Nerds retten die Welt!
Folge 6: Gespräch mit Matthias Schuler, Harvard-Professor für Umwelttechnik, und Anja Thierfelder, Architektin
Von Sibylle Berg, 03.07.2018
Matthias Schuler studierte Maschinenbau an der Universität Stuttgart und ist Gründer, Geschäftsführer und Partner der Transsolar Energietechnik GmbH sowie Visiting Professor of Environmental Technologies an der Graduate School of Design der Harvard University.
Anja Thierfelder war Dozentin für Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Stuttgart und der Universität von Limerick in Irland und ist heute freie Architektin und freie Mitarbeiterin für Transsolar.
Guten Morgen Frau Thierfelder, nachfolgend T genannt. Guten Morgen Herr Schuler, nachfolgend S genannt. Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
T: So früh am Tag noch nicht. Wir wohnen in einem ehemaligen Industriebau von 1938. Vom Frühstückstisch aus schauen wir direkt auf eine städtische Restfläche, für die sich lange Zeit niemand interessiert hat. Es gibt dort hohe Akazien und Eschen und unterschiedlichste Sträucher. Gestern Abend kam der Fuchs vorbei, heute Morgen konnten wir schon Eichhörnchen, ein Rotkehlchen, Spechte, einen Eichelhäher und viele andere Vögel beobachten. Dieses Leben, diese Vielfalt ist zauberhaft. Aber eben auch sehr verletzlich. Womit wir dann doch beim Sich-Sorgen-Machen wären.
Ich liebe den Begriff «städtische Restfläche». Hier in Zürich wurden alle Restflächen der Effizienz und natürlich auch der besseren Abspritzbarkeit geschuldet, mit Beton versiegelt. Bald wird sicher auch der See überbaut. Apropos – was übrig bleibt. Teilen Sie meine positive Prognose, dass die Menschheit zum Ende des Jahrtausends ausgestorben sein wird?
«Man muss Bauten in den ganz grossen Kontext stellen, dann fangen sie an, Sinn und Spass zu machen.»
T: Das ist ja noch ein bisschen hin. Der schwedische Mediziner Hans Rosling beschreibt in seinem Buch «Factfulness» eindrucksvoll, dass sich die Welt in entscheidenden Punkten verbessert hat – zum Beispiel hinsichtlich extremer Armut weltweit, Zugang zu Bildung weltweit, auch für Mädchen, Kindersterblichkeit, medizinischer Versorgung oder Zugang zu Elektrizität. Rosling ist ein seriöser Statistiker und Wissenschaftler, also glaube ich ihm jedes Wort. Gefühlt allerdings bin ich ganz bei Ihnen.
Vermutlich ist Optimismus die vernünftigere Entscheidung, denn der Welt sind unsere Ängste egal. Und endlich sind wir mit oder ohne Verzagtheit. Elegante Überleitung zu der Bitte, uns Ihren Beruf in drei Sätzen zu schildern.
S: Wir entwickeln in internationalen und interdisziplinären Teams nutzerfreundliche, energetisch durchdachte, aussergewöhnliche Bauwerke. Mit einer ganzen Reihe der erfolgreichsten Architekten der Welt – gestandene Profis oder ausgefallene Newcomer. Für besondere und besonders anspruchsvolle Bauherren. In vielen Ländern, oft an wunderschönen Orten der Welt.
T: Mit viel technischem, physikalischem Sachverstand, klar. Aber eben auch mit Herzblut und Händen. Voller Bewunderung für die Schönheit der Physik, immer auf der Suche nach Inspiration in der Kunst.
Der Mensch hört «energetisch durchdachte Baukonzepte» und denkt an ein paar Solarpanels auf den Dächern dieser Betonblöcke, die auf trockengelegten Sümpfen stehen, oder Verschalungen gepresst aus Altkleidersammlungsmaterial. Ich starre immer wieder Bilder von Neubauvierteln an, sogar mit Gras, die stellvertretend für all das ökologisch nachhaltige Siedlungselend Europas stehen. Was machen Sie anders? Damit sich Ihre Arbeit von den Wohlfühloasen unterscheidet, die perfekte Orte für den stillen Suizid sind?
