Was ich in der Schule lernte
Nichts ist sinnvoller als Unterrichten: Kontakt mit jungen Menschen pflegen. Inhalte und Werte vermitteln. Weitergeben, was man weiss. So dachte ich, als ich beschloss, mich als Lehrerin nützlich zu machen. Es kam anders.
Von Barbara Villiger Heilig (Text) und AHAOK (Illustrationen), 04.07.2018
Abenteuerlich. Frustrierend. Herzerwärmend. Nervtötend. Insgesamt jedenfalls unerwartet schwierig: Mein Comeback als Lehrerin war nach fünfundzwanzig Jahren in der Feuilletonredaktion einer Zürcher Tageszeitung, wo ich mich bis auf die unangenehme Schlussrunde am richtigen Platz gefühlt hatte, eine sehr gemischte Erfahrung. Warum? Gar nicht einfach. Einer der Gründe, die sich im Lauf von achtzehn Monaten an drei verschiedenen Schulen herauskristallisierten: Professionelle Praxis, das Fundament für allerseits zufriedenstellenden Unterricht, lässt sich nicht aus der Luft herbeizaubern. Ausserdem, ganz banal: Anfängerin sein wird mit steigendem Lebensalter anstrengender. Nebst Einsatz ist auch Demut gefragt.
Trotzdem hat sich das Experiment gelohnt. Unter anderem, weil ich etliche Vorurteile, die mir gar nicht bewusst gewesen waren, revidieren konnte. Viele Überraschungen also, auch mich selbst betreffend.
Wie es dazu kam, das erzählt die folgende Geschichte.
Auf dem RAV
Als ich bei der Zeitung gekündigt hatte, ging ich zum RAV. Dort wurde ich mit Infobroschüren, Formularen sowie einem Beratungstermin ausgestattet und wieder weggeschickt. Auch das erste Treffen mit meiner persönlichen Beraterin verlief speditiv: Nein, mein Alter – nämlich 57 – sei kein zwingendes Hindernis auf der Stellensuche. Ja, ich solle einfach loslegen, aber bitte mit einem zeitgemässen CV, «so geht das gar nicht». Und schon war ich eingeteilt in einen Kurs, um, wie sie sagte, Bewerbungsstrategien zu entwickeln. Ich schluckte. Nach Freizeit sah es nicht aus in meiner gerade anbrechenden Zukunft ausserhalb der Kulturjournalismus-Blase. Was kam auf mich zu? Zum Glück wusste ich es nicht. Möglicherweise hätte ich gekniffen.
Nicht einmal Reisen erlaubt die registrierte Arbeitslosigkeit, oder nur gemäss streng reglementierten Vorschriften.
Ein bereits gebuchter Englandaufenthalt lag immerhin noch drin. Er erfüllte seinen geheimen Zweck, als ich erfuhr, dass Lucy Kellaway nach 31 Jahren gerade ihren Abschied von der «Financial Times» nahm. Zu den Spezialitäten der Starkolumnistin hatte es gehört, mit spitzer Feder die corporate culture namhafter Firmen aufzuspiessen. Ihren Weggang begründete Lucy Kellaway so: Alle Kritik, wie ätzend auch immer, habe rein gar nichts an den herrschenden Missständen geändert. Und: Sie selbst werde in ihrem Job kaum mehr besser, also könne sie ihn ebenso gut an den Nagel hängen.
Genau!, dachte ich. Wie bei mir! Auch ich hatte jahrelang Theaterinszenierungen kritisch unter die Lupe genommen, ohne damit etwas zu bewirken. Lucy Kellaway, exakt gleich alt wie ich, plante nun umzusatteln, um endlich «etwas Sinnvolles» zu tun: Unterrichten. Was für eine Ermutigung! Mir schwebte dasselbe vor. Und im Unterschied zu Lucy verfügte ich sogar über eine – wenn auch ewig zurückliegende – Ausbildung.
