Bergs Nerds

Nerds retten die Welt

Folge 7: Gespräch mit Lynn Hershman Leeson, Künstlerin, Drehbuchautorin, Regisseurin, Produzentin und emeritierter Professorin an der University of California, Davis.

Von Sibylle Berg, 17.07.2018

Teilen0 Beiträge

Guten Morgen, Frau Hershman Leeson. Haben Sie sich heute schon über den Zustand der Welt gesorgt?

Ja.

(Tiefes Durchatmen. Ein Nerd hatte hier einst verneint, was mich sehr verstört hat.)

Können Sie Ihren Beruf in drei Sätzen beschreiben?

Mein Job ist es, Alternativen zu entwickeln, die hoffentlich ein Bewusstsein für unsere Bedingungen auf dem Planeten wecken können. Einschliesslich der Toxizität von Kulturen, die Gesellschaft und ihre Auswirkungen mit frischem Blick zu sehen und Kernthemen in Sprachen der Kunst, des Films oder anderer Medien zu übersetzen.

Darf ich vorsichtig anmerken, dass Sie sich unter anderem mit den Schnittstellen von der Welt 1.0 und 2.0, der Privatsphäre in Zeiten der Überwachung und Kontrolle, der DNA-Modifikation und tausend anderen Gebieten der Wissenschaft befassen. Also serious shit, wie wir in England sagen. Diese Komplexität spricht dagegen, dass Sie grosse Teile Bevölkerung erreichen.

Das hängt davon ab, von welcher Bevölkerung Sie sprechen. Es ist zweifellos in Amerika der Fall.

Es ist scheinbar überall in der westlichen Welt so, dass der Hass auf alles Elitäre, auf Kunst und Wissenschaft, populistisch befeuert wird.

Wichtig ist es auch, meinen Sinn für Humor beim Bilanzieren der Fragen unserer Zeit nicht zu verlieren. Das muss ich schon noch anfügen.

Lynn Hershman Leeson in Basel

Im Haus der elektronischen Künste in Basel ist zurzeit die erste Ausstellung der Künstlerin in der Schweiz zu sehen. Lynn Hershman Leeson zeigt aktuelle Werke, die sich mit dem biologischen Fortschritt, Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz und Antikörperforschung auseinandersetzen. Noch bis 5. August. Weitere Angaben zur Ausstellung finden Sie hier.

Trailer zu weiteren Werken der Künstlerin finden Sie hier und hier.

Wir leben in einer interessanten Periode der Entwicklung unserer Welt. Es scheint, als stünden wir vor einer neuen Stufe der Entwicklung. Wie immer, wenn Veränderungen in rasanter Geschwindigkeit erfolgen, gibt es eine Gegenbewegung, die sehr viel mit Angst vor dem Unbekannten zu tun hat.

Ich habe das Gefühl, dass jede Epoche ihre spezifischen Sichtweisen auf die Dinge schafft. Die Verwendung von Materialien und Techniken der Zeit, in der man lebt, ermöglicht, dass man sich unmittelbar am Begreifen und manchmal sogar an der Überwindung ererbter Beschränkungen beteiligt.

Gab es irgendetwas, das im sogenannten Früher besser war?

Was mich betrifft: Ich hatte mehr Energie, aber weniger Weisheit.

Sie haben Biologie studiert, ich wollte lange Mikrobiologin werden. Vermutlich ist das der perfekte Studiengang für spätere Künstlerinnen. Ich habe oft bedauert, nicht Wissenschaftlerin geworden zu sein, der romantischen Idee folgend, dass die Arbeit von Wissenschaftlerinnen weniger angreifbar ist als das Werk von Künstlern, die oft geschmäcklerisch und laienhaft kritisiert werden.

Ich denke, in beidem finden sich Elemente von Entdeckung und Dilettantismus, und beides bietet eine breite Palette an Angriffsmöglichkeiten.

Das wäre beruhigend.

Mit Ihrer Arbeit «Roberta Breitmore» haben Sie in den Siebzigerjahren jede Inszenierung in sozialen Medien und Second Life vorweggenommen. Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Ihnen die Idee zu der Arbeit kam?

Ja, es war im «Dante Hotel». Ich fragte mich, wie es wäre, eine fiktive Person zu erschaffen, die in Echtzeit lebte und reale Kultursysteme benutzte, um ihre eigene Geschichte einer bestimmten Zeit zu erzählen.

