen an: Kanäle, die weniger als tausend Abonnentinnen und wenig Verweildauer aufweisen, sollten gekappt werden. Damit sollten die problematischen Hetzerkanäle wegen fehlender kommerzieller Anreize von allein verschwinden.
Der Schritt verfehlte sein Ziel: Verschwörungstheoretiker wie Paul Joseph Watson haben ein Millionenpublikum. Nach der Logik von Wojcickis Massnahme bietet Watson Videos von «hoher Qualität».
Es wird wieder am Algorithmus geschraubt
Es brauchte Damores Google-Manifest und die verstörende Frage ihrer Tochter, die Youtube-Chefin Wojcicki zum Umdenken bewegte. Vor einigen Wochen präsentierte sie endlich einen Erfolg versprechenden Lösungsansatz: Sie lässt an den Komponenten ihres Erfolgsmodells, dem Empfehlungsalgorithmus, schrauben.
Neu ist nicht mehr nur die Verweildauer der wichtigste Parameter. Auch der Absender wird relevant. Seriöse Video-Anbieter wie Vox, SRF oder CNN sollen immer bevorzugt werden.
Bevorzugung nützt jedoch wenig, wenn kein Filmmaterial vorhanden ist. Die traditionellen Medien sind zu träge. Auch wenn Youtube die attraktivsten Produktionsbedingungen bietet: Die meisten Medienhäuser priorisieren im Netz immer noch Textformate, weil die Videoproduktion zu aufwendig ist.
Rechte Vlogger sind dynamischer
Ihr Publikationsrhythmus ist länger als derjenige der Videoblogger (Vlogger). Um beim Beispiel Justin Trudeau zu bleiben: Einer der letzten Beiträge von «Guardian» und CNN stammt vom 10. Juni, als der kanadische Premier am G7-Gipfel öffentlich Kritik an Donald Trumps Handelsrestriktionen führte.
Danach sorgte er kaum noch für Schlagzeilen. Dies bevorteilte wiederum die Youtube-Stars Ben Shapiro und Paul Joseph Watson. Die beiden konservativen Youtube-Berühmtheiten sind agiler, hauen im Wochentakt Filme raus und leben sogar davon.
Um den Medien Bewegtbildinhalte schmackhafter zu machen, gibt es eine einfache Lösung: mehr Geld. Es muss sich lohnen, Filmchen zu produzieren. Youtube hat das nun begriffen. Und Mitte Juli beschlossen, 25 Millionen Dollar in den Aufbau von Video-Know-how in Medienhäusern zu investieren.
Gut für die Bürgerin
CEO Susan Wojcicki möchte aus Youtube eine seriöse Nachrichten-Bibliothek formen. Auch andere Plattformen wie Facebook bekämpfen virale Fake-News-Videos, indem sie traditionelle Medien mit finanziellen Anreizen locken. Ironischerweise kopieren die sozialen Netzwerke damit immer mehr das totgeschriebene lineare Fernsehen.
Das Buhlen um etablierte Medien kommt immerhin uns Bürgerinnen zugute und damit der Demokratie. Vorausgesetzt, wir schauen uns die Nachrichtenvideos tatsächlich bis zum Schluss an. Und bleiben nicht beim pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuch eines Professors hängen, weshalb Frauen ungeeignet für Management-Positionen sein sollten.