Im Job-Coach-Kurs, den mir das RAV verordnet hatte, fühlte ich mich in einen Houellebecq-Roman versetzt: schlecht gelüftete Räume, Kunststoff-Teppiche. Das Institut, in einem Zürcher Aussenquartier mit Migrationshintergrund gelegen, wurde auch von etlichen Nichtschweizern frequentiert, etwa unseren Dozenten, einer Serbin und einem Deutschen: Sie war als Kind mit ihrer Familie vor dem Krieg geflohen; seine «Flucht» als senior professional erfolgte aus der HR-Abteilung eines Grosskonzerns. Dort, erzählte er, würde von den sich türmenden Bewerbungen jeweils nur die erste CV-Seite angeschaut, weshalb diese ausschlaggebend sei, quasi die Frontpage unserer Persönlichkeit: Alles Wesentliche gehöre samt ansprechendem Porträtbild plus individueller Lebensphilosophie draufgepackt.
Mit Ach und Krach und der Hilfe von Macbook-begabten Co-Coachees brachte ich einen CV zustande, den die Kursleiter durchwinkten.
Tamilenkinder
Für meine erste Anstellung brauchte ich allerdings gar keinen CV. Ein Anruf bei Herrn Yogi reichte. Zur Einführung zeigte er mir die ausnahmsweise menschenleeren Räume seiner Star Institut genannten Nachhilfeschule in einem Bürogebäude nahe der Langstrasse. Ein Raum war für die «Kopiervorlagen» reserviert: dicht gefüllte Büchergestelle mit dem kompletten Bestand an Deutsch-, Französisch- und Mathematiklehrmitteln. Englisch gabs auch, sogar Latein. Allerdings, erläuterte Herr Yogi, kämen die meisten Kinder, um ihr Deutsch zu verbessern: Sie seien hier aufgewachsen, sprächen zu Hause aber Tamilisch. Sein persönliches Schicksal resümierte er in Stichworten. Ein Opfer des sri-lankischen Bürgerkriegs, hatte er knapp vor Abschluss der Matura fliehen müssen. Im Schweizer Exil konnte er seine mathematische Begeisterung wenigstens als Privatlehrer nutzen. Die Nachfrage erlaubte ihm bald, ganze Klassen zu bilden und schliesslich sein «Institut» zu gründen. Er unterrichtete weiterhin auch selbst, als Einziger auf Tamilisch und bei offener Klassenzimmertür, weil der Andrang so gross war.
Die übrigen Lehrerinnen oder Lehrer – gender-korrekt: Lehrpersonen – studierten noch an der PH oder waren schon pensioniert. Am Samstagmorgen drängten wir uns um zwei auf Hochtouren laufende Kopierautomaten, bevor wir in die Klassenzimmer eilten, wo uns pünktlich herbeichauffierte Kinder erwarteten, Schreibzeug vor sich, Fidget-Spinner auch. Väter oder Mütter standen derweil mit Banknoten in den Händen Schlange vor dem Office, wo Frau Yogi inmitten überquellender Ordner die Administration erledigte.
Diese Eltern investieren in die Laufbahn ihrer Nachkommen ausser Geld auch Zeit. Sie verbringen das freie Wochenende mit Warten, bis ihre Youngsters – denen sie zwischen den Lektionen Wurstbrote, Reiswaffeln, Müesliriegel verfüttern – wieder ins Auto steigen. Danach gehts zurück nach Hause, manchmal weit über die Kantonsgrenze hinaus.
Tamilische Bürgerkriegsflüchtlinge, die seit den 1980er-Jahren in der Schweiz Fuss fassen konnten, überantworten ihren sozialen Aufstieg der Folgegeneration. Ein ehrgeiziger Auftrag. Die Kinder bezahlen ihn mit Freizeit. Doch wenn sie Abende und Wochenenden in den Schulzimmern der Yogis verbringen, tun sie das im Kreis ihrer Community. Manchmal beneidete ich meine SuS um diese soziale Einbettung. Und oft kam ich mir neben ihnen mangelhaft vor. Nur-schweizerisch. Vorglobalisiert. Old school.
