Darf man Sex kaufen, Frau Angelini?

Anstatt die Prostitution zu verbieten, sollte man sie vollständig entkriminalisieren, fordert Rebecca Angelini von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration im Interview. Und prangert Bevormundungen und bürgerliche Moralvorstellungen an.

Von Carlos Hanimann, 13.07.2018

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Blick durschs Fenster in eine Bar, wo mehrere Prostituierte zusammensitzen und miteinander sprechen
«Keine Frage: Sexarbeit kann Ausdruck von Ungleichheit sein. Die Sexarbeit macht Armutsgefälle und Frauenverachtung sichtbar. Aber sie ist nicht die Ursache», sagt Rebecca Angelini (Bild: Sexarbeiterinnen in Genf). Didier Ruef/LUZ

Dürfen Männer für Sex bezahlen? Oder sollen Freier bestraft werden, wie in Schweden? Es ist eine alte Debatte. Die Frauenzentrale Zürich hat sie vor zwei Wochen neu lanciert und behauptet: «Prostitution ist ein Verstoss gegen die Menschenwürde, Prostitution verhindert die Gleichberechtigung, Prostitution bedeutet immer auch Gewalt gegen Frauen.»

Die Kampagne löst ein grosses Echo aus. Ein Video, in dem Schwedinnen und Schweden sich darüber ärgern, dass sie immer wieder mit der rückständigen Schweiz verglichen werden, wurde hundertfach geteilt. «Vielleicht waren wir mal brutale Wikinger», spricht ein schwedischer Schauspieler darin in die Kamera, «aber ihr lebt immer noch im Mittelalter.»

Das sehen nicht alle so. Die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich hat protestiert, genau wie Amnesty International, die Frauenzentrale Bern und die Aidshilfe Schweiz. Sie erinnern daran, wie umstritten das schwedische Modell ist.

Auch innerhalb des Dachverbands, der die Kampagne verantwortet, stösst das Vorpreschen der Leitung auf Kritik. Rebecca Angelini von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) ärgert sich darüber, dass die Leitung einen Kurs diktiere, ohne die Basis zu befragen. Die FIZ steht täglich mit Sexarbeiterinnen in Kontakt, berät sie. Angelini spricht sich gegen das schwedische Modell aus: «Die Kampagne macht alle Sexarbeiterinnen zu Opfern. Sie spricht ihnen jede Fähigkeit ab, vernünftige Entscheidungen zu treffen.»

Frau Angelini, in einem Kampagnenvideo der Frauenzentrale Zürich vergleichen Schwedinnen die Schweizer mit Hinterwäldlern, weil der Sexkauf in der Schweiz nicht verboten ist. Müsste sich die Schweiz Schweden zum Vorbild nehmen?
Nein. In Schweden ist es verboten, Sex zu kaufen. Vordergründig werden die Freier kriminalisiert, nicht die Sexarbeiterinnen. Tatsächlich aber erschwert die Gesetzgebung das Leben der Frauen: Sie können ihr Geschäft nicht anmelden, keine Salons führen. Sie müssen ihr Geschäft im Verborgenen betreiben und werden dadurch in den Untergrund gedrängt.

Das schwedische Modell gilt als erfolgreich: Die Prostitution sei zurückgegangen.
Die offiziellen Studien der schwedischen Regierung sind umstritten. Es heisst zwar, dass etwa die Sexarbeit auf dem Strassenstrich verschwunden sei. Aber es gibt Zweifel daran, ob das mit dem Einführen des Sexkaufverbots zusammenhängt. Etwa zur gleichen Zeit kam nämlich das Internet auf. Das Anwerben hat sich ins Netz verschoben. Die Sexarbeit ist nicht weg, nur weniger sichtbar. Zudem gibt es methodische Mängel an den Studien, weil es keine verlässlichen Daten über die Zeit vor der Einführung des Gesetzes gibt.

Rebecca Angelini.
«Natürlich muss man Opfer von Frauenhandel ernst nehmen. Aber man soll verdammt noch mal auch ernst nehmen, wenn eine Frau sagt, dass sie kein Opfer ist.»

Das Modell kommt trotzdem gut an. Andere europäische Staaten wie Frankreich haben es übernommen.
Ja, aber auch hier gibt es Kritik. Kürzlich ist eine Studie von Médecins du Monde erschienen, die zeigt, wie sich die Situation der Sexarbeiterinnen verschlechtert hat. Es gibt weniger Freier und damit weniger Geschäfte. Übrig geblieben sind die «schlechten Freier». Die Frauen sind stärker von ihnen abhängig, das Geschäft findet versteckt statt, alles muss schnell gehen. Das Risiko für die Frauen hat sich erhöht. Mehr als die Hälfte der Freier verlangt Sex ohne Kondom, die Verbreitung von Syphilis hat zugenommen, und die Repression durch die Polizei ist stärker als zuvor.

