Zwischen Clowns und Bomben
Tanya Habjouqa pfeift auf die Erwartungen anderer. Die Fotografin zeigt die Realität, wie sie sie sieht, und präsentiert ihrem Publikum einen intimen Nahen Osten.
Interview von Mona Fahmy, 30.07.2018
Tanya Habjouqa porträtiert palästinensische und israelische Dragqueens in Jerusalem, US-Siedler in der Westbank, Palästinenser in Gaza und syrische Flüchtlingsfrauen in Jordanien. Sensitivität und ein Auge für das Absurde zeichnen Habjouqas Bilder aus – sagt die World Press Photo Foundation, die ihr 2014 den World Press Photo Award verlieh.
«Tomorrow There Will Be Apricots», ihre Bildserie über Syrerinnen in Jordanien, ist noch bis am 29. September in Winterthur zu sehen.
Tanya Habjouqa, auf einem Ihrer Bilder sieht man niemanden, nur ein Holztablett auf einem Sofa, mit Aprikosen darauf. Was hat das zu bedeuten?
Es geht um Um Mohamud, eine Mutter aus Daraa. Sie war mit einem Freiheitskämpfer verheiratet. Soldaten stürmten auf der Suche nach ihm ihr Haus und trampelten über ihre schlafende Tochter hinweg. Ihr Mann wurde getötet. Um Mohamud wollte nur noch weg und ihre sechs Kinder in Sicherheit bringen. Sie hatte in ihrem Wagen keinen Platz für Gepäck. Das Einzige, was sie nach Jordanien mitnahm, war das Holztablett. Es war ein Geschenk ihres Mannes, er hatte es auf einer Reise in Beirut gekauft. Das Tablett ist die einzige Erinnerung an ein glückliches Leben.
«Tomorrow There Will Be Apricots» ist die englische Übersetzung eines Sprichworts aus der Levante. Frei übersetzt, heisst es, dass man sich etwas wünscht, was niemals eintreffen wird.
Das Sprichwort steht für die Situation dieser Frauen, die nach Jordanien geflohen sind. Sie hoffen, eines Tages wieder mit ihrer Familie vereint zu sein. Und wissen, dass das wahrscheinlich nie geschehen wird.
Sie haben die porträtierten Frauen fünf Jahre lang begleitet. Was hat Sie am meisten bewegt?
Eine Frau erzählte mir, wie sie gerade ihr Baby stillte, als Soldaten in ihr Haus drangen. Sie hat ihr Baby unter das Sofa gestossen, um es zu beschützen. Die Männer haben sie vergewaltigt, einer nach dem anderen. Sie ist sehr jung, klein, zerbrechlich. Sie sagte, das Schrecklichste war, als ein Soldat bemerkte, dass sie noch stillte. Er sagte ihr: «Wo ist dein Baby? Wir sollten dein Baby finden.» Dann vergewaltigte er sie und trank von ihrer Brust. Dem Baby passierte zum Glück nichts.
Solche Geschichten machen sprachlos.
Nicht jede Geschichte war so. Bei anderen wurde «nur» die ganze Nachbarschaft zerbombt. Ich wünschte damals, ich könnte schreiben. Ich wollte diese Geschichten erzählen, was in einer üblichen Bildreportage unmöglich gewesen wäre. Und die Frauen wollten ihre Gesichter nicht zeigen. Wir sprechen hier nicht von modernen Syrerinnen aus Damaskus, sondern von ländlichen Frauen, die in konservativen Dörfern lebten. Zu Beginn waren sie einfach eine Hand, welche die Tür öffnete. Mehr sah man von ihnen nicht. Männer empfingen die Journalisten. Mich interessierten aber die Frauen. Als Frau konnte ich mit ihnen sprechen. Mit der Zeit gewann ich ihr Vertrauen.
Und so entstanden Bilder wie das von Hala, der Poetin aus Daraa, die als «Kung-Fu-Prinzessin» posiert.