T: Solarpanels aufs Dach? Das reicht eben nicht! Und wenn man dann sagt: Ganzheitlich muss es sein, dann denkt sich der Leser: Ach, ja. Man muss Bauten in den ganz grossen Kontext stellen, dann fangen sie an, Sinn und Spass zu machen. Die Frage, wie man Energie spart, ist ja nicht die einzig mögliche.
«Wir sind das dichte Wohnen einfach nicht mehr gewohnt. Aber womöglich kann man es sich wieder angewöhnen?»
S: Ein erhöhter Heizbedarf aus Kraft-Wärme-Kopplung ist unter Umständen besser als die Minimierung des Verbrauchs. Etwa, wenn man die Fassade nachträglich mit Aussendämmung versieht. Das Bauwerk damit oft bis zur Unkenntlichkeit zuklebt. Und das Dämmmaterial gegen Pilzbefall mit Pestiziden behandelt. Die Pestizide werden dann vom Regenwasser ausgewaschen. Und das Grundwasser wird versaut. In der Schweiz ist die Belastung durch ausgewaschene Pestizide aus Gebäudedämmung nachweislich höher als die durch Pestizide aus der gesamten Landwirtschaft. Im Wahn, die Welt zu retten, bringen wir uns um… Oder, anderes Beispiel: Wer in der Vorstadt in einem Passivhaus wohnt und mit dem SUV zur Arbeit fährt, hat einen grösseren ökologischen Fussabdruck als jemand, der in einer konventionell beheizten Wohnung lebt und Fahrrad fährt. Und damit möchte ich natürlich nicht sagen, dass man einfach gar nichts tun soll…
Darf ich nachfragen: Wie stellt man das Thema denn in einen ganz grossen Kontext?
T: Kein Haus steht für sich allein. Häuser werden beeinflusst und nehmen Einfluss: auf das Haus daneben, die Nachbarschaft, die Stadt, auf die Lichtverhältnisse oder die Luft drum herum. Lokal und global. Jedes Haus trägt seinen Teil dazu bei, dass Gebäudeenergie weltweit für 60 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich ist. Und jedes Haus ist dran beteiligt, dass 80 Prozent des Mülls weltweit beim Bauen produziert wird. So weit das Negative. Aber positiv gedacht: Jedes Haus steht auf einem Stück Land, das es nur einmal auf der Welt gibt. Einzigartig. Kostbar. Da lohnt es sich, genauer hinzugucken. Was macht dieses Stück Land aus? Was finde ich hier vor? Und was ist drum herum? Wie reagiere ich auf Vorhandenes? Je dichter die Welt bebaut ist, umso mehr stimmt, was der spanische Architekt Alejandro de la Sota gesagt hat: Architects should make as much nothing as possible.
Oder noch anders gesagt: Mit dem Beginn der Sesshaftigkeit des Menschen nach der Zeit der Jäger und Sammler kam das Elend. Das ungesunde Leben, der Krieg um das Eigentum, der sich in Stockwerkeigentümer-Versammlungen blutig fortsetzt. Heute wird in den meisten Ländern Europas ja im sogenannten Minergiestandard gebaut. Was meist bedeutet: Zwangsbelüftung (ein Wort, das Schmerzen bereitet), Isolation, Erdwärmepumpen etc. Unterscheiden Sie sich davon?