Es gibt doch auch Sozialprogramme: Man hilft den Frauen auszusteigen.
Es gibt soziale und repressive Massnahmen. Das Problem ist, dass die repressiven Massnahmen überwiegen. Sehr wenige Sexarbeiterinnen haben beispielsweise Zugang zum staatlichen Ausstiegsprogramm. Hinzu kommt: Genutzt wird es hauptsächlich von Französinnen. Für Migrantinnen, die vulnerabelsten Frauen, ist es kaum zugänglich. Dafür hat die Stigmatisierung massiv zugenommen und die Selbstbestimmung abgenommen.

Das schwedische Modell hat den Sexarbeiterinnen nicht geholfen?
Nein, im Gegenteil: Es hat zu einer Verschlechterung ihrer Situation geführt. Die Sexarbeit wird verteufelt. Das ist auch das erklärte Ziel des schwedischen Modells: die Sexarbeit zum Verschwinden zu bringen. Man nimmt bewusst in Kauf, dass man den Betroffenen das Leben schwer macht, und begründet das mit einem höheren Ziel: einer prostitutionsfreien Gesellschaft.

Die Frauenzentrale sagt in ihrer Kampagne, Prostitution verunmögliche Gleichberechtigung.
Keine Frage: Sexarbeit kann Ausdruck von Ungleichheit sein. Die Sexarbeit macht Armutsgefälle und Frauenverachtung sichtbar. Aber sie ist nicht die Ursache.

Auf der Plattform heisst es auch, Prostitution bedeute immer auch Gewalt gegen Frauen.
Dieser Opferdiskurs entspricht nicht der Realität. Ich weiss nicht, ob Frau Gisler von der Frauenzentrale mit Sexarbeiterinnen spricht. Sagt sie ihnen dann: Ja, wissen Sie denn nicht, dass Sie ein Opfer sind? Dahinter steckt ein «Weisser-Retter-Komplex», der alle migrantischen Sexarbeiterinnen zu Opfern macht. Ja, es gibt Gewalt. Ja, es gibt Ausbeutung. Aber die gibt es auch in der Hausarbeit, in der Landwirtschaft, in der Baubranche. Wenn Gewalt in der Sexarbeit häufiger vorkommt als in anderen Branchen, dann liegt es daran, dass die Sexarbeiterinnen stärker prekarisiert sind: Es geht um illegalisierten Aufenthalt, Stigmatisierung, Rechtsunsicherheit. Das macht sie verletzlicher. Eine Sexarbeiterin überlegt sich zweimal, ob sie zur Polizei gehen soll, wenn sie Gewalt erlebt. Oft wird ihr gar nicht geglaubt. In Schweden ist die Situation noch heikler. Wenn eine Frau in ihrer Wohnung anschafft und Opfer von Gewalt wird, kann sie nicht zur Polizei, weil sie sonst Arbeit und Wohnung verliert.

Sollen Männer Sex kaufen dürfen?
Eines vorweg: Es gibt auch männliche Sexarbeit, und es gibt auch Frauen, die Sex kaufen. Aber es ist schon so: In der Regel kauft ein Mann mit Geld Sex von einer – meist migrantischen – Frau ohne Geld. Noch einmal: Sexarbeit ist Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen, aber sie ist nicht die Ursache. Wenn man die Verhältnisse ändern will, sollte man die Strukturen infrage stellen und den Kampf gegen Frauenverachtung nicht auf dem Rücken der Sexarbeiterinnen austragen.

Sie lehnen ein Prostitutionsverbot also ab.
Ganz klar. Man sollte die Sexarbeit vollständig entkriminalisieren. Ein Verbot – oder auch ein schwedisches Modell, wie es die Frauenzentrale fordert – bringt nichts, es schadet den betroffenen Frauen. Ziel muss sein, die Verhältnisse so zu ändern, dass alle eine echte Wahlfreiheit haben, ob sie der Sexarbeit nachgehen wollen oder nicht.

Wer macht schon freiwillig Sexarbeit?
Gegenfrage: Wer putzt schon gerne freiwillig? Freiwilligkeit ist eine ungeeignete Kategorie, es geht um Selbstbestimmung: Dass eine Frau den Preis bestimmt, dass sie ihr Geld selber verwaltet, dass sie Freier ablehnen, dass sie sich vor Krankheiten schützen kann. Dass sie letztlich selber entscheidet, ob sie einen anderen Beruf ausüben will.

Die Frauenzentrale sagt in ihrer Kampagne, 85 bis 95 Prozent wollten aus der Prostitution aussteigen.
Wir machen in unseren Beratungen andere Erfahrungen. Natürlich gibt es die Frauen, die aussteigen wollen, wenn sie zum Beispiel älter werden und das Geschäft nicht mehr so läuft. Aber ein Umstieg scheitert oft am Stigma, an den Lücken im Lebenslauf. Wenn es gelingt, gehen die Frauen vielleicht putzen oder arbeiten im Gastgewerbe. Manche sind zufrieden damit, andere nicht. Kürzlich hatten wir gerade so einen Fall, wo eine Frau zur Sexarbeit zurückkehrte. Sie sagte: Ich bin doch nicht blöd und mache mich 14 Stunden am Tag krumm, und der Chef schnauzt mich die ganze Zeit an. Da bin ich lieber meine eigene Chefin und arbeite, wie ich will.