Sie ist in der Serie mein wichtigster Charakter. Sie war achtzehn, als ihr Vater getötet wurde. Sie musste einen Cousin heiraten, der sie schlug. Nach 25 Tagen liessen sie sich scheiden. Ihre Mutter schämte sich. Für sie galt: Frauen müssen heiraten. Ein Mund weniger zu füttern. Hala weigerte sich. Als ich sie 2013 fotografierte, «feierte» sie die Hochzeit ihrer Schwester und sagte: «Erwartet nicht, dass ich wie meine Schwester heirate. Ich will mich in jemanden verlieben.» Sie schrieb Gedichte und liess sich durch Künstler im Internet inspirieren. Als ein Onkel sie mit einem Laptop erwischte, schlug er sie, warf den Laptop und ihre Kleider aus dem Fenster und verbot ihr, das Haus zu verlassen. Ende 2013 überlegte sie sich dann doch, einen Saudi zu heiraten. Sie hatte genug vom «Ameisenzählen», wie sie die Langeweile treffend beschrieb.
Was ist aus ihr geworden?
Als ich sie zwei Jahre später als «Kung-Fu-Prinzessin» fotografierte, war sie noch Single. Der Saudi, der bloss eine Frau gesucht hatte, die seine erste Frau pflegen sollte, hatte es sich anders überlegt. Hala schreibt immer noch heimlich Gedichte auf dem Handy. Und versteckt sie immer noch vor ihrer Familie.
Ein Kapitel Ihrer Serie heisst «Syria via Whatsapp». Man erfährt, was Väter ihren Kindern schreiben, welches ihre letzten Worte waren. Auch hier sind es wieder sehr intime Dokumente. Wie kamen Sie dazu?
Ich sass neben einer Frau mit einem weinenden Baby. Sie versuchte, es zu beruhigen, doch das Baby hörte nicht auf zu schreien. In ihrer Verzweiflung griff die Frau zum Handy und zeigte dem Kind Aufnahmen ihres Mannes in Deutschland. Er sang ein Kinderlied. Das Baby hörte sofort auf zu schreien. Es war faszinierend. Mir wurde klar, was für eine Bedeutung Whatsapp für die Frauen hat. Whatsapp-Nachrichten sind oft das Letzte, was ihnen von ihrem Mann geblieben ist. Ich fragte sie, ob ich die Nachricht als Dokument verwenden könne. Sie sagte zu, und auch andere Frauen zeigten mir ihre Nachrichten. So entstand die Whatsapp-Serie.
Sieben Jahre nach Beginn des Aufstands ist die Situation in Syrien immer noch vielerorts desolat. Dennoch kehren Menschen zurück. Laut der Uno-Flüchtlingsagentur waren es dieses Jahr bisher 13’000 Flüchtlinge. Was denken Sie, wenn Sie das hören?
An Um Asim, die schwarz gekleidete Frau hinter einem weissen Vorhang. Ihr Mann ging nach Deutschland. Er liess sie mit drei Kindern zurück. Nicht wie andere Väter, die nur auf eine Möglichkeit warten, ihre Familie zu sich zu holen. Er verliess sie und brach ihr das Herz. Zwei Jahre lang war sie in Jordanien. Sie durfte nicht arbeiten, lebte isoliert. Ich habe noch nie jemanden so erschöpft gesehen. Sie interessierte sich kaum für ihre drei Kinder. Sie wollte zurück, nach Hause, nach Daraa.
Wie viele Frauen in Ihren Bildern. Daraa ist das Dorf, in dem 2011 der Aufstand begann. Heute steht dort praktisch kein Stein mehr auf dem anderen. Und die syrische Armee bombardiert gerade die letzten Stellungen der Terroristen des IS. Dorthin wollte sie zurück?
Ja. In ein Gebiet, wo Kinder vergewaltigt und umgebracht werden. Dass Menschen in solche Umstände zurückkehren, sagt wohl alles. Sie haben alles verloren, aber nirgends Unterstützung bekommen. Sie haben keine Würde mehr. Die Leute sind müde, sie geben auf. Wie Um Asim. Ich sagte ihr, es sei zu gefährlich. Sie antwortete nur: «Es ist mir egal. Ich kann nicht mehr.»
Sie sehen täglich viel Elend. Was motiviert Sie, es zu dokumentieren?
