Im Reich der Straffreiheit
Am Sonntag wird in Mexiko gewählt. Gibt es Hoffnung in dem Land, in dem Diebe, Drogenhändler, Mörder und Korrupte nichts zu befürchten haben?
Von Oscar Alba, 28.06.2018
«Ein Mexikaner ist immer ein Problem, für den anderen Mexikaner und für sich selbst.» (Octavio Paz, mexikanischer Literaturnobelpreisträger)
Das Problem wohnt im eigenen Haus. Und zwar im Erdgeschoss eines Blocks im Quartier Álamos, Mexiko-Stadt. Aaron, um die 30, lebt noch bei seinen Eltern. Mutter und Vater sind gehörlos und putzen für einen Hungerlohn in einer Metrostation. Niemand im Haus weiss, wie sie über die Runden kommen, aber alle wissen, dass der Sohn klaut, um sich Drogen zu kaufen. Er stiehlt alles, was sich schnell zu Geld machen lässt. Nichts ist ihm wertlos genug: die Wäsche von der Leine oder Topfpflanzen. Die Nachbarn haben ihn schon ertappt, auch gefilmt, aber Aaron ist immer schnell weg oder verschanzt sich in der Wohnung.
Kürzlich hat Aaron die Raddeckel eines im Innenhof parkierten Autos abmontiert. Wieder beobachtete ihn jemand und rief, nicht zum ersten Mal, die Polizei. Sie kam – wie immer – in einem schwarzen, bulligen Dodge Charger, mit Blaulicht: zwei junge Männer in schwarzer Kampfmontur, mit kugelsicherer Weste, Springerstiefeln, Sonnenbrille, der eine mit Sturmgewehr. Die versammelte Nachbarschaft schilderte den neusten Fall und generell das Problem mit Aaron. Die Polizisten taten, was sie immer tun: nichts.
Ein Diebstahl – also wirklich, sie hätten grössere Probleme. Die Besitzerin des Autos könne eine Anzeige machen, klar. Nur solle sie sich nichts davon erwarten. Die Nachbarn sagen: «Aaron versteckt sich in der Wohnung, holt ihn da raus.» Die Polizei: «Bei einem simplen Dieb dürfen wir nicht einfach rein, das wäre Hausfriedensbruch.» Der mit dem Sturmgewehr sagt: «Solche Probleme müsst ihr selbst lösen. Lyncht ihn, wenn ihr ihn einmal erwischt! Dann habt ihr Ruhe.» Er sagt es trocken, nebenbei, ohne mit der Wimper zu zucken. Niemand erhebt Einspruch, alle schweigen. Nur der genervte Bewohner vom ersten Stock wendet sich an die Nachbarn: «Ich hab es schon mehrmals gesagt! Legen wir 2000 Pesos zusammen, damit heuern wir jemanden an, der dafür sorgt, dass Aaron schon bald blind ist, dann sind wir das Problem los.»
2000 Pesos sind 100 Franken. Niemand geht auf den Vorschlag ein. Nicht in dieser Nachbarschaft.
Anderswo schon. Dort wird bezahlt – und gelyncht.
Am Rand der Wildnis
Goldene Linie. So heisst die neuste Metrolinie von Mexiko-Stadt, ein Vorzeigeprojekt des öffentlichen Verkehrs in der 20-Millionen-Megametropole. Ab Culhuacán fährt der Schienenzug oberirdisch durch den Bezirk Iztapalapa. Die Haltestellen sind gross, modern und hell – wie Leuchttürme in dem geduckten, grauen Ozean von Häuserzeilen. Je weiter man rausfährt, desto mehr verfällt alles. Die Goldene Linie endet in der Armut. Tláhuac ist Endstation – der letzte Bezirk im äussersten Südosten der Hauptstadt, danach folgt Wildnis. Hügel, Brach- und Buschland.
Der Ort am Rand hat keinen guten Ruf.
Sagt jemand: «Ich fahre nach Tláhuac», hört man als Erstes: «Pass auf, da lynchen sie die Leute auf der Strasse.»