SuS bedeutet «Schülerinnen und Schüler». Das Bildungswesen wimmelt von Kürzeln! Ich unterrichtete jetzt DaZ: Deutsch als Zweitsprache. Dass ich dafür ein CAS – Certificate of Advanced Studies – hätte erwerben können, wusste ich dank Streifzügen in pädagogischen Webportalen. Ich entschied aber, meine fehlenden Basiskenntnisse vorerst autodidaktisch wettzumachen.
Struwwelpeter
In der Yogi-Schule begnügte ich mich nicht mit dem – allerdings gigantischen – Potenzial der Kopiervorlagen. Ich liess meine SuS «Dunkel war’s, der Mond schien helle» untersuchen: Wie viel Sinn steckt im Unsinn? Ich verteilte, political correctness hin oder her, «Struwwelpeter»-Reclamheftchen mit der Absicht, meinem Publikum kindergerecht kulturhistorischen Mehrwert zu erschliessen. Die brutalen Storys erzeugten Heiterkeit. Sehr beliebt war eine szenische Umsetzung von Friederich dem Wüterich auf Youtube, und die Videoversion des Suppenkaspar, den Knorr-Produkte vor dem Verhungern retten, leitete elegant über zum Thema Werbung. Nur bei der «Geschichte von den schwarzen Buben» stockte ich in Anbetracht meiner dunkelhäutigen Klasse – und übersprang das Kapitel.
Andere, nicht überspringbare Probleme lagen bei mir selbst. Namen memorieren: Nilakshani, Avinashini, Nivetha, Athisayan, Tharakan, Kajanan, Dilani, Sukith, Sarujan, Saranga … Überhaupt, das Gedächtnis. Regelmässig tönte es vorwurfsvoll: «Sie, das haben wir schon gemacht!» Wie kam ich plötzlich zu diesem Löcherhirn? Bisher hatte ich mich felsenfest verlassen können auf meinen Kopf. Jetzt musste ich mir alles genau notieren, schwarz auf weiss bzw. auf gelben Post-its. Mit der Verunsicherung, die das Um- oder Wiedereinsteigen in den Lehrberuf auslöste, hatte ich nicht gerechnet. Sie war verstörend. Dass sie weiter wachsen würde, wusste ich noch nicht.
Was mich hingegen beflügelte, war die Idee, praktische Integrationshilfe zu leisten – und Neuland zu betreten. Das Dossier des Bundesamtes für Migration über die sri-lankische Diaspora in der Schweiz aus dem Jahr 2007 erschloss mir eine Parallelwelt, die ich bisher kaum wahrgenommen hatte. Wie beklemmend sie sein kann, dokumentiert «Der Koch» von Martin Suter in Romanform. Diese Lektüren ergänzten, was die Buben und Mädchen erzählten: von Familienfesten, bei denen sie ihre Traditionen pflegen. Von Ferien in Schweizer Dörfern oder europäischen Städten, wo sie sri-lankische Exilverwandte besuchen. Von den Tamilisch-Lektionen, die sie ausser der Nachhilfe absolvieren, weil sie ihre Muttersprache auch schreiben wollen. Die dekorativen runden Schriftzeichen malten sie aufs Whiteboard, wie um mir zu beweisen: Je nachdem ist jedermann Analphabet.
Küche oder Uni?
Go-betweens zwischen der helvetischen Umwelt und den kaum Deutsch sprechenden Eltern – das sind solche Kinder. Die Eltern arbeiten «im Restaurant», was nur selten bedeutet, dass sie ein eigenes Lokal führen wie Herr und Frau Yogi mit ihrem Take-away schräg vis-à-vis der Schule: «Don’t Worry, Eat Curry». Der fröhliche Name blendet Fleiss, Schweiss, Stress aus.
Die Kinder haben andere Berufswünsche: Architektin, Ingenieur, Ärztin, Diplomat. Sie wollen ans Gymnasium. Im Hinblick auf die Aufnahmeprüfung besuchen sie Vorbereitungskurse. Auch die bieten Herr und Frau Yogi an. Auch hier setzten sie mich ein.