S: Unsere Position ist klar: Vorhandene Energien, etwa Sonnen- und Erdwärme, sollte man nutzen. Unnötige Wärmeverluste sollte man vermeiden, um das bestmögliche Umfeld für den Nutzer zu schaffen. Minergiehäuser konzentrieren sich auf die Minimierung von Energieflüssen. Im Zweifel gegen den Nutzerkomfort. Was etwa das Lüften anbelangt, da haben Sie recht. Zwangslüften hört sich schlimm an. Und oft ist es tatsächlich so, dass der Energieverbrauch der Ventilatoren einer Zwangslüftung grösser ist als die Einsparung gegenüber einer natürlichen Lüftung. Lüftungsgeräte für Passivhäuser arbeiten mit enormen Lüftungsraten, die allermeisten mit einem System, das nur die Wärme, nicht aber die Feuchte zurückgewinnt. Mechanisch gelüftete Häuser sind deswegen oft überlüftet, die Luft darin im Winter viel zu trocken. Das Wachstum an Viren und Bakterien nimmt massiv zu, und Untersuchungen zeigen, dass dadurch 30 Prozent mehr Krankheitsfälle auftreten als in natürlich belüfteten Gebäuden. Musikinstrumente hassen dieses Raumklima übrigens auch. Die Harfe einer guten Freundin hat den Winter in einem Passivhaus nur schwer beschädigt überlebt.
Multiresistente Keime und Harfen, murmle ich leise… Eine hervorragende Zusammenfassung unseres Ist-Zustandes. Nun ist, seit die bildende Kunst zunehmend zum rein betriebsgesteuerten Investmentpool geworden ist, Architektur der Kompromiss zwischen der Sehnsucht der Masse nach Schönheit und der Unverständlichkeit bildender Kunst geworden. Wer ist für Sie der aktuelle Superstar?
S: Da fällt uns gleichzeitig Junya Ishigami ein. Er ist im Moment mit der wunderbaren Ausstellung «Freeing Architecture» in Paris zu sehen. Manche sagen, seine Entwürfe seien unbaubar – was wortwörtlich zur späteren Stararchitektin und Pritzker-Preisträgerin Zaha Hadid auch gesagt wurde.
Zaha Hadid. Ich war ja sehr froh, dass ihre Entwürfe kaum umgesetzt wurden – zumindest zu Beginn nicht. So viel geschmäcklerische Bosheit muss sein.
T: Ishigami ist äusserst sensibel, poetisch und eigenwillig im allerbesten Wortsinn. Er hat damit seine Architektur von vielen gängigen Konventionen befreit. Seine Mitplaner stellt er vor enorme Herausforderungen, weil er zum Beispiel für die Erweiterung der Architekturschule in Harvard einen 50 mal 50 Meter grossen frei überspannten Raum haben will. Er lässt, um den Bauplatz für ein Restaurant freizubekommen, 400 Bäume nicht fällen, sondern umpflanzen. Er beschäftigt eine Mitarbeiterin zwei Tage damit, winzige Papierblättchen an einen Baum in einem Modell zu kleben.
Den Papierblättchen-Job werde ich jetzt als Dauerloop im Kopf behalten, und dazu mit dem Oberkörper wackeln, danke! Welches Ihrer Projekte würden Sie als das bezeichnen, in dem Ihre Ideen am besten realisiert wurden?
S: Die Kunstschule Zeche Zollverein von Sanaa in Essen. In der 1986 geschlossenen Zeche Zollverein wird bis heute das 28 bis 30 Grad warme Grubenwasser aus den 1000 Meter tiefen ehemaligen Bergwerksschächten gepumpt und in die Emscher geleitet. Für die Kunstschule wird nach unserem Konzept dieses Wasser als CO2-freie Energiequelle für eine thermisch aktive Dämmung genutzt: Es wird in einem Rohrsystem durch die Aussenwände des Schulhauses geführt, die so ohne Dämmschicht auskommen. Die Architekten waren also in der Lage, extrem dünne Aussenwände zu realisieren. Für diese Konzeption gab es kein Vorbild, aber wir konnten den Bauherren mit der energetischen und auch kostentechnischen Effizienz überzeugen.