Der Stadtteil mit fast 400’000 Einwohnern gerät immer wieder wegen Selbstjustiz in die Schlagzeilen. Erzürnte Meuten jagen Diebe und Räuber, um kurzen Prozess zu machen. Manchmal ist es bereits zu spät, wenn die Polizei eintrifft. Manchmal wird sie selbst Opfer blanker Wut. Vor Jahren zündete eine aufgebrachte Menschenmenge drei Polizisten bei lebendigem Leib an, weil sie die Beamten verdächtigte, einer Bande von Kindsentführern anzugehören.
Politiker sprechen von «Anarchie», wenn sie von Tláhuac reden. Die Bewohner dagegen fühlen sich von ihnen im Stich gelassen. Vor Kameras und Mikrofonen äussern sie Zorn und Verzweiflung: «Was sollen wir tun? Der Staat kann uns nicht beschützen. Will uns nicht beschützen. Also müssen wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.»
Die Reaktion dieses Staates: Militär, gepanzerte Fahrzeuge, schweres Geschütz. In den Strassen von Tláhuac fallen regelmässig Elitetruppen der Marines wie Überfallkommandos ein, führen «Operationen» aus, liefern sich Feuergefechte mit örtlichen Drogenbanden. Niemand weiss genau, ob sie es als Polizisten oder Konkurrenten tun. Täter und Opfer gibt es auf beiden Seiten. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, Staat und organisiertem Verbrechen sind in Mexiko längst fliessend.
Drogenkartelle? Ach was!
Hier der Staat, da die Drogenkartelle – alles Blödsinn und eine reine Erfindung der mexikanischen und der amerikanischen Regierung, um ihren vermeintlichen Kampf gegen die Drogen zu rechtfertigen. Das sagt Oswaldo Zavala in seinem neusten, ganz und gar nicht fiktionalen Buch «Los cárteles no existen» («Die Kartelle gibt es nicht»). Der 42-jährige Wissenschaftler, Professor und Journalist aus Ciudad Juárez legt schlüssig dar, wie es dazu kam, dass heute die ganze Welt die «betrügerischen Erzählungen» und «Legenden» über die Narcos, die mexikanischen Drogenkartelle und -bosse, glaubt. Wie aus Schutzbehauptungen und Legenden eine ganze Industrie entstanden ist, Filme, Serien, Bücher, ein eigenes Musikgenre, die «Narcocorridos», der Kult um «La Santa Muerte», den heiligen Tod.
Zavala verneint nicht, dass in Mexiko Drogen und die Gewalt riesige Probleme sind, doch hauptverantwortlich für die ganze Misere im Land sei der Staat. «Die Geschichte über die Narcos ist letztlich die Geschichte des perversen politischen Systems, das uns regiert.»
Zavalas Buch wurde in Mexiko von niemandem als absurde Verschwörungstheorie abgetan. Für jeden Mexikaner ist klar: Jeder Polizist und Soldat kann auch ein Drogenhändler, Entführer, Erpresser und Mörder sein. Korrupt sind sie ohnehin fast alle. Und deshalb wird so gut wie nie jemand bestraft.
Das ist kein dumpfes Bauchgefühl.
Die Rechnung
Die Rufer haben soeben wieder einen neuen Gang durch die öffentliche Wüste hinter sich: durch Zeitungsredaktionen, Fernseh- und Radiostationen. Luis Ernesto Derbez, Rektor der Universidad de las Américas in Puebla, und sein Angestellter, Juan Antonio Le Clercq – die Autoren der neusten Studie zur Straflosigkeit in Mexiko. Es sind 175 konzentrierte Seiten voller ernüchternder Realität. Le Clercq ist zuständig für die Zahlen:
Nur 7 von 100 Delikten gelangen in Mexiko zur Anzeige.
Von diesen angezeigten Delikten enden nur gerade 10 Prozent in einem abschliessenden Gerichtsurteil (Strafe oder Freispruch). In diesen Urteilen sind auch all jene enthalten, bei denen es während der Untersuchung zu Folter und erzwungenen Geständnissen bis hin zu Vergewaltigungen gekommen ist. «Ein anderes riesiges Problem in unserem Land», so Le Clercq.
Mexiko hat 359 Polizisten auf 100’000 Einwohner – mehr als im weltweiten Durchschnitt (319). Das Problem: Die Polizisten sind schlecht ausgebildet, miserabel bezahlt, überfordert, müssen bis zu 24 Stunden am Stück arbeiten. Sehr viele sind korrupt, also selbst Kriminelle. Die Landesregierung sagt: Uns fehlen 120’000 gut qualifizierte Polizisten.