Mehr als die Hälfte der Antretenden bestand die Prüfung. Und gleich gings weiter mit Stützkursen, schon vor Beginn der Probezeit. «Streberschule», so nannte eine spätere Kollegin das Institut der Yogis. Das war bereits an der – öffentlichen – Sekundarschule in Kloten, wo ich kurz darauf als DaZ-Lehrperson landete. (Einer meiner tamilischen Prüfungskandidatinnen begegnete ich dort wieder, auf dem Gang. Sie schaute weg, als würde sie sich schämen für ihr Doppelleben.)
Weltläufige Sekundarschule
Eine reguläre Sek-Anstellung lag nicht drin (mein «Diplom für das Höhere Lehramt» gilt fürs Gymnasium, nicht für die Volksschule). Dem Schulleiter verdanke ich eine immerhin fünfmonatige Vertretung. Diesmal stammten meine SuS aus der ganzen Welt: Ungarn, Sri Lanka, Portugal, Italien, Elfenbeinküste, Moçambique, Griechenland, Chile, Kosovo, Bosnien, Mazedonien, Thailand, Kolumbien, Rumänien ... Die Gemeinde Kloten verzeichnet aufgrund der Beschäftigungsmöglichkeiten am Flughafen einen stetigen Ausländerzuwachs. Die Kinder der immigrierten Arbeitnehmer werden via vorgängigen Deutsch-Intensivkurs in die öffentliche Schule einsortiert, wo sie weiterhin DaZ-Unterstützung erhalten.
Dass die Schweiz so viel tut für ihre Zugewanderten, versetzte mich in Staunen. Der Stundenplan der Klotener Sekundarschulklassen war ein logistisches Puzzle: Wer ins DaZ kam, fehlte in einem anderen Fach (die wöchentliche Gesamtstundenzahl darf nicht überschritten werden). Trotzdem funktionierte der Betrieb. Und zwar nicht einfach auf administrativer Ebene, sondern dank des persönlichen Einsatzes des Lehrkörpers über die Schulstunden hinaus. Den Jugendlichen wird geholfen bei der Suche nach Lehr- und Schnupperlehrstellen, die unterschiedlichen Startbedingungen und die familiären Situationen werden im Auge behalten.
Einer meiner Schüler, der nebst sprachlicher auch kognitive Defizite aufwies, sah seine Eltern selten im Wachzustand: Sie arbeiteten nachts und kamen heim, wenn er sich auf den Schulweg machte. Ein kleiner, magerer, schüchterner Junge. Aber auf dem Pausenplatz wirkte er fröhlich.
Sprachsalat
Das Schulgelände: ein babylonisches Sprachgewirr. Die Verständigung erfolgte längst nicht immer auf Deutsch, und wenn, dann in einem Multikulti-Schweizerdeutsch. Auch der Lehrkörper hielt sich nicht geschlossen an die empfohlene Standardsprache (so wird das Schweizer Hochdeutsch genannt). Manchmal war Englisch einfacher.
Ich machte eine Internet-Schnellbleiche in fremden Sprachstrukturen (es gibt Gründe, weshalb Osteuropäer keine Artikel verwenden). Elektronische Wörterbücher halfen, Missverständnisse auszuräumen. Abstrakte Begriffe sind tricky: Das stämmige Bürschlein aus Kosovo, ein Pausenplatz-Hirsch, verwechselte, wie sich herausstellte, «Rache» mit «Ehre».
Das war beim Lesen einer Tierfabel. Um Ehre und Rache drehte sich auch jene Raserstory in Buchform, die ich auf Empfehlung eines befreundeten Jugendbuchfachmanns gewählt hatte. Eine gute Wahl, wenn auch nicht aus literarischen Gründen. Ich entdeckte die «einfache Sprache», für meine Jugendlichen noch kompliziert genug, und merkte wieder einmal, dass Wörterbüffeln das A und O des Fremdsprachenerwerbs ist. Oder wäre. Denn sosehr ich mich bemühte, so übersehbar bis verschwindend klein blieb der Erfolg meiner Bemühungen. Keine erhebende Erkenntnis.