Jetzt mal ehrlich: Wie viele Frauen arbeiten wirklich selbstbestimmt in dieser Branche?
Die Sexarbeiterinnen lassen sich in drei Gruppen teilen. Es gibt die sogenannten Happy Hookers: vorwiegend Dominas in Salons, die andere Möglichkeiten hätten, sich aber für die Sexarbeit entscheiden. Dann gibt es die Frauen, die wenig andere Optionen haben, aber die Sexarbeit dennoch vorziehen. Und dann gibt es den Frauenhandel, wo Gewalt und Ausbeutung extrem sind. Das ist die Ausnahme, etwa 10 Prozent. Die selbstbestimmte Sexarbeit ist eindeutig die Regel.

Sie beschönigen.
Glauben Sie mir, ich romantisiere bestimmt nicht. Sexarbeit ist höchst prekäre Arbeit: wenig Rechte, hohe bürokratische Hürden, Schikane, Repression, Kontrolle, Illegalisierung, Stigma. Was mich ärgert, ist, dass bei der Sexarbeit andere Massstäbe gelten.

Wie meinen Sie das?
Hausarbeit ist auch prekär. Da käme es aber niemandem in den Sinn, sie zu verbieten. Bei der Sexarbeit ist das anders: Bei keinem anderen Beruf wird derart über die Köpfe der Betroffenen hinweg bestimmt, was okay sei und was nicht.

Woran liegt das?
Sehen Sie sich die aktuelle Kampagne an: Da behaupten allerlei Männer und Frauen Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Sie entscheiden aufgrund ihrer eigenen Befindlichkeit, dass Sexarbeiterinnen Opfer seien. Sie wollen bestimmen, welche Arbeit zumutbar sei. Sie entscheiden, was gut sei für diese Frauen. Aber sie tun den Sexarbeiterinnen damit keinen Gefallen. Sie bevormunden sie. Da frage ich mich schon: Geht es ihnen überhaupt um die Frauen?

Worum soll es ihnen sonst gehen?
Die ganze Diskussion hat viel mit bürgerlichen Moralvorstellungen zu tun, mit dem Glauben, Sexualität dürfe nur mit Liebe, nicht aber mit Geld zu tun haben. Es geht auch darum, Abweichungen von der eigenen Norm zu sanktionieren. Nicht zuletzt geht es auch darum, weibliche Migration, Sexualität und Arbeit zu kontrollieren, zu stigmatisieren und zu kriminalisieren. Es ist doch scheinheilig: Privilegierte weisse Mittelstandsfrauen wollen Sexarbeit verbieten, aber sie finden es dann in Ordnung, wenn eine Migrantin ihr Klo putzt. Warum? Weil sie die Putzfrau ja angeblich gut bezahlen. Wenn man den Sexarbeiterinnen helfen will, dann soll man ihre Arbeit nicht verbieten, sondern ihre Arbeitsbedingungen verbessern.

Nur die wenigsten können sich vorstellen, ihr Intimstes für Geld zur Verfügung zu stellen.
Ja, wir können uns das als privilegierte Menschen vielleicht nicht vorstellen, weil wir diese Arbeit nicht zumutbar finden. Für Frau Gisler von der Frauenzentrale ist es vielleicht auch nicht zumutbar, mein Klo zu putzen. Aber für eine Putzfrau sehr wohl. Unsere eigene Befindlichkeit ist nicht entscheidend.

Was dann?
Dass man Sexarbeiterinnen ernst nimmt. Das grösste Problem ist nicht die Penetration, die sexuelle Dienstleistung. Das Problem sind die widrigen Umstände. Viele Frauen führen ein Doppelleben. Zu Hause können sie beim Abendessen nicht über die Arbeit reden. Das macht ihnen zu schaffen: Sie fürchten, dass die Nachbarn über sie tuscheln, die Lehrer ihrer Kinder davon erfahren. Wir sollten also aufhören, diese Frauen zu stigmatisieren und sie ständig zu Opfern zu machen. Natürlich muss man Opfer von Frauenhandel ernst nehmen. Aber man soll verdammt noch mal auch ernst nehmen, wenn eine Frau sagt, dass sie kein Opfer ist.

Wie schützt man Sexarbeiterinnen am besten?
Indem man ihnen legale Arbeits- und Migrationsmöglichkeiten gibt. Nicht nur im Sexgewerbe, sondern generell. Dann können sich die Frauen auch andere Arbeiten suchen, wenn sie wollen. Man muss ihnen Zugang zu Gesundheit, Unterstützung und Information bieten. Man muss ihre Rechte stärken, nicht schwächen.