Fertig geplant, aber noch nicht gebaut ist das House of Peace von Junya Ishigami in Kopenhagen: Der wolkenförmige Meditationsraum schwimmt im Meer vor Kopenhagen. Seine Halle wird über einen unterirdischen Zugang betreten. Die Besucher steigen in kleine Boote und lassen sich im Innenraum unter dem Wolkendach auf dem Wasser treiben. Das Energiekonzept basiert auf der Anomalie des Wassers, also der Tatsache, dass Wasser bei 4 Grad die grösste Dichte hat. Solches viergrädiges Meerwasser aus der Tiefe des Hafenbeckens wird dazu genutzt, die Betonhülle über eingelegte Rohre zu erwärmen und damit die Wärmeverluste des auf 15 Grad temperierten Innenraumes zu minimieren. Die Temperaturdifferenz ist dann nicht mehr von plus 15 Grad innen zu minus 10 Grad aussen, sondern nur noch von plus 15 zu plus 4 Grad.
Das klassische Problem der Architektur sind die Menschen, die in ihr wohnen. Es wird wird gerade mit neuen Wohnformen experimentiert. Etwa Clusterwohnungen, was dann immer etwas mit generationsübergreifend, Inklusion und so weiter meint. Aber eigentlich sind das, dem Platzmangel geschuldet, eine Art WGs für Menschen, die sich nicht kennen.
T: Mein Eindruck ist, dass Leute zwischen 20 und 40, vor allem die, die viel Zeit allein vor einem Rechner verbringen, darüber ganz anders denken. Co-Working-Spaces, wo Leute ganz gezielt hingehen, um sich auszutauschen und sich zu vernetzen, gibt es mehr und mehr. Sharing ist angesagt. Start-ups. Social Entrepreneurship. Und die nächste Idee in diesem Kontext ist Co-Living. Die Co-Worker wollen Arbeit und Leben nicht mehr trennen.
Junge Menschen? In Europa sind doch bald fast alle über 60.
T: Zugegeben – zum Bleiben, mit Kindern, zum Altwerden, fällt den allermeisten wieder das freistehende Haus mit Garten ein.
Für diesen Traum gibt es aber meist keinen Platz mehr.
S: Dichte ist Lösung. Die bewohnte Fläche pro Kopf hat sich unglaublich vergrössert, sie liegt in Deutschland bei 48 Quadratmetern pro Person, in der Schweiz wahrscheinlich ähnlich. Von Basel weiss ich, dass die Anzahl der Bewohner in der Innenstadt heute um 20 Prozent geringer ist als in den 1960er-Jahren. Versuche, Basel wieder zu verdichten, wurden von den Baslern trotzdem vehement bekämpft. Wir sind das dichte Wohnen einfach nicht mehr gewohnt. Aber womöglich kann man es sich wieder angewöhnen?
Ich bin noch ganz starr vor Angst bei der Idee, meine Küche generationsübergreifend, offen und ökologisch bewusst mit Fremden zu teilen. Ich fand es schon in WGs früher schrecklich und hab hinter der Tür gelauscht, ob die Luft rein ist. Also: Würden Sie gerne Ihre Küche teilen?
T: Küche mit Fremden teilen hört sich tatsächlich nach Studenten-WG an. Kühlschrank leer gefuttert, dreckiges Geschirr auf der Spüle in Türmen, Debatten über den Sinn des Lebens vor dem ersten Kaffee. Solche Sachen. Ganz ehrlich, so richtig gern teile ich meine Küche nur mit ausgesuchten Mitmenschen. Bei Esszimmer, Wohnzimmer, Arbeitsraum oder Fitness allerdings ist das anders.
S: Der Dichte im privaten Innenraum muss ein öffentlicher Freiraum gegenübergestellt werden. Man würde sich dort begegnen, die Qualität unserer Wohnquartiere und Innenstädte würde davon enorm profitieren. In anderen Klimazonen haben sich die Menschen ganz von allein so eingerichtet. Hier muss man nach Lösungen suchen, die für unser Klima funktionieren können.
Gute Idee. Ein bis zwei kleine, helle Räume, wenn sie nach japanischem Vorbild elegant durchkomponiert wären, sind vollkommen ausreichend für ein Paar. Warum muss ein einzelner Mensch in 130 Quadratmetern herumeiern? Eine andere Sache, die gerade sehr interessant klingt, sind die Häuser aus 3-D-Druckern.