Es geht um mein Zuhause. Ich bin halb Jordanierin, halb Amerikanerin. Doppelbürgerin. Mein Mann ist Palästinenser – oder arabischer Israeli, wie man sagt, was eigentlich absurd ist, denn er ist Palästinenser. Meine Kinder sind Palästinenser. Die Bilder der syrischen Flüchtlinge in Jordanien, die Bilder der Palästinenser in Gaza, diese Bilder sind aus meiner Heimat.
Sie zeigen vor allem den Alltag der Menschen, die Normalität. Weshalb?
Weil ich unzufrieden war, wie über mein Zuhause berichtet wird. Bevor ich mit meinen Bildserien begann, fotografierte ich für verschiedene Redaktionen. Ich schickte Bilder, die verschiedene Situationen und Menschen zeigten. Lustige Bilder, traurige Bilder. Das Leben in seiner Vielfalt. Doch wenn Medien über den Nahen Osten berichten, ist es immer eindimensional. Palästinenser sind beispielsweise immer entweder Opfer oder Gewalttäter. Es geht immer ums Elend. Es geht nicht um die Menschen mit allen Facetten des Alltags und Widersprüchen Ihres Daseins.
Das kenne ich. Ich habe selber in der Region gelebt, im Libanon. Habe über den Nahen Osten berichtet. Menschen, die nie vor Ort waren, suchen Bilder aus, welche die eigenen Vorurteile bestätigen. Bilder, die eine differenziertere Geschichte erzählen, werden oft ausgeblendet. Es ist frustrierend.
Ja, genau. Ich war sehr wütend. Ich realisierte auch, dass ich so nichts zur Debatte beitragen konnte. Ich wollte nicht dabei mitwirken, Konflikte zu befeuern. Ich wollte das sagen können, was ich zu sagen hatte. Nicht das, was andere hören wollten.
Als Erstes porträtierten Sie 2006 israelische und palästinensische Dragqueens in Jerusalem.
Mit ihren gemeinsamen Auftritten in High Heels und mit Make-up sagten die Dragqueens politischen Erwartungen und sozialen Konventionen auf farbenfrohe Weise den Kampf an. Ich versuchte, eine eigene Art zu finden, den Charakteren eine Plattform zu bieten. In der Hoffnung, einen Denkanstoss zu geben.
Ihre Bildserie «Occupied Pleasures» über den Versuch von Palästinensern, in den besetzten Gebieten so etwas wie Normalität zu erleben, hat 2014 den World Press Photo Award gewonnen. «Time» bezeichnete diese Arbeit als eines der besten Fotobücher von 2015.
Das Projekt war heikel, ein Tanz auf dem Seil. Ich wusste, dass jedes Bild sehr einfach für irgendeine politische Agenda hätte missbraucht werden können. Und es brauchte unglaublich viel Zeit, bis ich den Zugang zu den Menschen hatte. Wenn Palästinenser umgebracht werden oder ein Haus zerstört wird, fühlen sich die Menschen verpflichtet, mit Medienschaffenden zu sprechen. Wenn es um den Alltag geht, sind die Türen verschlossen. Ich war schwanger, als ich mit dem Projekt begann. Ich realisierte, dass ich ein Kind in diese Welt setzen würde. Es spielt eine Rolle, wie darüber berichtet wird. Dann habe ich es gewagt, ich hatte eine Idee, wie ich berichten wollte.
Anhand von Menschen, die inmitten von Gewalt und Armut Vergnügen finden?
Vergnügen ist ein grosses Wort. Es geht darum, wie man ein Leben unter Besatzung führt, wie man seinen Geist beschäftigt mit angenehmen Dingen. Sich das Leben nicht diktieren lassen. Es ist faszinierend, wie Menschen trotz irrwitzig problematischer Restriktionen leben. Wie Menschen in Gaza sich weigern, sich als Opfer zu sehen. Wie sie den Alltag meistern.
Zum Beispiel?
