Kurzer Prozess
Ein Berner verursacht im Kanton Bern einen schweren Verkehrsunfall und landet in Zürich vor dem Strafrichter. Warum? Das bleibt auch an der Hauptverhandlung ein Rätsel. Typisch für das sogenannte abgekürzte Verfahren, das immer beliebter wird.
Von Brigitte Hürlimann, 11.07.2018
Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 18. Juni 2018, 13.30 Uhr
Fall-Nr.: GG180078
Thema: Mehrfache fahrlässige Körperverletzung, vorsätzliches Fahren in fahrunfähigem Zustand
Was mit einem geselligen Samstagnachmittag beginnt, endet im Desaster. Nur mit viel Glück gibt es keine Toten, doch innert Sekunden ändert sich das Leben eines 54-jährigen Baumaschinisten aus dem Kanton Bern komplett. Schuld ist nur er allein, das gibt er zu – reumütig, kleinlaut und einsichtig. Wie es zum Vorfall kam, das erzählt er am Bezirksgericht Zürich, vor dem Einzelrichter in Strafsachen. Und wer bei diesem Prozess auf der Zuschauerbank sitzt und zuhört, stellt sich von der ersten bis zur letzten Minute vor allem eine Frage: Warum bloss wird ein Berner Verkehrsunfall von der Zürcher Staatsanwaltschaft untersucht und vor einem Zürcher Gericht verhandelt?
Doch schön der Reihe nach, zurück zu jenem Samstagnachmittag im April 2015, als das Unglück seinen Lauf nahm.
Der Tag beginnt mit einem Besuch bei den Eltern, die im Altersheim leben. Danach fährt der Junggeselle mit seinem Geländewagen zu einem Restaurant im Berner Oberland, um einen Kaffee zu trinken. Die Freude und die Überraschung sind gross, als er in der Beiz auf alte Kameraden trifft, die er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Aus dem Kaffeekränzchen wird ein Biergelage. Einer nach dem anderen zahlt eine Runde, auch der Baumaschinist macht mit, und am Schluss kippen sie alle noch einen Schnaps – schliesslich ist Wochenende, und man soll die Feste feiern, wie sie fallen.
Gegen 19 Uhr löst sich die Runde auf, die Kameraden steigen in ihre Autos und fahren davon. Beim Baumaschinisten wird man wenig später eine Blutalkohol-Konzentration von mindestens 1,9 Gewichtspromille ermitteln. In diesem Zustand will er nach Hause fahren, er kennt die Strecke bestens, mit flotten 90 Stundenkilometern nimmt er eine Rechtskurve unter die Räder – und verliert die Herrschaft über seinen bulligen Wagen.
Er überfährt die Sicherheitslinie, gerät auf die Gegenfahrbahn und kollidiert frontal mit einem entgegenkommenden Auto. Sämtliche fünf Insassen dieses Fahrzeugs werden verletzt, zum Teil erheblich. Einer der Männer erleidet einen Dünndarm-Abriss und muss notfallmässig operiert werden, alle fünf sind nach dem Unfall wochenlang oder gar monatelang arbeitsunfähig. Doch um es mit den Worten von Einzelrichter Rok Bezgovsek zu sagen: Es hätte auch Tote geben können.
Entmachtung der Gerichte
Weil der Unfallverursacher von Anfang an alles zugibt und weil sowohl die Opfer als auch Staatsanwalt Jürg Boll damit einverstanden sind, wird die Angelegenheit im abgekürzten Verfahren abgewickelt. Das heisst: Der Baumaschinist und sein Zürcher Verteidiger Yves Blöchlinger einigen sich mit dem Staatsanwalt auf einen Deal und tragen diesen vor das Strafgericht. Der Richter muss nur darüber befinden, ob die Durchführung eines abgekürzten Verfahrens rechtmässig und angebracht ist, der Deal mit den Akten übereinstimmt und die beantragte Sanktion angemessen ist. An der öffentlichen Hauptverhandlung darf er keine Beweise mehr erheben, aber den Beschuldigten immerhin noch befragen.
Das Gericht hat herauszufinden, ob der Mann wirklich geständig ist. Trifft dies nicht zu oder ist sonst eine Voraussetzung nicht gegeben, schickt der Richter den Fall zurück an die Staatsanwaltschaft und bewirkt damit die Durchführung eines sogenannt ordentlichen Verfahrens – das allerdings längst zum Ausnahmefall geworden ist. Der Alltag im Strafrecht wird von den Strafbefehlsverfahren und – seit Inkrafttreten der ersten Schweizerischen Strafprozessordnung im Jahr 2011 – von den abgekürzten Verfahren dominiert. Beides bedeutet eine Entmachtung der Gerichte, denn die wesentlichen Schritte und Entscheide werden von der Staatsanwaltschaft gefällt – in geheimen Verfahren. Mit Gewaltentrennung hat dies nicht mehr viel zu tun.
Einzelrichter Rok Bezgovsek stimmt dem abgekürzten Verfahren zu und erhebt die Anklage gegen den Baumaschinisten zum Urteil. Der Berner wird zu einer einjährigen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, bei einer Probezeit von zwei Jahren: wegen mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung und vorsätzlichen Fahrens in fahrunfähigem Zustand. Er hat die Zivilforderungen der fünf Geschädigten anerkannt und bereits damit begonnen, die Schulden abzustottern: Hunderttausende von Franken.