Mexiko hat 4 Richter auf 100’000 Einwohner. Der Durchschnitt in Lateinamerika: 8; weltweit: 16; in Europa: 23.
43 Prozent aller Häftlinge in Mexiko wurden nie verurteilt, sondern warten auf ein Gerichtsverfahren.
Unter dem Strich: 99 Prozent aller Gesetzesverstösse in Mexiko werden nie bestraft.
Rektor Derbez redet Klartext: «Unsere Justiz ist praktisch kollabiert. Sie hat schlicht nicht die Kapazität, der immensen Kriminalität und Gewalt in unserem Land zu begegnen. Diese allgemeine Straflosigkeit funktioniert nur mit Korruption. Die Kriminellen und Korrupten wissen: Es passiert ihnen nichts. Sie leben sicherer als die Ehrlichen. Die Kriminalität ist ein höchst lukratives Geschäft. In Mexiko wird nicht das organisierte Verbrechen bestraft, sondern die Armut. Die meisten Gefängnisinsassen sind Kleinkriminelle aus der untersten Schicht. Sie haben nicht das Geld, um die Kaution zu zahlen oder sich beim korrupten Polizisten freizukaufen, und deshalb werden sie erst mal eingesperrt, warten dort drei oder vier Jahre auf einen Prozess, bis dann plötzlich eines Tages der Wärter die Zellentür öffnet und sie laufen lässt, weil die Schlafpritsche für einen anderen gebraucht wird. Einem Politiker oder einem Reichen passiert so was nicht.»
Derbez’ Fazit: «Die Botschaft in unserem Land lautet: Wenn du in den richtigen Kreisen verkehrst und ein Delikt begehst, geschieht dir nichts, wenn du arm und ein Niemand bist, kann dir in diesem Land alles passieren. Das ist fatal für ein Land und hat zu diesem Teufelskreis geführt, aus dem wir nicht mehr herauskommen.»
Von den anderen Zahlen reden die Professoren Derbez und Le Clercq schon gar nicht: über 200’000 Tote, Zehntausende Verschwundene und Vertriebene in den letzten zwölf Jahren, seit die zwei Staatspräsidenten Felipe Calderón (2006–2012) und Enrique Peña Nieto (2012–2018) den sogenannten Krieg gegen die Drogenkartelle führen. Für diesen Krieg haben sie das Militär auf die Strassen geschickt. Das Resultat: noch mehr Tote, noch mehr Gewalt. Die traurigen Zahlen sind auf Rekordniveau. Die Direktorin von Amnesty International sagt: «Das Land ist von Norden bis Süden ein einziger Friedhof.» Derweil die Lebenden munter mauscheln und betrügen wie nie. Im Korruptionsindex von Transparency International ist Mexiko erneut abgerutscht und inzwischen auf Platz 135 der 180 aufgeführten Länder.
Diesen Sonntag wählt Mexiko. Einen neuen Staatspräsidenten für die nächsten sechs Jahre, 628 nationale Parlamentarier, dazu neues politisches Personal auf 2800 Posten in Bundesländern und Gemeinden. Der Schriftsteller Jorge Volpi hat von «Wahlen in der Hölle» geschrieben. Die «blinde Gewalt und die Straffreiheit» hätten Mexiko in einen «gescheiterten Staat» verwandelt.
Der Heilsversprecher
Zurück in Tláhuac. Sonntagabend, 3. Juni. Auf dem Gemeindeplatz und im angrenzenden Stadtpark haben sich Tausende Menschen versammelt. Sie wollen den Mann live erleben, der hoch und heilig verspricht, den Teufelskreis von Korruption, Straffreiheit und Gewalt zu durchbrechen. Das gleissende Licht der Abendsonne strahlt durch die Palmen, aus den Lautsprechern scheppern die Mariachis, der Duft von Tacos und süssen Maiskolben liegt in der Luft, die Kirchenglocken läuten.
Auftritt Andrés Manuel López Obrador. Ein graumelierter, gepflegter Herr Mitte sechzig, mit adrettem Scheitel, blütenweissem Hemd und Pausbacken in einem freundlichen, väterlichen Gesicht. López Obrador sieht aus wie der gemütliche Onkel von nebenan, ist aber ein politisches Schwergewicht Mexikos, der mit Abstand bekannteste Politiker im Land. Wegen seines langen Namens nennt ihn die ganze Nation nur Amlo.