Was bringen die eigentlich, ausser dass der Aufbau schnell geht? Sind diese Häuser dann so günstig, dass die Arbeitslosen der Bauindustrie darin wohnen können, mit einem Grundeinkommen – einem anderen Wort für Sozialhilfe? Oder ist alles ganz anders?
T: Es gibt Kollegen, die schwärmen sehr für diese Technik und prognostizieren ihretwegen ein Zeitalter quasi ohne Bauarbeiter und ohne Handwerker. Ich denke, 3-D-Drucken ist eher für komplizierte Teile interessant, die deutlich kleiner sind als Häuser. Im Maschinenbau und in der Medizintechnik ist es bereits Standard. Architektur wird sich meines Erachtens eher durch parametrisch entwickelte Prozesse verändern. In der Planung hat das bereits begonnen, robotergestützte Fertigung und irgendwann auch Montage werden das Bauen präziser und hinsichtlich Logistik beherrschbarer machen. Was Arbeitsmöglichkeiten auf dem Bau anbelangt, da sieht es im Moment eher so aus, dass sich jeder gute Handwerker seine Aufträge und Auftraggeber aussuchen kann. Passt also, die brauchen kein Grundeinkommen.
Lassen Sie uns über Städte reden. Die Emirate bestehen nur aus künstlichen Städten, die vermutlich unökologisch bis zum Kollaps sind. Als Antwort darauf wurde das Projekt Masdar City initiiert: eine wundervoll utopische Vision der sich selbst regulierenden Ökostadt. Mit entsalztem Nutzwasser, sich selbst versorgenden und regulierenden Gebäuden und einem genialen Verkehrskonzept. War Ihr Projekt – entschuldigen Sie dieses furchtbare Beraterwort – die erste konkrete Umsetzung Ihrer Ideen in einem grossen Ausmass?
S: Als die Arbeit an Masdar 2006 begann, hat Transsolar schon 14 Jahre Konzepte für Gebäude gemacht. Masdar war die erste Übertragung dieses Know-hows vom Einzelgebäude auf den städtischen Raum, der als thermodynamisches System verstanden werden kann, allerdings ohne die Möglichkeit einer künstlichen Kühlung des Aussenraumes.
Hatten Sie Bedenken, Ihre Ideen in den Emiraten zu konkretisieren, wo es Überwachung gibt, Todesstrafe für Homosexuelle, Probleme mit Menschenrechten – alles Schlagworte, die ich auch nur aus den Medien zitiere, ohne eine Ahnung zu haben? Oder ist es klug, Umstände, die man nicht gutheisst, in Kauf zu nehmen, um ein grosses Ziel zu verwirklichen?
S: Ganz aktuell haben wir ein Projekt in Saudiarabien wegen des Jemenkonflikts abgelehnt. Wenn man wie Transsolar weltweit agiert, dann stellen sich die Fragen nach politischen und sozialen Verhältnissen in den Ländern der Auftraggeber immer wieder. Im Grunde trifft man von Fall zu Fall eine Gewissensentscheidung. In den Emiraten sind die Verhältnisse weit davon entfernt, unseren Vorstellungen von Menschenrechten und Demokratie zu entsprechen. Trotzdem ist das Land in der Region eines der aufgeschlossenen und politisch stabilen. Bei «non-elective systems» wie den Vereinigten Arabischen Emiraten können Veränderungen sehr schnell erfolgen. So wurde im Zuge von Masdar das Gesetz, dass kein privater Stromerzeuger Strom ins öffentliche Netz einspeisen darf, innerhalb von zwei Wochen geändert, sobald klar wurde, dass Masdar nicht als autarke Energieinsel funktionieren kann. Die Verbindung zum öffentlichen Stromnetz hat sich nämlich sogar als Win-win-Situation herausgestellt. Masdar hat am Tag einen Stromüberschuss, wenn das öffentliche Netz an seine Grenzen gerät, da alle Nutzer ihre Klimaanlagen betreiben. In der Nacht kann der Grundbedarf vom öffentlichen Netz gut gedeckt werden, und dann kann der Strom an Masdar zurückgespeist werden, um den Bedarf dort zu decken.