Lynn Hershman Leeson.
«Ich verschlüssele durch Kunst, was ich für das beste Verschlüsselungssystem halte.»

Ich schuf eine ortsspezifische Arbeit (obwohl die Bezeichnung noch nicht existierte), indem ich ein Hotelzimmer belegte. Für das gemietete Zimmer im «Dante Hotel» konnte man sich einen Schlüssel aushändigen lassen und damit diesen fremden Raum betreten. Die fiktiven Bewohner des «Dante Hotel» wurden mit ihren Artefakten eingeschlossen, die wiederum von Beobachtern entdeckt werden konnten. Es endete ein Jahr später, als jemand die Polizei rief und die Wachskörperteile auf die Hauptverwaltung brachte. Das schien ein passendes Ende für diese Narration.

Ich hoffte, ich könnte «die Essenz der Figur befreien», die vielleicht in dem Raum verblieben war, und ihr eine Erfahrung, ein echtes Leben in Echtzeit verleihen. So entstand Roberta Breitmore. Robertas Hintergrund, einschliesslich ihrer Ausbildung und frühen Kindheitstraumata, wurde aus gesammelten stereotypen psychologischen Daten zusammengesetzt. Roberta war in psychiatrischer Behandlung, benutzte eine bestimmte Sprache, sie hatte eine unverwechselbare Handschrift, gesicherte Kreditkarten, ein Girokonto und einen Führerschein. Überwachungsfotos, Artefakte und vorübergehende Hinterlassenschaften definierten Roberta und lieferten später glaubwürdige Belege ihrer Existenz.

Roberta suchte über eine Anzeige in einer Lokalzeitung einen Mitbewohner. Menschen, die auf ihre Anzeige antworteten, wurden unwissentlich Teilnehmer ihrer Erlebnisse und damit zu einem Teil ihrer Fiktion, so wie Roberta zu einem Teil ihrer Realität wurde. Roberta stellte eine gebrochene Identität dar, die ihre Gesellschaft sowohl widerspiegelte als auch reflektierte. Kleidung, Schecks, Kreditkarten, Führerschein, psychiatrische Berichte, Tonbandaufnahmen waren die archivierten Überreste ihres künstlichen Lebens. Sie war ein atmendes Simulacrum, eine Persona, die zuerst von mir selbst und dann von einer Reihe verschiedener Personen gespielt wurde. Roberta existierte sowohl im wirklichen Leben als auch in Echtzeit, und während des Jahrzehnts ihres Lebens beteiligte sie sich an vielen Unternehmungen, die typisch waren für die Kultur, in die sich einbrachte. Indem sie Artefakte der Kultur sammelte und direkt mit dem Leben interagierte, wurde sie zu einem Spiegel in beide Richtungen, der gesellschaftliche Vorurteile reflektierte und widerspiegelte. Roberta war ein Überwachungsziel, und Robertas manipulierte Realität wurde zum Modell für ein privates System interaktiver Performance. Statt auf einer Diskette oder auf Hardware wurden ihre Aufzeichnungen auf Fotos und in Texten gespeichert, die ohne vorbestimmte Abfolgen betrachtet werden konnten.

«Roberta Breitmore» in den 70er-Jahren als Graphic Novel: von Lynn Hershman Leeson zusammen mit dem Comiczeichner SPAIN. Lynn Hershman Leeson & SPAIN

Menschen haben einander schon immer bewertet. Fällt mir vollkommen unzusammenhängend ein. Sie lehnen alles ab, was sich von ihnen unterscheidet. So weit nichts Neues. Doch die potenzierende Wirkung der sozialen Medien und die Kriterien dafür, was von der Norm abweicht, die immer stromlinienförmiger geworden ist, könnten ein Grund der steigenden Zahl von Amokläufen von Jugendlichen sein.

Ich denke, dass Schiessereien sehr viel mit Waffenkontrolle zu tun haben, aber auch mit Entfremdung und Verleugnung. Einige haben Musik die Schuld gegeben, in manchen Fällen derjenigen von Marilyn Manson. Oder den Medien. Aber es ist ein komplexeres und tiefer gehendes Problem, das mit tief verwurzelten Vorurteilen zu tun hat.

Oder mit dem übermässigen Einsatz von Ritalin bei Heranwachsenden, um sie zu leistungsfähigen kleinen Maschinen zu machen.