Für Millionen von Mexikanern ist Amlo die Abkürzung für die letzte Hoffnung. Für den langersehnten Umbruch. Seine Anhänger sehen in ihm die Lösung für sämtliche Probleme, seine Kritiker bezeichnen ihn als falschen Messias, Linkspopulisten, Gefahr für Mexiko. Die Trennlinie ist klar: Die Reichen fürchten ihn, die Armen lieben ihn. Die dazwischen wagen den Gedanken: Wenn überhaupt ein Politiker dem leidenden Land ein bisschen Frieden bringen, für etwas Gerechtigkeit sorgen und die abgrundtiefe Ungleichheit erfolgreich bekämpfen kann, dann er.
Wie er das schaffen will, weiss niemand so genau. Vielleicht nicht mal er selbst. Aber das ist anscheinend nicht wichtig, noch nicht, jetzt muss er erst mal Präsident werden. Zweimal hat er es schon versucht, 2006 und 2012. Beide Male, so sind er und viele Menschen in Mexiko überzeugt, wurde er um die Wahl betrogen. Betrogen von dem Politestablishment und seiner Wirtschaftselite, die mit ihrem Geld, ihren Familien, ihrer korrupten Vetternwirtschaft Mexiko seit Jahrzehnten beherrschen.
Amlo nennt sie die «Mafia der Macht». Diese zittert nun.
Denn diesmal sollte es klappen mit dem ersten halbwegs linken Präsidenten in der Geschichte Mexikos. López Obrador bestimmt seit Monaten die Agenda, führt in allen Wahlumfragen mit schier unglaublichem Vorsprung. Seine zwei Rivalen, die fifty-fifty alle grossen Parteien hinter sich vereinen, sind weit abgeschlagen. Keine Chance hat der vierte Kandidat, der erste unabhängige in der Geschichte Mexikos. Sein Übername ist «el bronco», der Rüpel. Sein Rezept gegen Gewalt und Straffreiheit: Dieben und Räubern die Hände abhacken.
Für die Medien, Analysten, Prognostiker und die meisten Menschen im Land ist klar: Amlo wird der neue Präsident. Wenn nicht, wird es sofort heissen: Da ist nicht nur etwas faul im Staate Mexiko. Sondern alles.
Skandal! Na und?
Café La Habana, im Zentrum von Mexiko-Stadt. Hier sassen schon Che Guevara und Fidel Castro, tranken Kaffee und diskutierten, wie man eines Tages Revolution macht. Das war in den 1950er-Jahren – und vielleicht war auch ein bisschen Heimweh mit dabei, dass Fidel sich hier mit Che traf. Das Lokal ist eine Institution und seit 65 Jahren unverändert. Mobiliar, Bar, die grossen Schwarzweissfotografien an der Wand und die Uhr, alles aus einer anderen Zeit.
Nayeli Roldán sitzt vor einem Milchkaffee – eine klein gewachsene Frau mit einem wachen Blick durch riesige Brillengläser. Eine Revolution möchte sie nicht machen, aber etwas beinahe so Revolutionäres: Klarheit ins Dunkle ihres Landes bringen. Die 35-jährige Reporterin des Onlinemagazins «Animal Político» hat zusammen mit zwei Kollegen soeben den renommierten Journalistenpreis Ortega y Gasset des spanischen Weltblattes «El País» gewonnen. Ihre preisgekrönte Arbeit: ein gigantisches Recherchestück mit dem Titel «La estafa maestra» («Der meisterhafte Betrug»). Es ist der grösste je aufgedeckte Korruptionsskandal Mexikos. Mit einem nahezu perfekt organisierten System wurden in nur zwei Jahren 450 Millionen Franken vom Staatshaushalt abgezweigt, veruntreut, gestohlen.
Die Beteiligten: 128 Strohfirmen, 11 Ministerien und mehrere weitere Institutionen der Landesregierung, darunter das Sozial- und das Bildungsministerium sowie der staatliche Erdölkonzern Pemex, 8 öffentliche Universitäten, 50 Politiker und Funktionäre. Mehrere Millionen des gestohlenen Geldes stammten aus dem nationalen Sozialprogramm «Kreuzzug gegen den Hunger», mit dem die Regierung die Armut bekämpfen will.