Darf ich Ihr Masdar-Projekt als gescheitert bezeichnen? Weil die Welt noch nicht kaputt genug ist?
S: Masdar wurde radikal gedacht. Und leider nicht radikal umgesetzt.
4 Prozent der Stadt wurden inzwischen gebaut, hauptsächlich die Universität Masdar Institute of Science and Technology. Dabei hat sich in diesem kleinen Ausschnitt die Konzeption von Transsolar bewahrheitet: Tagsüber können im städtischen Aussenraum 10 Grad niedrigere Temperaturen erreicht werden, als sie vor der Stadt im Schatten herrschen. Das gelingt, wenn die Stadt nachts durchlüftet wird, weil sich die engen Strassen selbst verschatten und die Aussenfassaden der Gebäude unverkleidet sind und somit als Speichermassen genutzt werden können. Wir schaffen in Masdar City also eine «urban cold island» als Gegenentwurf zu den «urban heat islands» in Tokio oder New York, wo die Stadtzentren durch die Aufheizung 8 bis 10 Grad über dem Umland liegen.
Masdar war ein Opfer finanzieller Interessen?
S: Ja, eine Umsetzung auf die gesamte Stadt ist am Kommerz gescheitert. Die Weltwirtschaftskrise hat den Ölpreis geschwächt, und die Araber hatten nicht mehr das Standing, die Konzeption durchzustehen. Unser Masterplan im Team mit Foster und Partners wurde geändert, Autos fahren wieder durch die Stadt auf bis zu 81 Meter breiten Avenues, und die Hitze ist zurück in der Stadt. Allerdings hat Masdar als erster realisierter Lösungsansatz eines Problems, über das bis dahin nur lamentiert wurde, einen Boom ausgelöst, sodass weltweit CO2-neutrale Stadtentwicklungen gestartet wurden.
Sind ähnliche Projekte wie Masdar City an anderen Orten geplant? Und wenn ja, wo? Es müssten Orte mit Geld und viel Platz sein, womit vermutlich Europa ausfällt?
T: Initiiert vom saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman wird der nächste zukunftsweisende Stadtentwurf entwickelt: Neom heisst er, bis 2030 soll er realisiert sein, samt unabhängigem Rechtssystem. Und zwar im Dreiländereck Saudiarabien, Jordanien und Ägypten. Geplantes Budget: 5600 Milliarden Dollar. Weiter gediehen, und planmässig 2020 fertiggestellt, ist Smart City Songdo, 40 Kilometer südwestlich von Seoul auf 6 Quadratkilometer aufgeschüttetem Land, eine Modellstadt auf der Basis eines totalen Netzwerkes: Von Menschen, die hier wohnen und arbeiten, werden permanent Daten erhoben, womit im Vergleich zu konventionellen Städten 30 Prozent Ressourcen eingespart werden sollen. Und Google hat das städtebauliche Forschungsprojekt Sidewalk ins Leben gerufen. Wenn ein Unternehmen, das Unsummen an Kapital zur Verfügung hat, in Städtebau investiert, dann doch bestimmt deswegen, weil es davon ausgeht, dass sich sein Kapital hier maximal vermehren lassen wird.
Sprechen wir kurz über die Konzepte von Smart Citys – Städten, die komplett von Privatfirmen errichtet werden und ihnen demzufolge auch gehören. Inklusive aller Daten, inklusive der totalen Überwachung der Einwohner.
T: Vielleicht sind gar nicht Smart Citys die einzig mögliche ökologische Lösung, sondern der Versuch, all das Wissen, all die technischen Errungenschaften, die es gibt, an möglichst vielen Orten für möglichst viele Menschen im Alltag nutzbar zu machen.