Immerhin kann er seit kurzem wieder arbeiten, er hat den Führerausweis zurückbekommen. Während der Zeit, in der er nicht fahren durfte, fand er keine Arbeitsstelle und wurde zum Sozialfall; er, der sein Leben lang wacker und zuverlässig gearbeitet hatte. Es ist ihm im Gerichtssaal anzusehen, wie er sich dafür schämt; für die Sozialhilfe und vor allem für die Blaufahrt, die er als riesigen Blödsinn bezeichnet, als einmaligen Ausrutscher. So etwas werde nie mehr passieren, beteuert er. Und er sei heute konsequent abstinent.
Warum bloss Zürich?
Doch das alles erklärt nicht die Zuständigkeit der Zürcher Strafverfolger und Gerichte. Erst auf Nachfrage bei Staatsanwalt Jürg Boll, der nicht am Prozess teilnimmt, klärt sich das Rätsel. Der Baumaschinist war bereits vor der Blaufahrt in eine strafrechtliche Untersuchung verwickelt, die sich im Kanton Zürich abspielte. Der Vorwurf lautete auf Veruntreuung, der Verdacht liess sich nicht erhärten, das Verfahren wurde eingestellt. Noch vor der Einstellung kam es jedoch zum Unfall im Bernischen. In der Schweiz gilt in einer solchen Konstellation die strafprozessuale Regel, dass nur ein Kanton untersucht, wenn es um vermutete Straffälle geht, die in mehreren Kantonen stattgefunden haben sollen. Zuständig ist jener Kanton, in dem das Delikt mit der höchsten Strafandrohung zur Debatte steht – das war die Veruntreuung, und das war der Kanton Zürich. Der blieb auch dann noch zuständig, als die Veruntreuungsvorwürfe verpufften.
Von alldem ist im Gerichtssaal nicht die Rede: Ein Paradebeispiel dafür, wie die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung ad absurdum geführt wird, gerade beim abgekürzten Verfahren. Immerhin hat Richter Bezgovsek den Berner Blaufahrer eingehend befragt, ihm ins Gewissen geredet, ihn nicht so einfach mit einem Deal im Sack davonziehen lassen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Nicht selten dauern Prozesse im abgekürzten Verfahren zehn Minuten: Befragung, Beratung und Urteilseröffnung inklusive.
Bei den Beschuldigten und innerhalb der Anwaltschaft sind die abgekürzten Verfahren beliebt. Zeigt sich der Klient von Anfang an geständig, wird die Staatsanwaltschaft nicht alles akribisch untersuchen. Im Gegenzug verzichtet der Beschuldigte auf die Rechtsmittel oder auf die Chance eines Freispruchs – was zur paradoxen Situation führen kann, dass ein Mittäter oder gar der Haupttäter im ordentlichen Verfahren freigesprochen wird. Dem zuvor im abgekürzten Verfahren verurteilten «Geständigen» wird es verwehrt, mittels Revision doch noch zu einem Freispruch zu kommen: So hat es das Bundesgericht kürzlich entschieden, und zwar ausgerechnet im Fall eines Gehilfen. Dieser muss nun damit leben, rechtskräftig verurteilter Gehilfe eines Nichttäters zu sein.
Rechtsprofessoren befürchten denn auch, dass die Gefahr von Fehlurteilen in abgekürzten Verfahren gross ist. Die Beschuldigten lassen sich darauf (und auf ein frühes Geständnis) ein, um aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden oder um die Sache einfach schnell beenden zu können – seien sie schuldig oder nicht.
Überhaupt ritzt der Deal am einen oder anderen strafprozessualen Grundsatz; etwa an der Unschuldsvermutung oder an der Pflicht der Strafverfolger, sämtliche bedeutsamen Tatsachen abzuklären. Nicht zulässig ist es im Übrigen, an einem Prozess im abgekürzten Verfahren die Aussage zu verweigern – weil dann der Richter nicht überprüfen kann, ob der Beschuldigte tatsächlich geständig ist.
Auf diesen Umstand weist Rok Bezgovsek den 54-jährigen Berner pflichtbewusst hin, gleich zu Beginn der Verhandlung. Doch der Mann antwortet brav und knapp auf die richterlichen Fragen und nutzt auch das Schlusswort für eine erneute Entschuldigung an die fünf (abwesenden) Opfer, die auf ihre Rechte als Privatkläger verzichtet haben.
Man ist sich also weitgehend einig im Saal, nur bei der mündlichen Urteilseröffnung teilt der Einzelrichter dem soeben Verurteilten mit, dass die mit dem Staatsanwalt ausgehandelte Strafe am unteren Ende des Zulässigen liege: «In absoluten Ausnahmefällen kann für solche Taten noch eine einjährige Freiheitsstrafe gewährt werden», sagt Rok Bezgovsek. Immerhin handle es sich um eine Blaufahrt und um zu schnelles Fahren. Aber weil das Beschleunigungsgebot verletzt worden sei (ein Jahr lang stand die Ermittlung gegen den Berner still), wird die Strafe reduziert.
Die Verhandlung ist beendet, der Verurteilte sichtlich froh, den Saal, das Gebäude und die Stadt Zürich wieder verlassen zu dürfen. Er ist glimpflich davongekommen. Doch für den Unfall wird er noch lange, sehr lange zahlen müssen.
Illustration Friederike Hantel