Nayeli Roldán und ihre Kollegen recherchierten über ein Jahr, trugen ein Gebirge von Daten und Akten zusammen, steckten ihre Nasen in über 180 Firmen in sechs Bundesstaaten rein, zapften über 500 Quellen an, führten mehr als 100 Interviews. Mit selber programmierten Tools werteten sie 14’000 Daten und Dokumente aus, verglichen und verknüpften und stellten am Ende den ganzen Schmutz sauber ins Netz: übersichtlich portioniert und lesefreundlich aufbereitet. Ein Glanzstück des Daten- und Onlinejournalismus. Ein Glanzstück der Organisation: eine enge Zusammenarbeit von 17 furchtlosen Journalisten.
«La estafa maestra» erschien am 5. September 2017.
In jedem anderen Land, wo Politik, Justiz, Medien zumindest halbwegs funktionieren, wäre ein Skandal solchen Ausmasses eine politische Bombe gewesen: mit öffentlicher Empörung, Mediengewitter, Strafuntersuchungen, Rücktritten.
Nichts davon in Mexiko. Kein Aufschrei, keine einzige Strafanzeige, keine parlamentarische Untersuchung, kein einziger Rücktritt. Nichts – ausser einem Journalistenpreis in Spanien. Nayeli Roldán lächelt gelassen, ohne Verblüffung, ohne Zorn: «Dieser Fall zeigt nur, dass die Korruption in unserem Land System hat, alles durchdringt und beherrscht. Die Korruption ist das Einzige, was in Mexiko wirklich funktioniert.»
Die Straflosigkeit, so Nayeli, sei ein unabdingbarer Pfeiler dieses Systems. «Ohne Straffreiheit würde alles in sich zusammenbrechen.»
Zu diesem System gehören auch die Medien. Sie alle sind finanziell vom Staat abhängig, könnten ohne Geld von der Regierung nicht überleben. Nayeli und ihre 16 Kolleginnen waren keineswegs überrascht, dass das Medienecho auf den grossen Betrug zunächst nahezu null war. Erst als die Geschichte diesen Frühling auch als Buch erschien, als die jungen Recherchejournalistinnen den Prestigepreis in Spanien gewannen, schrieben ein paar unabhängige Kommentatoren einige freundliche Kolumnen. Die Redaktionen der Zeitungen und Fernsehstationen gehen der Geschichte aber weiterhin nicht nach. Der 450-Millionen-Betrug bleibt, wie die meisten Skandale in Mexiko, ohne jede Folge.
«Als unabhängige Journalisten arbeiten wir gegen eine Wand», sagt Nayeli Roldán. Sie sieht darin keinen Grund, sich abschütteln zu lassen. Im Gegenteil. Das korrupte System Mexiko ist ihr grosser Stoff. Sie ist alleinstehend, hat keine Kinder, ihre Liebe ist der Journalismus. Ihre Tage dauern oft bis nach Mitternacht. Ihr Handy empfängt Whatsapp-Nachrichten im Minutentakt, fast rund um die Uhr. «Animal Político» gehört zu den wenigen neu gegründeten, unabhängigen Medien in Mexiko, praktisch alle sind Onlinemagazine. Nayeli sagt, dank den neuen Medien sei heute ein Journalismus möglich, der vor zehn Jahren noch unvorstellbar war. Sie schwärmt: «Ich bin überzeugt, wir erleben gerade den grossen Wandel, einen wichtigen Moment in unserem Beruf.»
Ein Wandel, der Menschenleben kostet. Mexiko ist, gemeinsam mit Syrien, inzwischen für Journalisten das gefährlichste Land der Welt. Letztes Jahr wurden zwölf Berufskollegen von Nayeli Roldán getötet, in diesem Jahr bereits sechs.
Aber auch andere Berufsgruppen leben in Mexiko gefährlich. Polizisten zum Beispiel. Oder Politikerinnen. Allein seit September, dem Start des Wahlkampfes, wurden 116 Politikerinnen getötet, viele davon kandidierten zum ersten Mal für ein Amt.