Ist nach Ihrer Beobachtung der Drang des Individuums, in der Masse zu verschwinden und gleichzeitig ein überhöhtes Verständnis der sogenannten Individualität, die von Marketingagenturen befeuert wurde, um Turnschuhe zu verkaufen, Grundlage für die Schizophrenie, die viele in ein hundertprozentiges Über-Ich treibt?

Auf keinen Fall. Ich denke, dass Menschen im Allgemeinen in Angst leben und bis hin zu einem tragischen und beschränkenden Grad unterdrückt werden. Dies geschieht vorsätzlich, damit die Menschen mit einem Gefühl von Hilflosigkeit und Unfähigkeit davon abgehalten werden, eine Freiheit oder ein anhaltendes kreatives Dasein in der Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, aufrechtzuerhalten. Das glaube ich.

Ihre Kunst ist neben vielen anderen Gründen so grossartig, weil sie Entwicklungen vorweggenommen hat und -nimmt. Wie entstehen Ihre Arbeiten: Haben Sie diese Initialmomente, die die Grundlage zu einem neuen Kunstwerk bilden? Oder entstehen Arbeiten auch durch Ihr Interesse an einem bestimmten Aspekt unseres Lebens, den Sie dann so lange mit Forschungen unterfüttern, bis eine konkrete Arbeit als die Komprimierung all des Wissens zwingend scheint?

Ich denke über Ideen nach und recherchiere dann, meist über mehrere Jahre hinweg. Wenn ich Glück habe, kommt mir schliesslich die eine oder andere Idee, die sich im Laufe der Zeit neu definiert und die dann zu dem Werk wird.

In Ihrer Arbeit «Lorna» gibt es interaktiv bestimmbar drei mögliche Wege der Figur, die der Zuschauer bestimmen kann: bleiben, wo sie ist – gehen – oder sich umbringen.

Das sind eigentlich die drei Möglichkeiten, die fast jeder Mensch hat, um sein Leben zu beeinflussen. Ich habe lange überlegt, ob mir noch eine vierte Lösung einfällt.

Versuchen zu verstehen und dann zu überwinden, was angstvoll macht. Anders als Roberta, deren Abenteuer direkt in der Umgebung stattfanden, war Lorna eine agoraphobische Frau mittleren Alters, in Angst, ihre kleine Wohnung zu verlassen. Die Prämisse war: Je mehr sie zu Hause blieb und fernsah, desto angstvoller wurde sie – vor allem, weil sie die erschreckenden Botschaften aus der Werbung und den Nachrichtensendungen aufsaugte. Jedes Objekt in ihrem Zimmer ist nummeriert und wird zu einem Kapitel in ihrem Leben, das sich in verzweigte Sequenzen öffnet. Betrachter/Teilnehmer bekommen über diese Artefakte Informationen über ihre Vergangenheit, Zukunft und persönlichen Konflikte. Da der Betrachter/Teilnehmer ein nahezu identisches Gerät zur Steuerung der Disk-Handlung verwendet, wird ein metaphorischer Link oder Identifikationspunkt zwischen Betrachter und Referent hergestellt. Der Zuschauer/Teilnehmer aktiviert die Live-Action und trifft Ersatzentscheidungen für Lorna. Die Disk bietet drei unterschiedliche Enden, und sie kann vorwärts, rückwärts, mit erhöhter oder verminderter Geschwindigkeit angeschaut werden. Lorna könnte dort bleiben, wo sie war, Selbstmord begehen oder, die vielleicht schlechteste Wahl, nach Los Angeles ziehen. Diese Arbeit wurde gezeigt, als sie gemacht wurde, und tauchte dann über rund 25 Jahre ab.

Schade. Die Arbeit hätte täglich in den Werbepausen zwischen all dem Angst erzeugenden Fernsehmüll gezeigt werden müssen. Eine sehr persönliche Frage: Mich erregt oft die Forschung im Vorfeld eines Buches oder Stücks mehr als die Umsetzung, das Zusammenkochen von all den Informationen, ihre Transformation in Kunst. Wie geht es Ihnen?

Allerdings! Das ist ein fester Bestandteil der Arbeit. Ich geniesse die Recherche, bin von ihr überrascht, aber auch begeistert, wenn es sich komplett verändert und weit über das hinausgeht, was es zu Beginn war – und manchmal ist das die Kunst.

Sie leben in San Francisco, in unmittelbarer Nähe des Silicon Valley. Sie verkehren, nehme ich an, mit Wissenschaftlerinnen, mit Programmierern?

Ja.