S: Smart Citys sollten in meiner Vorstellung den Nutzern dieser Stadt erlauben, über die Vernetzung von Informationen individuelle Entscheidungen zu treffen, die den ökologischen Fussabdruck dieser Stadt verkleinern und die Qualitäten der Stadt für alle ihre Bewohner verbessern. Nicht das Smart-System entscheidet, sondern wir als individuelle Nutzer. So etwas gab es zum Beispiel nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Tokio: Als die bestehenden Kraftwerke nach dem Atomunfall an ihre Belastungsgrenzen kamen, wurden die Stadtbewohner über ihre Handys informiert und konnten dann entscheiden, Stromverbraucher abzuschalten. Das hat super funktioniert – zumindest in einer so disziplinierten Gesellschaft wie der japanischen.
Warum dauert Ihrer Meinung nach die Umsetzung all der brillanten Ideen zur Rettung unsers Planeten so lange? Ist es der Kapitalismus, die Behörden oder die Öffentlichkeit, der es verdammt egal ist, wie gebaut wird, solange sie bezahlbaren Wohnraum hat?
S: Es dauert einerseits so lange, weil wir Menschen uns der Bedrohung unseres Planeten nicht bewusst werden, solange wir nicht unmittelbar bedroht sind. Und andererseits, weil es in demokratischen Systemen einer Mehrheit bedarf, um Dinge zu ändern. Umso erstaunlicher ist es, dass die Zürcher dafür gestimmt haben, die engen Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft nicht auf 2150 zu verschieben, sondern sie schon für das Jahr 2050 zu befürworten. Gerade mal 32 Jahre bis dahin. Die Einigung auf so ein herausforderndes Ziel erfordert nun Strategien, um dieses Ziel tatsächlich in der vereinbarten Zeit zu erreichen. Der ganzheitliche Ansatz, der den Energieinhalt von Baustoffen ebenso berücksichtigt wie Mobilität, Freizeit und Ernährung, ist wirklich weit gegriffen. Der Weg dahin wird auch Sackgassen enthalten, aber ohne Weg kein Ziel.
Glauben Sie, dass die positiven Kräfte, die Wissenschaftler, die Nerds unser Leben retten werden, oder wird der Neoliberalismus weitermachen mit dem, was er kann: die Welt in den Abgrund treiben?
S: Die Geschwindigkeit, mit der die Nachricht über Masdar City um die Welt ging, hat mich gelehrt, dass die Menschen sich nach Lösungen sehnen, nicht nach weiteren Diskussionen über die Probleme. In diesem Sinne sollten wir Lösungen anbieten und die Menschen dafür begeistern. Ausserdem werden mehr und mehr Menschen mehr und mehr Zusammenhänge verstehen. Unsere Singvögel sind deshalb so dezimiert, weil wir mit unserer pestizidbestimmten Landwirtschaft 70 Prozent der Insekten ausgerottet haben und den Vögeln so die Nahrungsgrundlage entzogen. Stellen Sie sich vor: In China werden schon Menschen mit Pinseln auf die Bäume geschickt, um die Apfelblüten zu bestäuben. Der mehrheitlich durch Industrieländer verursachte Klimawandel bedroht nicht nur pazifische Inselstaaten, sondern bald auch die Dörfer in den Schweizer Alpen, die nach dem Auftauen der Permafrostgipfel unmittelbar von Steinlawinen bedroht sind und auf Dauer unbewohnbar sein werden. Entsprechende Informationen zu liefern, dazu sind Wissenschaftler und Nerds wichtig.
Diese oft harten Erkenntnisse sollten immer mit Lösungsvorschlägen verbunden werden. Glücklicherweise hat sich die Natur auf unserem Planeten schon öfter von schlimmen Katastrophen und Rückschlägen erholt. Ob wir Teil dieser Zukunft sind, bestimmen wir selbst.
Frau Thierfelder, Herr Schuler, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Optimismus.