Nayeli Roldán weiss nicht, «wie lange das noch so weitergehen kann, wann die Grenze erreicht ist». Sie weiss nur: «Solange eine Mehrheit von der Korruption und der Straffreiheit profitiert, wird sich in Mexiko nichts wirklich verändern.» Im Dulden und im Schweigen seien die Mexikanerinnen leider auch Weltspitze. Trotzdem ist sie zuversichtlich, sieht um sich eine junge Generation, die gut vernetzt, kritischer und wacher sei, sich nicht mehr darauf beschränke, die Dinge einfach laufen zu lassen, wie sie immer liefen. Sondern sich mit neuen Mitteln organisiere. «Wenn nicht wir Jungen unser Land verändern, tut es niemand.»
Neue Bäumchen
Ein Samstag auf einem schmalen Grünstreifen, eingeklemmt zwischen vier Quartierstrassen im Hauptstadtbezirk Coyoacán. «Der Boden ist verdammt hart», sagt Roberto Castillo, der mit beiden Füssen auf einen Spaten springt, um ihn ein paar Millimeter weiter in die Erde zu rammen. Der junge Mann im mintgrünen T-Shirt mit aufgedrucktem Baum auf der Brust will zusammen mit Quartierbewohnerinnen hier ein paar Jungbäume setzen. Auf dem Rücken seines Shirts steht: «Wähl das Bäumchen!»
Roberto (27) ist kein Gärtner, sondern auf dem Weg in die Politik. Er will am Sonntag gewählt werden, als unabhängiger Abgeordneter ins Parlament von Mexiko-Stadt. Ohne Partei, ohne Anzug, ohne Krawatte, ohne Tricks und ohne Stimmen zu kaufen. So, wie das die etablierten Parteien tun, die vor den Wahlen nützliche Dinge wie Wassertanks, Durchlauferhitzer oder Banknoten verschenken. Ist nicht sauber, aber mexikanische Tradition.
Roberto und seine rund 300 Freiwilligen versuchen es auf die ehrliche Tour. Seit Wochen gehen sie von Haus zu Haus, drücken die Türklingel, warten, dass jemand aufmacht, und legen dann los. Mit ihren Ideen, ihrer Begeisterung und Roberto Castillos Wahlprogramm. Das ist konkret und verständlich, mit klaren Positionen und Lösungsvorschlägen für Mexikos brennendste, uralte Probleme. Das Gedankengut: klassisch sozialdemokratisch-ökologisch. Oberstes Gebot: Ehrlichkeit! Keine Tricks!
Robertos Kollege, Pedro Kumamoto (28), hat es vor drei Jahren in Jalisco als erster junger Unabhängiger ins Parlament geschafft. Kuma, wie ihn alle nennen, ist inzwischen so etwas wie ein Politpopstar und setzt nun zum Sprung ins nationale Parlament an. Mit ihm kämpfen 16 weitere mit dem Bäumchen auf der Brust in vier Bundesstaaten für einen Parlamentssitz. Ihre Helfer: Hunderte Freiwillige, fast alle jung. Ihre Begründung: «Wenn wir nicht Politik machen, kommen andere und machen sie für uns.» Ihr Wahlslogan: «Wir werden sie ersetzen!» Gemeint sind die Politiker aller Parteien. Roberto hat Politikwissenschaft und internationale Beziehungen studiert, arbeitet jetzt an einer der renommiertesten Hochschulen Mexikos. Seine Forschungsgebiete: Bürgerbeteiligung, Transparenz, Antikorruption.
Gewalt, Straffreiheit, Ungleichheit und Bestechung. Das sind die Probleme, in dieser Reihenfolge, die Roberto hört, wenn er die Leute fragt, was sie am meisten beschäftigt. Er klingelt nicht nur an Türen. Er steigt auch in Busse, setzt sich in Tacobuden an die Tische der Gäste, stellt sich auf Märkten an die Stände in die Schlange der Wartenden, spricht mit und zu den Leuten. Sein Wahlkampf gleicht dem Job einer Sozialarbeiterin. Er macht mit Quartierbewohnern Fahrradtouren, Picknicks, pinselt mit Eltern Zebrastreifen auf Strassen, putzt Pärke, pflanzt Sträucher und Bäume.
Robertos Team ist zuversichtlich, dass er am Sonntag gewählt wird. Und ihre Bewegung der Bäumchen irgendwann zu einem Wald heranwächst.
In verdammt harter Erde.