Ich dachte an Lucy Kellaway. Inwiefern war meine Tätigkeit «sinnvoll»? Sicher: Die Rumpelstilzchen-Erfahrung hatte etwas Gesundes (niemand weiss, wer du bist und was du bisher gemacht hast). Aber abgesehen vom Selbstversuch: Was brachten meine guten Absichten den Schülerinnen und Schülern wirklich? Ich weiss es bis heute nicht. Dass sie meinen Weggang Ende Schuljahr bedauerten, schmeichelte mir. Es sagt jedoch nichts aus darüber, ob sie auch profitiert haben.
Wenigstens blieben mir disziplinarische Querelen erspart, wie sie im Lehrerzimmer die Runde machten. Von Beschimpfungen im Battle-Rap-Stil blieb ich verschont, niemand verklebte meine Klassenzimmertür mit Isolierband. Mich schauderte. Zur Grundausstattung der Lehrperson gehört eine solide Elefantenhaut.
Autos und Models
Im Allgemeinen wissen Sekundarschüler freilich, dass Leistung und Benehmen den Ausschlag geben für das, was kommt. Der Ernst des Erwachsenwerdens holt sie früher ein als Gleichaltrige am Gymnasium. Sie wollen eine Lehre machen, um ihre Ziele zu erreichen (ein eigenes Auto!). Als ich sie übungshalber schildern liess, wo sie sich in zehn Jahren sähen, beschrieb der pummelige Bursche aus Kosovo die zukünftige Mutter seiner Kinder als «schön wie ein Model». Ein kleiner Pascha. Er weigerte sich, wegen nicht schulkonformer Trainingshosen den Umweg nach Hause zu machen. Die Strafaufgabe bestand aus dem Abschreiben der Hausordnung. Fortan kam er in Jeans.
Im DaZ-Unterricht erwies sich der Dresscode als dankbares Diskussionsthema. Businesskleidung erhielt ein hohes Rating, so als garantierten Anzug und Deuxpièces bereits den Zugang zur Manageretage. Schuluniformen, obligatorisch in manchen ihrer Herkunftsländer, führten mir die Jugendlichen mit spürbarer Wehmut per Handyfotos vor. Was ich für rückständig hielt, weckte ihr Heimweh.
Heimweh haben sie alle. Im Sprachunterricht fragte ich sie aus über ihre Heimat. Der kleine Kosovare zerfloss beim Schwärmen von seiner Grossmutter, die ihm stets sein Lieblingsgericht zubereite: «Fli». Als ich beim Sonntagsspaziergang Männer und Frauen an einer Feuerstelle mit archaischem Metallgerät hantierten sah, erkannte ich das Ritual. Ich freute mich darüber genauso wie der Schüler, dem ich davon berichtete.
Die Jugendlichen waren dankbar für jedes Echo, ihre Länder betreffend, und erzählten gern: von orthodoxen Osterbräuchen, von Ramadan-Fastenregeln. «Wissen Sie», sagte eine Schülerin auf die Frage, was sie während der Sommerferien in der Türkei unternehme, «für uns sind das nicht Ferien, es ist Zuhause.»
Roter Teppich, grüne Weiden
Vor dem Sommer kam das Abschlussfest. Motto: Red Carpet – die Schulabgänger defilierten über den roten Teppich. Seit Wochen hatten die Mädchen ihre Kleider besprochen (lang, «mit Fischschwanz»), für den Coiffeurbesuch musste eine Unterrichtsdispens her, schminken liessen sie sich professionell. Der Auftritt dieser urplötzlich in junge Damen verwandelten Wesen war eindrucksvoll. Allerdings hing die Fischschwanzträgerin bald verzweifelt am iPhone, nicht wegen des Kleides, sondern wegen schmerzender Füsse: zu hohe Schuhe. Ersatz wurde sofort geliefert. Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem die Mama ihre Tochter begleitete, bis sie in der Menge verschwand: gerührt, stolz – und wie verliebt.
