Rigoletto in den Vorstädten
Wenn die Leute nicht in die Oper kommen, kommt die Oper zu den Leuten: Fabio Cherstich, ein junger italienischer Theatermann, bringt sie ihnen mit dem LKW.
Von Barbara Villiger Heilig (Text) und Gianni Cipriano (Bilder), 19.07.2018
«Io sono Gilda.» Hellblondes Haar, knallrote Lippen: Die junge Frau streckt mir ihre Hand entgegen. Dann wendet sie sich wieder dem Kollegen zu, um den anstehenden Ferienmonat zu besprechen. Für sie heisst das: ein Meisterkurs in Süditalien. Ob sie ihn belegt oder gibt, erschliesst sich mir nicht. Letzteres wäre ihr durchaus zuzutrauen.
Gilda, mit zivilem Namen Giulia Mazzola, ist 22 und singt die Partie der weiblichen Protagonistin in Giuseppe Verdis «Rigoletto». Nicht am Teatro dell’Opera di Roma, vor dem ich die Truppe treffe, sondern auf einem zur Bühne umfunktionierten LKW. OperaCamion heisst das Projekt des Regisseurs Fabio Cherstich, der nach «Figaro!» und «Don Giovanni» zum dritten Mal unterwegs ist: nun mit Verdi. Gilda-Giulia strahlt. Schon wenn sie spricht – und das tut sie gern –, klingt es wie Gesang. Stunden später, in den Bergen von Rieti, wird sie zart und betörend «Caro nome» anstimmen. Vor ihr liegt eine Karriere. Wohin sie wohl führt?
Hitze, Unrat, Chaos
Noch stehen wir unter den Schatten spendenden Arkaden des Opernhauses. Wie flüssiges Blei klatscht die Nachmittagssonne auf den Vorplatz. Rom sei leer, sagen die Römer, grosszügig hinwegsehend über die durchs Centro storico trottenden Touristenhorden. Die Einheimischen fliehen an diesem Wochenende, das dank der Stadtheiligen Peter und Paul schon am Freitag beginnt. Auch die Müllabfuhr pausiert, was sich alsbald bemerkbar macht: Abfallcontainer quellen über, geplatzte Plastiksäcke liegen herum, Unrat verbreitet Gestank. Das Problem ist nicht neu.
Deshalb richtete Virginia Raggi, Hauptstadt-Bürgermeisterin und Exponentin der 5-Sterne-Bewegung, Anfang Jahr eine Hotline ein. Raggi ist unbeliebt. Verbessert hat die Telefonlinie weder ihr Rating noch die missliche Lage: Zwar gingen, wie «la Repubblica» vorrechnet, bisher 324’115 Reklamationen ein, nur die Abfallentsorgung betreffend (andere betrafen den öffentlichen Transport oder den haarsträubenden Strassenzustand – Löcher sind für Motorräder gefährlich, das motorino aber ist im Verkehr in Rom unverzichtbar). Doch was passierte? Nichts.
Das Opernhaus liegt unweit der Stazione Termini, an deren Rückseite Obdachlose ihr Lager aufschlagen. Für sie bedeutet die Hitze gesteigerten Stress. Manche dämmern vor sich hin, eine Bierdose in Griffnähe, andere fluchen ins Leere oder geraten sich gegenseitig in die Haare. Eilige Passanten, Handy vor der Nase, Headphones im Ohr, weichen aus.
Quer gegenüber, wo an einem Plätzchen mit staubig gewordener Begrünung Bücher angeboten werden, herrscht Riesenbetrieb. Nicht wegen der Bücher. Hinter den bancarelle hat sich spontan ein gigantischer Haschischmarkt etabliert, bei gleissend hellem Tageslicht und zu hämmerndem Technolärm: Es ist Gay Pride. Haben auch die Ordnungskräfte das Weite gesucht? Sonst kontrollieren sie doch unübersehbar die Öffentlichkeit, gleich in dreifaltiger Ausprägung: esercito, polizia, vigili urbani.
Das Chaos gehört in Italien seit je zum Alltag. Aber es nimmt zu. Die Nervosität steigt. Der Umgangston wird ruppiger. Und obwohl sich eingewanderte Bevölkerungsgruppen spartenweise geschickt organisieren – chinesische Kleiderläden, indische Restaurants, afrikanische Strassenhändler –, tritt das Elend vielerorts zutage. Dasjenige von Migranten, aber auch von anderen Randgruppen. Die Rechtsaussenpolitik verstärkt Italiens Brutalisierung.
Oper für alle
Und jetzt: Oper. Im Ernst? Was zum Teufel soll ein Lastwagen, der mit «Rigoletto» durchs Land tingelt, ändern an der sozialen Misere? Diese tangiert ja gerade das klassische Opernpublikum am allerwenigsten.