Können Sie meine Beobachtung teilen, dass es vornehmlich weisse Männer sind, die mit der Idee arbeiten, alle Bereiche unseres Lebens durch neue Technologien zu ersetzen?

Nun, es begann mit Ada Lovelace, einer Frau, die das erste Computerprogramm schrieb. Und mit anderen Frauen wie Mary Shelley, die künstliche Intelligenz voraussah, und Hedy Lamarr, die das Konzept für Mobiltelefone schuf. Doch diese und viele andere Frauen haben es schwer, eingestellt oder gehört zu werden. Aber die Dinge ändern sich ein wenig, und Frauen werden Führungskräfte dieser Unternehmen; so wie sich die Kunstwelt hin zu mehr Inklusion verändert. Doch es ist ein langsamer Prozess, und was geschieht, ist noch nicht annähernd genug.

Und bedeutet das wohl, dass die nahe Zukunft und der Jetzt-Zustand der Welt wieder von Männern und deren Sicht auf das Leben geprägt werden? Haben Sie eine Erklärung dafür, warum IT-Technik im weitesten Sinne so wenig Frauen interessiert?

Siehe oben. Die Einstellungspraktiken halten sie vielleicht fern, aber viele arbeiten unabhängig.

Das Arpanet war einst ein Projekt, das Nerds mit dem Verteidigungsministerium entwickelt haben. Haben Sie das Netzwerk von Anfang an beobachtet?

Das habe ich.

Und geahnt, was daraus entstehen kann?

Ja, habe ich.

War das freie Netz als Hort des Wissens, das für alle zugänglich ist, und als Ort, an dem Menschen einander finden, immer eine Illusion?

Nein, es gab nur extrem wenige Menschen, die davon wussten und die darauf zugreifen konnten.

Haben Ihrer Beobachtung nach die Technologie, das Internet, die Endgeräte und sozialen Medien die Gehirne der Menschen verändert – vielleicht auch zum Positiven?

Ich denke, wir können uns nicht mehr so gut konzentrieren wie früher, und unsere Aufmerksamkeitsspanne ist kürzer, aber wir haben einen umfangreicheren Zugang zu Informationen. Es ist horizontal, nicht vertikal.

Sie lesen sicher Sachbücher? Science-Fiction? Gibt es ausserhalb der Wissenschaft etwas anderes, das Sie neugierig werden lässt? Inspiriert?

Fast alles inspiriert mich oder stachelt meine Neugierde an. Alles lässt sich von Grund auf verändern und kann eine vollkommen neue Perspektive ermöglichen.

Haben Sie jemals Programmieren gelernt oder bedauert, es nicht gelernt zu haben?

Ich lerne es, wenn ich es brauche. Aber meistens finde ich Leute, die es besser können als ich, und wir arbeiten zusammen. Das finde ich befriedigender.

Ein Thema in Ihren Arbeiten ist immer wieder die Überwachung und Kontrolle des Individuums. In China und England ist man schon ganz gut dabei, eine Art Überwachungsdiktatur zu errichten. Wie ist der Stand in den USA?

Es gibt eine Überwachungsrichtlinie für die meisten Aspekte, sogar für unsere Körper, unseren Blutkreislauf und unsere DNA.

Und hat es nur den Anschein, oder gibt es in Amerika von berühmten Whistleblowern wenig breiten Widerstand gegen das Sammeln und Nutzen von Daten, gegen Kontrolle und die Totalüberwachung?

Die meisten wollen sich dem nicht stellen, und schon gar nicht wollen sie es aufhalten. Wenn sie den Zustand der Verleugnung verlassen und begreifen, was sie verloren haben, wird es zu spät sein.

Ihre Arbeit «Agent Ruby» lese ich als Modell für die heutigen Sprachassistenten Alexa und was für dienende Frauennamen sie auch immer haben. Vielleicht haben Sie die Konzerne ja erst auf die Idee dieser perfekten Abhöranlagen gebracht.