Apropos Ferien: Für Lehrpersonen lautet die offizielle Bezeichnung «schulfreie Zeit». Das ist keine Augenwischerei. Meine eigenen Sommerferien verbrachte ich in Gesellschaft eines Italienischlehrmittels. Nicht um die Sprache zu büffeln, sondern deren didaktische Aufbereitung.
Denn nach den tamilischen Primar- und den Klotener Sekundarschülern erwartete mich die Kantonale Mittelschule Uri in Altdorf, ehemals Kollegium Karl Borromäus, im Volksmund Kollegi. Nach den globalisierungserprobten, migrationsgeprägten Jugendlichen nun tiefste Innerschweiz. Kaum Durchmischung. Ländlichkeit. Kuhglocken als Soundtrack.
Den Alpabzug im Herbst verfolgten wir live vom Schulhaus aus. Da war ich schon mittendrin. Die Aufgabe: Übernahme einer Italienischklasse ein Jahr vor der Matura. Endlich konnte ich das Fach unterrichten, in dem ich ausgebildet war. Und sattelfest.
Fehlleistungen
Wirklich? Kurz vor Schulstart warnte mich ein Ohnmachtstraum. Durch kniehohen Schnee stapfte ich auf das ehrfurchtsgebietende Kollegi-Gebäude zu, bis mir einfiel, dass ich keinen Badge hatte; natürlich fiel das Handy zuerst aus, dann auseinander, und plötzlich verschwand auch der Weg. So schlimm kam es in der Realität nie. Doch steigerte sich im Lauf des Altdorfer Schuljahrs mein Post-it-Verbrauch beträchtlich. Mit lückenloser Planung der Lektionen kämpfte ich gegen mein mangelndes Selbstverständnis als Lehrerin und die fehlende Routine an. Aber ach, so pingelig genau ich mir alle Abläufe notierte, brachte ich sie doch andauernd durcheinander. Verteilte die falschen Fotokopien. Musste Kreide im Nachbarzimmer holen. Fand die Fernbedienung für den Beamer nicht, vergass beim Video den Ton einzuschalten. Alles vor Publikum: Die Lehrperson steht unter ständiger Beobachtung. Und Fehlermachen gehört nicht zur Rolle.
Einmal mehr spendete Lucy Kellaway Trost: Ein ernüchterter Zwischenbericht nach ihren ersten Schulwochen bestand aus Durchhalteparolen, formuliert mit zusammengebissenen Zähnen. Ich fühlte mich verstanden. Nein, aufgeben durften wir nicht!
Bei didaktischen Weiterbildungskursen an der Uni stiess ich auf ehemalige Studienkollegen mit grauen Haaren und jahrzehntelanger Schulerfahrung. Sie waren da, um ihr Repertoire zu variieren. Ich, um mir eins aufzubauen.
Tückisch war auch der Schulweg. Als Journalistin hatte ich ohne nennenswerte Zwischenfälle die halbe Welt bereist bis nach Grönland, bis nach China. Jetzt schaffte ich es, zwischen Zürich und Altdorf zig Mal falsch umzusteigen: in Zug statt Arth-Goldau, in Baar statt Zug.
Hiess es frühmorgens mitten auf der Strecke: «Durchsage der Leitstelle. Eine Störung ...», sass ich wie auf Nadeln wegen der absehbaren Verspätung. Wenigstens steckte der Kollegi-Rektor, Pendler wie ich, ebenfalls fest. Ich schickte meiner Klasse Instruktionen per Gruppen-Whatsapp. Auch so lässt sich «Schülerorientiertes Lernen», im Jargon SOL, praktizieren.
SOL ist fester Bestandteil des neuen Lehrplans 21, bei dem es, kurz zusammengefasst, um «Kompetenzorientierung» geht. Diese gründet, so erfuhren wir bei einer schulinternen Einführung, auf drei Säulen: Wissen, Können, Wollen. Wieso nicht umgekehrt? Hapert es schülerseits am Willen, legt man sich lehrerseits nämlich hundert Prozent vergebens ins Zeug. Jedenfalls erhielten meine Versuche, die vielbeschworene «Italianità» in Form von Literatur, Kultur oder Alltag einzubringen, null Applaus.