Nicht an dieses Publikum allerdings wendet sich Fabio Cherstich. Sondern an Menschen, die Opernhäuser selten bis nie von innen sehen. Der 32-jährige Theatermann aus Udine sagt: «Wenn die Leute nicht in die Oper kommen können, bringen wir die Oper zu ihnen.» Dabei beruft er sich auf jene Popularität, welche das Genre im Italien des 19. Jahrhunderts – und weit darüber hinaus – besass. Jedermann, auch das sogenannte einfache Volk, kannte Arien und Chöre, sang sie auf der Strasse, bei der Arbeit. Tempi passati. Doch immer noch sind gewisse Schlager aus dem Opernrepertoire allgegenwärtig: beispielsweise «La donna è mobile».
Den Beweis dafür erlebe ich auf meiner Reise mit dem OperaCamion-Projekt gleich zweimal live: In Poggio Bustone, dem Städtchen im Erdbebengebiet um Amatrice, wippt ein Herr im Takt der berühmten Arie und dirigiert dazu – Dirigentenstab ist seine Zigarette. In Corviale, an der Peripherie Roms, stimmt ein Teil des Publikums sogar mit ein, wie bei einem Popkonzert.
Auf dem Land
Weil es quasi unmöglich ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Poggio Bustone zu gelangen, mische ich mich als embedded journalist unter die Musikerinnen und Musiker im Autocar. Der Camion – die eigentliche Opernbühne – ist am Morgen vorausgereist. Nach zwei Stunden Fahrt ins Landesinnere und bewaldete Steilhänge hinauf finden wir ihn auf dem zentralen Ortsplatz vor. «Dreamland» verkündet ein bunter Schriftzug über dem offenen Anhänger, ein aufblasbares Krokodil baumelt an der Leine. Auf dem Theatervorhang prangt ein gemalter Schweinskopf. Passend zu den bestialischen Zügen des Herzogs von Mantua werden die aufgekratzten Höflinge beim Ball in Tiermasken auftreten. Nur der Hofnarr schleicht blass und melancholisch durch die knallige Popversion des Dramas. Sein Buckel? «Inside», antwortet Andrii Ganchuk und fasst sich an die Brust. Rigoletto, so gibt der Ukrainer zu verstehen, ist seine Herzensrolle.
Momentan hängen die Kostüme noch am Kleiderständer. Daneben liegen Requisiten parat, säuberlich aufgereiht. Alles open air. Buben bestaunen die seltsamen Dinge. Ein alter Mann humpelt herbei, um Trost in der Musik zu finden – er ist seit kurzem verwitwet. Gesangsfetzen klingen durch die Luft. In den Orchesterrängen vor der Camionbühne üben zwei Flötistinnen ihr Duett. Der untätig herumstehende Ortspolizist erläutert mir, wie anstrengend sein Job sei: «Ich bin allein, der andere ist im Krankenstand.»
Auf meine Frage nach dem Erdbeben zeigt er mit ausholender Geste in Richtung der Häuser, die Schaden genommen haben. Obwohl äusserlich intakt, sind sie nicht mehr – oder besser: noch nicht wieder – bewohnbar. Das Unglück liegt anderthalb Jahre zurück.
An den Berghang geklebt: So wirkt dieses Städtchen. Es steht quasi zum Verkauf. «Vendesi» signalisieren Schilder an den Hausmauern. Doch die Pilger auf dem Franziskusweg, der hier vorbeiführt, kaufen keine Häuser. Es gibt eine Osteria und eine Bar, wo die Männer abends Karten spielen. Rund 2000 Einwohner zählt heute der Ort, zu dem, immerhin, ein Kindergarten und eine Volksschule gehören. Jetzt ist Ferienzeit. Der Aushang am Gemeindeamt informiert über ein paar wenige Freizeitaktivitäten für Kinder.
Dass die geografische Lage für angenehme Frische sorgt, gefällt dem pensionierten Lehrer, der im operngemässen Dreiteiler auf den Vorstellungsbeginn wartet: Im Winter lebt er in Rom, im Sommer hier. Ob er «Rigoletto» schon einmal gesehen habe, will ich wissen. «Mille volte!», kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Er sei ein Melomane. Sein Traum: die Arena di Verona zu besuchen. Dieser professore kennt keine Langeweile, er schreibt ein Buch nach dem andern (und liefert ungefragt inhaltliche Details). Doch ist er die Ausnahme, nicht die Regel. Poggio Bustone offeriert kaum Unterhaltung. Da kommt OperaCamion wie gerufen.
Tatsächlich. Alle Zuschauerreihen füllen sich. Ganz zuletzt treffen die Honoratioren ein: «La sindaca» – so der Lehrer – mit ihrem Gefolge, eine jugendliche Brünette im Hoodie. Durchs Publikum, das die zweistündige Vorstellung gebannt verfolgt, trippelt schwanzwedelnd ein kurzbeiniger Hund, als sei er der wahre Chef. Einzig die Bühne, wo vor den hinreissenden Comicanimationen des Illustrators und Filmemachers Gianluigi Toccafondo das Geschehen seinen tragisch-turbulenten Lauf nimmt, interessiert ihn nicht. Erst beim Schlussapplaus rennt er bellend vor zur Camionrampe.
