Verbotene Liebe
Vier Männer zerren einen Jugendlichen in ein Auto, fahren ihn quer durch den Thurgau und verprügeln ihn. Bei der Entführung geht es nicht um Geld.
Von Sina Bühler, 18.07.2018
Ort: Bezirksgericht Weinfelden
Zeit: 27. Juni 2018, 8.00 Uhr
Fall-Nr: SUV_B.2014.673/ SUV_B.2014.678/ SUV_B.2014.679/ SUV_B.2014.688
Thema: Entführung
Dicht gedrängt sitzen vier Männer eingeklemmt hinter ihren vier schwarz gewandeten Verteidigern, die vier haben die Arme verschränkt. Zehn Stunden lang schauen sie im Weinfelder Gerichtsaal ungerührt nach vorne, wechseln untereinander kein Wort. Sie sind beschuldigt der Entführung, Freiheitsberaubung, Drohung, Nötigung und Tätlichkeiten – verübt im Jahr 2014, an drei Minderjährigen, die wie die Beschuldigten aus Sri Lanka stammen.
Dahinter stecken weder Geld noch Politik, sondern die Liebe.
Der 17-jährige A. verliebt sich in die 15-jährige K. Ihrem Vater passt das nicht. Er verbietet die Beziehung. Das macht er zunächst den Jugendlichen klar, dann taucht er mit Freunden bei den Eltern des jungen Mannes auf, «um die Probleme innerhalb der Familie» zu lösen, wie er im Gericht sagt – so wie man das in Sri Lanka mache. Der 17-jährige Junge muss alle Fotos seiner Freundin löschen, die beiden jeden Kontakt abbrechen.
Doch A. will nicht gehorchen. Ein paar Wochen später fährt der junge Schaffhauser in den Nachbarkanton, nach Berg im Kanton Thurgau, um dort unerlaubterweise seine Freundin K. am Rande eines tamilischen Familienfests zu treffen. Begleitet von zwei Freunden tritt er etwas grossmäulig auf. Zu grossmäulig, findet der Vater des Mädchens: Er trommelt einmal mehr seine Freunde zusammen und zerrt A. und seine zwei Begleiter in ein Auto. Die Männer nehmen den Minderjährigen das Handy ab und bringen sie in eine Privatwohnung.
Dort, sagt A., sei er von mehreren Männern mit Gürtel, Holzlöffel und Fäusten verprügelt worden. Sie hätten ihm mit den Füssen an den Kopf getreten, als er am Boden lag. Dann sei er gezwungen worden, ein Video aufzunehmen, in dem er habe erzählen müssen, er nehme Drogen und stehe in Kontakt mit einem angeblichen «Mangata-Mafia-Team». Vor allem aber habe man ihn gezwungen zu sagen, er liebe K. nicht.
Nach sechs Stunden werden die zwei unbeteiligten Jungen freigelassen. A. hingegen fahren die Männer weiter durch den Thurgau. Es habe weitere Schläge gegeben und kurz vor Mitternacht sei der Junge in Kreuzlingen der Mutter übergeben worden. Einer der Männer soll ihr mit dem Tod ihres Sohnes gedroht haben, ein anderer, dass er ein kompromittierendes Video veröffentliche, falls sie die Polizei informiere.
Am nächsten Tag geht A. trotzdem ins Spital. Er hat Prellungen und ein Halswirbelsäulen-Distorsionstrauma. Er geht auch zur Polizei. Die Staatsanwaltschaft wird eingeschaltet.
Die Gerichtspräsidentin Claudia Spring wird an diesem langen, heissen Gerichtstag in Weinfelden mehrmals fragen, warum die Jugendlichen eigentlich keinen Kontakt haben durften. Der Vater weicht aus, sagt: «Sie war 15, das war meine Rolle als Vater. Wenn sie 18, 19 ist, kann sie entscheiden, wie sie will.»
Die Verteidiger der vier Beschuldigten sind der Ansicht, der Vorfall sei keine Entführung. Weil die Eltern gemeinsam ein Kontaktverbot der Kinder verabredet hatten, seien die vier Männer quasi in der Pflicht oder zumindest im Recht gewesen, den Minderjährigen A. in ihre Obhut zu nehmen, bis sie ihn seinen Eltern übergeben konnten. Ohnehin sei alles freiwillig geschehen: Niemand wurde in ein Auto gezerrt, niemandem das Telefon weggenommen, niemand wurde in eine Wohnung eingeschlossen, niemand verprügelt. Bis auf eine Ausnahme: Es habe zwei Ohrfeigen gegeben. Den Spitalbericht, der die Verletzungen von A. dokumentiert, kann sich auch die Verteidigung nicht erklären. Vielleicht sei A. ja von seinen Eltern verprügelt worden?
Für den Staatsanwalt Urs Zellweger stinkt die Sache von Anfang an. «Der Vater des Mädchens hätte zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter zur Familie von A. gehen können. Er hätte A.s Eltern zu sich einladen können. Doch das tat er nicht. Er hat entschieden, mit seinen erwachsenen Freunden die Eltern von A. in deren enger Wohnung aufzusuchen.» Mit der Entführung seien den vier Männern die «inneren Hemmschwellen total abhanden gekommen». «Kein erwachsenes Verhalten», wirft er ihnen in seinem über zweistündigen Plädoyer immer wieder vor.
A. sitzt die ganze Zeit hinten im Gerichtssaal. Er sieht stoisch nach vorne, während die Beschuldigten ihre Version der Geschichte darlegen. Erst als die vier Verteidiger an der Reihe sind und von A.s Jugendsünden erzählen, die mehrere Strafbefehle zur Folge hatten, presst er die Hände zusammen und schaut auf den Boden. Er ist heute 21 Jahre alt, ein fröhlicher junger Mann, der seinem Anwalt von seinen guten Noten in der Schule erzählt. Er ist so höflich, dass er die Beschuldigten, die er vor vier Jahren bei der Polizei anzeigte, vor der Verhandlung mit Handschlag begrüsste.
Die vier Verteidiger fordern, das Verfahren sei komplett einzustellen. Die Männer seien nicht schuldig. Das Gericht sieht das nach langer Beratung anders: S. wird wegen mehrfacher Freiheitsberaubung, Entführung und Nötigung zu 15 Monaten bedingter Freiheitsstrafe verurteilt. Zwei Mittäter werden zu 10 beziehungsweise 12 Monaten bedingt verurteilt. Ein Mann wird freigesprochen. Und A. bekommt 4000 Franken Genugtuung.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.