Ein Flüchtlingsschicksal
Rasch begrub ich deshalb meine Ambitionen, Klassiker zu vermitteln. Im Ranking der Mittelschul-Italienischlektüren schwingen momentan ohnehin Bücher von und über Migranten obenauf. Am öftesten wird «Nel mare ci sono i coccodrilli» gelesen, der von einem Journalisten aufgezeichnete Bericht des Afghanenjungen Enaiatollah Akbari (auch auf Deutsch ein Bestseller: «Im Meer schwimmen Krokodile»). Wie Ena über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland auf eigene Faust nach Turin gelangte, das bewegte meine Schülerinnen. Mit literaturwissenschaftlichen Kategorisierungen hingegen – Doku-, Entwicklungs-, Schelmenroman oder wahres Märchen? – konnten sie weniger anfangen. Und die italienische Website des UNHCR, wo Videos von vergleichbaren Schicksalen schulgerecht zur Verfügung gestellt stehen, dürften sie seither kaum regelmässig konsultieren, obwohl ich es ihnen ans Herz legte.
Ein Hauptproblem des Fremdsprachenunterrichts ist die beschränkte Ausdrucksmöglichkeit der Lernenden (Ausnahme: Englisch). Maturandinnen, die auf Deutsch eloquent ihre Ansichten vertreten, ringen auf Italienisch nach Worten, stolpern über Fehler, verheddern sich in der Grammatik. Das ist Blamage genug. Greift man korrigierend ein, entmutigt man sie zusätzlich. Also was? Am besten wäre ein Full-immersion-Aufenthalt im Sprachgebiet. Tatsächlich existieren Austauschprogramme – der sprichwörtliche Tropfen auf den heissen Stein. Nach seiner Wahl hielt Bundesrat Ignazio Cassis, unterwegs von Bern nach Bellinzona, in Altdorf eine Rede und passte Kennedys Zitat an: «Ich bin ein Urner!» Umgekehrt gilt der Satz kaum. Welcher Urner würde sich Tessiner nennen? In Uri, dem Nachbarkanton des Tessins, steht Italienisch auf dem Primarschulprogramm, doch am Kollegi hat das Fach immer weniger Chancen. Es nützte nichts, dass ich mit Baci-Perugina-Pralinés Werbung dafür machte.
Als Auswärtige gehörte ich in Uri zu den «Lachoonigen» – ein Dialektwort für diejenigen, die man kommen lässt. Bei der Anreise wartete ich jeweils vor dem Telldenkmal auf den Bus. Besonders patriotisch kamen mir die Urner aber nie vor. Als ich meiner Klasse zum zweiten Mal erklären musste, was «la patria» bedeutet, fand ich es beruhigend, dass der Begriff ganz offensichtlich nicht zum Grundwortschatz zählte.
Theater!
Dabei ahnen diese Jugendlichen natürlich, wie wertvoll ihre Verwurzelung in heimatlichen Gefilden sein kann. Was sie an den Bergen haben, was an der kollektiv gefeierten Fasnacht, was am familiären Nest. Ein Projekt des Kollegi-Theaters umkreiste das Thema «Heimat» auf witzige, gescheite und berührende Weise. Ich besuchte eine Probe, um darüber einen Artikel zu schreiben. Glorioser Moment: Ausgerechnet das Theater machte Schluss mit den Rollen, die uns der Schulrahmen sonst zuteilte. Jetzt hatte ich lauter junge Erwachsene vor mir. Lustvoll übernahmen sie Verantwortung, planten, setzten um. Und ich konnte für einmal mehr bieten als Besserwisserei.
Diese Geschichte endet mit der Matura (alle haben bestanden). Eine Pointe gibt es nicht. «Sinnvoll» war die ganze Übung vor allem für mich selbst. Ich habe viel gelernt: über die Welt, den Schulbetrieb und meine Grenzen.
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