Ich hoffe nicht. «Agent Ruby» begann 1995, Siri 2012. Agent Ruby und DiNA sind schlauer. «Agent Ruby» ist das erste Webprojekt, das in eine Museumssammlung aufgenommen wurde. Ihre Adresse ist www.agentruby.net. Sie ist das meistbesuchte Kunstwerk im Museum und hat achtzig Tonnen Antworten gesammelt. Rudolf übertrug Rubys Gespräche in Bücher. Weitere Daten warten darauf, abgebaut zu werden. Wie speichert man das, und wie greift man darauf zu? Wie überträgt man das? Stirbt das Stück jemals? Ich habe vier verschiedene künstliche Intelligenz-Bots entwickelt, Ruby, DiNA, einen Bot, der zwei Sprachen spricht, und einen, der jetzt geboren wird und der von Reverse-Engineering-Gesichtserkennung und DNA-Typen lernt. Dabei nimmt eine Software Bilder von Personen auf, ihre DNA-Herkunft wird offenbart, und die Informationen werden zu einem sich entwickelnden zusammengesetzten Archetyp hinzufügt. Die künstliche Intelligenz von Ruby und DiNA verbessert sich entsprechend ihrer Einsätze; denn sie sind lebendig und mutieren daher ständig. Ihre Antworten sind unberechenbar und sammeln immer mehr Daten. DiNA bietet Sprachsynthese, Spracherkennung und Echtzeit-Animation.

Können Sie sich vorstellen, dass eine Mehrzahl der Menschen vielleicht sehr glücklich mit einem Kontroll- und Belohnungs-System nach chinesischem Vorbild wäre? Endlich wird gutes Benehmen belohnt, endlich werden sie gesehen. Im Moment entscheiden sich Menschen noch freiwillig, die Spione in ihre Wohnungen zu stellen. Absehbar ist, dass man keine andere Wahl mehr hat, als seine Daten an Versicherungen und den Geheimdienst zu übermitteln. Vielleicht ist das vielen auch egal, weil es so theoretisch ist – wie Bakterien im Körper, die eventuell irgendetwas bewirken können. Irgendwann.

Ich glaube, die meisten Menschen erfassen nicht, in welchem Ausmass sie von Überwachung kompromittiert werden. Ich glaube, dass Datenbanken und Codes das Rückgrat einer sich herausbildenden Cyborg-Haltung sind, bei der Identität temporär ist und bei der Erfassung, Überwachung, Voyeurismus und Skopophilie zugleich Technik, Subjekt und das soziale Medium sind.

Verwenden Sie Verschlüsselung? Tun das viele amerikanische Menschen, oder ist das auch wieder so ein German-Angst-Ding?

Ja, ich habe das genutzt, aber es konnte von anderen geknackt werden; daher mache ich das nur noch selten. Ich verschlüssele durch Kunst, was ich für das beste Verschlüsselungssystem halte.

Glauben Sie, das Internet ist zu retten? Oder sind die Kräfte, für die es ein hervorragendes Werkzeug zur Überwachung geworden ist, viel zu einflussreich, sodass man irgendwann wieder auf 1.0-Geräte umsteigen muss, wenn man nicht gehackt oder von Trojanern überwacht werden will?

Es ist zu spät. Ausserdem gibt es andere Bereiche der Überwachung, etwa Nanobots im biologischen System, sie werden tiefgreifender und perfider verfolgt.

Stellen Sie sich auch so gerne die Welt nach uns vor?

Ich stelle mir laufend die technologischen Erweiterungen unserer Kultur, unseres Planeten und unserer Rasse vor.

Vieles, wie den DNA-optimierten Menschen, kann man sich nur sehr theoretisch vorstellen. Es werden gerade Versuche gemacht, Menschen ohne störende menschliche Eigenschaften wie Angst oder Mitgefühl zu erzeugen. Grossartig. Eine Welt voller empathieloser Menschen, kauffreudig, widerspruchslos, obrigkeitshörig. Kleine friedliche Kaufmaschinen könnte man kreieren. Fast wie jetzt – nur dass es noch Störfaktoren wie die Angst und das Mitgefühl gibt. Das könnte doch das Resultat an DNA-optimierten Menschen sein, oder fällt Ihnen noch etwas anderes ein?

Mitgefühl ist nicht hinderlich. Aber … die Entwicklungen sind noch nicht abgeschlossen.

Ich teile meine Arbeit ein in: B. C. (Before Computers) und A. D. (After Digital), und meine aktuelle Arbeit beinhaltet wieder B. C., aber diesmal als Bio-Informatik. Der «Infinity Engine» («Unendlichkeitsmotor») ist der Knotenpunkt der Installation eines Multiplattform-Projekts, das die ethischen Implikationen der aktuellen gentechnologischen DNA-Forschung und die Frage, wie man den Evolutionskampf überlebt, miteinander verknüpft und aufdeckt.