Etwa bei einem Checkpoint, der keine andere Funktion hatte, als die Menschen zu schikanieren. Ich dokumentierte für eine Nichtregierungsorganisation. Im Auto sassen Ärzte und Pfleger. Wir sassen dort für eine Stunde. Ich war sauer, aber die Kollegen im Auto blieben völlig cool. Zum Zeitvertrieb machten sie zwei Kollegen nach, die besprachen, was sie zum Nachtessen wollten, und dabei ständig aneinander vorbeiredeten.
Galgenhumor als Mittel gegen den Frust.
Ja. Darin sind die Palästinenser gut. Und sie kompensieren. Etwa bei den Geburtstagsfeiern ihrer Kinder. Leute geben dafür ein Vermögen aus. Es hat Clowns, schlechte Clowns zwar, aber Clowns. Und Disney-Figuren. Und ganz viel Kitsch. Diese Geburtstagspartys sagen einiges aus. Eltern fühlen sich schuldig. Schuldig, dass ihre Kinder nicht ein normales Leben führen können.
Sie wuchsen in Jordanien und in Texas auf, leben mit Ihrem Mann und Ihren beiden Kindern in Ostjerusalem. Wie verschieden sind diese Welten?
Texas und der Nahe Osten sind ähnlicher, als viele denken. Da ist sehr viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Und ja, da ist auch Rassismus und Hass. In Texas war ich nie das Ziel von Rassismus, aber ich habe gesehen, wie andere darunter leiden mussten. In Ostjerusalem ist es leider schwieriger geworden. Mein Mann hat zwar die israelische Staatsbürgerschaft, doch ich bin nach wie vor auf ein Visum angewiesen. Die Zivilgesellschaft erodiert. Als ich schwanger war, schauten mich die Kinder der Nachbarn an und flüsterten «Gojim, Gojim».
Eine verächtliche Bezeichnung für Nichtjuden.
Ich erinnere mich, als wir für einen Ultraschall durch eine Kontrolle mussten. Der Sicherheitsmann fragte nach meiner ID. Er sah meinen jordanischen Pass und sagte: «Oh, sie ist Araberin.» Sie hielten meinen Mann an, der schon durch die Kontrolle war, und sagten, er solle zurück. Mein Mann ist Anwalt. Er sagte sehr ruhig, sie hätten kein Recht, ihn nochmals zu kontrollieren. Sie wurden gleich gewalttätig und schlugen ihn. Meine ältere Tochter weinte und schrie. Mein Mann schrie mich an, ich solle sie wegbringen. Ich hatte aber Angst, dass ihm etwas Schlimmes passiert, wenn ich gehen würde.
Ihre Arbeit ist riskant. Wie gehen Sie damit um?
Ich denke jeden Tag ans Risiko. Seit ich Kinder habe, nehme ich keine Aufträge mehr an, die mich direkt in Konfliktregionen führen. Dennoch kann es jederzeit gewalttätig werden. Mitte Mai hatte ich den Auftrag, Proteste bei einem Checkpoint im Norden Ramallahs zu dokumentieren. Ich war gerade mal fünf Minuten dort und fotografierte. Es war ruhig. Doch plötzlich spürte ich diesen brutalen Schmerz an meinem Oberschenkel. Es war ein Gummigeschoss. Ich wurde in einem Moment angeschossen, in dem es für niemanden einen Grund gab, zu schiessen. Doch es ist auch nicht so, dass man ständig terrorisiert wird. Meistens ist es ruhig. Es ist mehr wie ein Damoklesschwert, das ständig über dem Kopf hängt.
Tanya Habjouqa – 1975 in Jordanien zur Welt gekommen und in Texas aufgewachsen – arbeitet als Dokumentarfotografin in Ostjerusalem und ist Mitglied des Künstlerkollektivs NOOR. Als Mentorin der Magnum Foundation betreut sie zudem Stipendiaten in der arabischen Welt. Sie ist Mitbegründerin von Rawiya, dem ersten rein weiblichen Fotokollektiv im Nahen Osten. Für ihr Fotobuch «Occupied Pleasures» erhielt Tanya Habjouqa 2014 den World Press Photo Award.
Ihre Bilderserie «Tomorrow There Will Be Apricots» ist noch bis zum 29. September im Forum für Dokumentarfotografie der Coalmine in Winterthur zu sehen.