Unter Vampiren
Was mich eine Begegnung mit der Performance-Künstlerin Marina Abramović lehrte.
Von Olivia Kühni, 16.07.2018
Meine Reise endet damit, dass Marina Abramović mich anschaut mit ihren gelbgrünen Löwinnenaugen, darin die ganze Welt, und ich mich schäme. Ich schäme mich auf dem Weg zum Bus, in der Sommerhitze von Basel, ich schäme mich beim Warten auf dem Bahnhof und im Zug.
Dann endlich, zu Hause, verstehe ich und zucke mit den Schultern.
Ich habe nur wenige Heldinnen in meinem Leben; Marina Abramović gehört dazu. Sie rührt mich, weil ich in ihrem Werk das Dilemma vieler Frauen, vor allem schöner Frauen, erkenne: Ich werde geliebt, ich habe Macht – wenn ich mich zur perfekten Projektionsfläche mache. Wenn ich mich nach meinen Bedingungen missbrauchen lasse. Wenn ich die Kontrolle habe über die Gewalt, die mir angetan wird. Ich bestimme, wann die Gewalt beginnt und wann sie aufhört, und ich bestimme auch, dass sie mich nicht berührt.
Es ist die Urform weiblicher Macht in patriarchalen Gesellschaften, und selbstverständlich ist sie supersexy. Und tief verletzend. Es braucht einen stählernen Willen, sie zu überleben, wie ihn Abramović wahrscheinlich hat, vielleicht auch Lady Gaga, die bei ihr das Durchhalten körperlicher Strapazen trainierte, einsam in der Natur, hungrig. Wahrscheinlich auch Madonna.
Marina Abramović, 1946 in Belgrad als Tochter von Partisanen geboren, ist eine der bedeutendsten Performance-Künstlerinnen der Welt. Ihre Auftritte thematisieren Gewalt und Schmerz, Übergriffe und die stumme, teilweise sadistische Mitwirkung von Zeugen. Ausserdem, subtiler, die Macht und Freiheit, die es mit sich bringen kann, das zu überleben und auszuhalten.
«Mir wurde klar, dass ich mich mit meinen Ängsten konfrontieren muss», sagt Marina Abramović im neuen Buch «Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović – Künstlerin trifft Jeannette Fischer», das sie zusammen mit der Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer verfasst hat. «Dadurch befreite ich mich von der Angst vor dem Blut.»
Dieser Text nimmt Bezug auf die Buchvernissage in der Fondation Beyeler in Anwesenheit von Abramović und Fischer.
Immer wieder hat Abramović über die Einsamkeit gesprochen, die ihr Weg mit sich bringt. Hierzulande zuletzt in einem Interview mit der «SonntagsZeitung»: «Man erhält diese unglaubliche Liebe eines grossen, anonymen Publikums, aber diese Anerkennung isoliert dich, sie erschafft ein Idol, das die Leute lieben. Aber man will als menschliches Wesen geliebt werden. Das ist etwas anderes.»
Es ist ein interessantes Interview. Aber eines, das den üblichen Verlauf nimmt: Der Journalist fragt, Abramović entblättert sich, sofort, bereitwillig. Sie performt. Sie flirtet. Die Rollen stehen fest. So, wie sie auch bei meiner Begegnung mit ihr feststehen, unvermeidlich, unwiderruflich. Und genau das ist der Grund für meine Scham.
Die Höllenmaschine, die sie antreibt
Abramović kam nach Riehen bei Basel, um ein Buch vorzustellen, das sie gemeinsam mit der Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer geschrieben hat. Ich halte es für das mutigste, das sie bislang veröffentlicht hat. Vier Tage lang haben die beiden Frauen die Tiefen Marina Abramovićs erkundet, und das Transkript zeigt tatsächlich den Menschen hinter der Projektionsfläche. Verwundert über sich selbst, nachdenklich darüber, warum sie sich die körperlichen und seelischen Qualen ihrer Arbeit antut, erschöpft.
Künstler, wie übrigens aussergewöhnliche Unternehmerinnen auch, scheuen sich üblicherweise, die Höllenmaschine genau anzuschauen, die sie antreibt – geschweige denn, darüber zu sprechen. Darum ist dieses Buch so mutig. Weil es den hochsensiblen Motor offenlegt. Und auch, weil es die Botschaft enthält, dass es vielleicht langsam reicht.
«Ich bin so müde von all dem», sagt Abramović in dem Buch. «Ich will einfach nur Ich sein, das wahre Ich, nicht diejenige, die die anderen wollen.» Und: «Ich habe genug.»
Das wäre der wirkliche Sieg. Die Macht genutzt zu haben, um zur Freiheit zu kommen. Davonzugehen. Den Kampf zu lassen, gerade den Kampf, den man beherrscht. Und sich in eine Wiese zu legen.
Was für ein Schritt. Ich will, gerade darum, unbedingt zu dieser Vernissage, schaffe es auch trotz ausverkauften Plätzen, setze mich leise seitlich in die vorderste Reihe und warte.
Ich schaue und schaue
Der Aula-ähnliche Saal füllt sich mit Menschen – viele junge, sauber geschrubbte in Gruppen, sie sprechen Russisch, Portugiesisch, Französisch, einige ältere europäische Paare, eine Handvoll Schweizer Mäzene. Nur vereinzelt junge Studentinnen, Künstlerinnen. Schüchterne Beobachter. «Vampire», schiesst es mir durch den Kopf. Energiesauger. Ich bin, wie sich herausstellt, eine von ihnen.
Als Abramović sich setzt, starre ich sie an. Ich will sie anfassen. Ich schaue und schaue und schaue, spüre ihre Verletztheit und ihre Härte und werde noch gieriger. Die Vampire stellen die üblichen Fragen – zu Abramovićs Kindheit, ihren Männern, ihrem Rat an junge Künstler. Eine Frau lässt sich von ihr umarmen. Dann endlich, vielleicht von Eifersucht ernüchtert, erinnere ich mich, warum ich eigentlich hier bin, und stelle meine Frage.
«Wissen Sie, warum Sie den Entscheid gefällt haben, dass jetzt genug ist mit Projektionsfläche? Dass Sie freundlich zu sich sein wollen. Warum?»
Sie blinzelt, nur kurz, winkt dann ab. «My God. Mein Glück ist ja wohl keine so schlechte Sache.» Nächste Frage.
Ich werde still. Stelle mich an, wie ferngesteuert, um ein Autogramm zu holen, und blicke in ebenjene Grosskatzenaugen. Sie blicken zurück: müde, wild, warnend.
Was habe ich mir eigentlich gedacht?, begreife ich zu Hause.
So leicht entkommen wir unseren Dämonen nicht. Was will ich bei Marina Abramović? Kämpf auf deinem eigenen Pfad, Jungtier. Der Weg in die Freiheit ist noch lang.