Die Arbeit enthält auch eine Reverse-Engineering-Komponente der Gesichtserkennung, die die Herkunft der Benutzer bestimmt. Und das könnte der Schrecken der Unsterblichkeit sein: dass, um unsterblich zu werden, unsere DNA, das perfekte Archiv, bis zur Unkenntlichkeit mutieren wird.

Einerseits kann man sagen, ein wenig Optimierung vor allem in emphatischer und intellektueller Hinsicht kann den Menschen nicht schaden. Auf der anderen Seite vermute ich, es wird bald zu einer noch stärkeren Trennung der Gesellschaft kommen. Diejenigen, die sich perfekte Nachkommen leisten können, und die Aussterbenden, Imperfekten. Endlich können wir die Evolution selber bestimmen!

Sie müssten meine Präsentationen sehen – es gibt ein bemerkenswert starkes Bedürfnis, sich durch DNA-Nachbearbeitung und CRISPR-Technologien oder epigenetische Veredelung vor der Geburt neu zu gestalten. Das Vermögen, das menschliche Genom zu verändern und Menschen mit Fähigkeiten auszustatten, die sie nie zuvor hatten. Wir haben ein ganzes Reich von Genen, Tieren und Pflanzen, und was seit zwanzig Jahren möglich ist, ist der Transfer dieser Gene. Wir können im Prinzip das Sonar einer Fledermaus, die Sehschärfe eines Falken, die Langlebigkeit einer Schildkröte oder sogar einer Qualle übertragen.

Meine Installation wurde in DNA selbst umgewandelt. Und Novartis hat einen nach mir benannten Antikörper geschaffen, der auch in diesem Stück ausgestellt wird, als letzter Raum, eine Art von Etonné Donné, ein Duchamp-Moment, mit Bezug auf Yves Kleins «Leere» («Void»). Ein Haiku oder eine konzentrierte Essenz, reduziert auf eine winzige Ampulle mit DNA und Kristallen eines Antikörpers.

Mir wurde klar, dass jede Katastrophe eine Chance mit sich bringt. Meine Arbeit über fünfzig Jahre hinweg nicht zeigen zu können, schuf vor drei Jahren die Gelegenheit, sie vorzustellen. Sie hatte die Patina von Zeit und Geschichte. Es gibt jetzt eine neue Gelegenheit, an einem überarbeiteten Objektiv mit einer konstant erweiterten Blende mitzuwirken und sich auf eine Zeit der Toleranz und Echtzeitverbindung zu freuen.

Lang lebe Novartis! Apropos, ich liebe dieses Google-Patent. Wissen Sie, was aus dem geworden ist?

Ich glaube, wir sind dem entwachsen.

Google ist ganz weit vorne in der Kartografierung von allem, auch in der Kartografierung des Gehirns. Kartografiert man nicht nur, was man sich aneignen will, oder ist das kulturpessimistisches Geraune aus der Alten Welt?

Ich bin mir da nicht so sicher. Wir kolonisieren Zellen von allem.

Die Euphorie des Silicon Valley – die Atmosphäre der Weltrevolution – ist einer Ernüchterung gewichen. Plattformen, die nichts erzeugen, sind grösser als alle 1.0-Firmen, sie erzeugen nichts ausser: Abhängigkeit.

Ja. Fast alle sind abhängig. Sogar Säuglinge.

Eine Frage, die eigentlich mit nichts zu tun hat, aber: Fallen Ihnen rechtskonservative gute Künstler oder Künstlerinnen ein?

Ich kenne keine. Vielleicht ist es nicht möglich, beides zugleich zu sein. Ich habe noch nie eine oder einen getroffen.

Und eine Frage, die ich immer furchtbar finde, aber vielleicht geht es Ihnen anders: Woran arbeiten Sie gerade?

Haha. Ich habe gerade einen Antikörper namens Lynn Hershman und einen anderen namens Erta gemacht, ich habe gerade eine riesige, 460 Meter grosse Installation in DNA umgewandelt und mehrere ortsspezifische Arbeiten in Riga, Berlin und anderen Orten geschaffen. Und als Nächstes mache ich wohl einen Film oder zwei, den letzten Teil meines Tagebuchs und Teil 3 meiner «Teknolust»-Trilogie. Ich hoffe, das wird im kommenden Jahr geschehen.

Das ist ein Trost. Vielen Dank für Ihren Optimismus. Und Ihre Zeit! Und Ihre Kunst. Danke für alles.