Stars von morgen
Auf der Rückreise sitze ich neben Sparafucile, Gildas Mörder. Akaki Ioseliani stammt aus Georgien. Schon vor dem Stimmbruch stand sein Ziel fest: die Opernbühne. Schritt für Schritt schildert er mir seinen Weg. Nach Rom kam er, weil er den Concours für das Young Artist Program am Teatro dell’Opera schaffte, genannt Fabbrica. Dieser Rahmen ermöglicht ihm, während zweier Jahre professionelle Erfahrung zu sammeln, etwa dank der – ebenfalls von Opernsubventionen getragenen – OperaCamion. Sogar ein bescheidenes Stipendium kriegt Ioseliani. Keine Selbstverständlichkeit für Italien mit seinen chronisch unterdotierten Kulturinstitutionen.
Manchmal, so jedenfalls hoffen sowohl die Mitglieder des Youth Orchestra als auch die blutjungen Sängerinnen und Sänger, erweisen sich Fabbrica und OperaCamion als Sprungbrett in eine erfolgreiche Zukunft.
Zu verdanken ist das Programm der Fabbrica dem Intendanten Carlo Fuortes, einem Ökonomen, der die einst vor dem Ruin stehende Oper in Rom durch cleveres Management rettete. Heute ist sie bestens aufgestellt. Das Publikum vermehrt, diversifiziert und verjüngt sich laufend – gut möglich, dass dabei neben der Preispolitik auch das Young Artist Program eine Rolle spielt.
700 Kandidatinnen und Kandidaten aus aller Welt hätten sich das letzte Mal beworben, bloss ein Bruchteil davon habe angenommen werden können, sagt Renato Bossa, Chef des Opernpressebüros, der mich zu einer weiteren «Rigoletto»-Aufführung hinaus nach Corviale mitnimmt. Das Navi im Auto fällt uns andauernd ins Wort. Es ist nötig: Bossa war selber noch nie in dem Banlieue-Quartier auf halbem Weg zwischen Stadt und Fiumicino.
An der Peripherie
Da! Am Horizont zeichnet sich der «Serpentone» genannte Wohnkomplex ab, ein «Schlangenungetüm», das mit seinem knappen Kilometer Länge Architekten begeistert und Soziologen die Stirn runzeln lässt. Schade, sind heute Abend keine solchen Soziologen vor Ort: Eine idyllische Vorstadtszenerie böte sich ihrem Blick dar. In Erwartung der Theatervorstellung tafeln nachbarlich verbundene Gesellschaften an den Tischen vor der Mensa bei der Bibliothek: frittierte Tintenfischringe, Risotto. Ob ich nicht Platz nehmen wolle, lädt mich eine Frau ein. Nein, Corviale sei viel besser als sein Ruf, meint sie: grosse Wohnungen, gute Luft, vier Busverbindungen zum Zentrum. Und ein Fitnessclub, ergänzt ihr Begleiter.
Unruhe entsteht, als einige Gäste beginnen, Mensastühle abzutransportieren. Haben sie den «Rigoletto»-Flyer nicht gelesen? «Porta una sedia da casa» steht in grossen Lettern darauf – und ausserdem, dass die Vorstellungen gratis sind. Wen wundert der Andrang! Ausser den Bewohnern von Corviale sind Fans gekommen, die Fabio Cherstichs Projekt seit seinen Anfängen verfolgen. Eine Schulklasse samt Lehrer lässt sich auf Decken im Gras nieder. Eltern schicken sich via Smartphone Websitelinks mit kindergerechten Handlungsangaben zu. Das kleine Mädchen neben mir trägt paillettenbestickte Hosen: tenue de soirée. Die Jüngsten unter den Anwesenden sind Babys, sie werden neben den Zuschauerreihen vom Vater oder von der Mutter gewiegt. Eine zwanglose Angelegenheit für die ganze Familie.
Diesmal werden Orchester und Sängercast vom Gezirpe der Grillen begleitet. Die Musik versinkt in der Sommernacht, als wäre sie ein Teil von ihr.
Was genau macht den bezwingenden Charme dieser alternativen Musiktheaterunternehmung aus? Vielleicht ist es einfach das Zusammenwirken der angehenden Profis auf, vor und hinter der LKW-Bühne. Eine internationale Gemeinschaft – deutlich globalisierter als das im Schnitt doch sehr italienische Publikum –, die vormacht, was Begeisterung, Engagement und Kooperation hervorbringen können: ein Gesamtkunstwerk. Es mag kitschig klingen, aber im krisengebeutelten Italien wirkt der Zauber von OperaCamion wie ein Heilmittel.
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