Binswanger

Die postfaktische Bedrohung

Trump will Härte demonstrieren, quält Kleinkinder und gibt seinen Gegnern die Schuld.

Von Daniel Binswanger, 23.06.2018

Wir haben uns an einen US-Präsidenten gewöhnt, der im Schnitt sechs bis sieben Mal pro Tag eine Lüge, grobe Unkorrektheit oder sonstige Tatsachenverdrehung von sich gibt. Wer nimmt es noch zur Kenntnis, wenn Trump die Welt erneut mit groteskem Bullshit traktiert? Der Skandal um die Behandlung der Kinder von illegalen Einwanderern darf dennoch nicht links liegen gelassen werden.

Er bestätigt nicht nur den scheinbar bodenlosen Zynismus der gegenwärtigen US-Regierung. Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die simple Negierung der Wirklichkeit ein Kernelement der trumpschen Machtstrategie darstellt – und wohl die ernsteste Herausforderung für die amerikanische Demokratie. Für die westlichen Demokratien.

Es ist wieder einmal an der Zeit, Hannah Arendt zu zitieren. In ihrem Essay «Wahrheit und Politik» weist sie die Politisierung des Faktischen als das eigentliche Charakteristikum moderner Machtsysteme aus: Sie ersetzen den Streit um Ideen, um religiöse Überzeugungen, um ewige Wahrheiten durch den Streit um simple Fakten. Sie transformieren damit jedoch Tatsachen in blosse Meinungen, besonders dann, wenn diese Tatsachen politisch explosiv sind. Das hat den Vorteil, dass demokratischer Pluralismus gewahrt werden kann.

Das Problem ist, dass dort, wo diese Transformation vollständig gelingt, wo Tatsachen tatsächlich nur noch «Meinungen» sind und das Korrektiv der Wirklichkeit tatsächlich ausgehebelt wurde, der demokratische Meinungspluralismus von totalitärer Propaganda nicht mehr zu unterscheiden ist. Jede Form der Barbarei, der Gewalttätigkeit kann dann als legitim und gerechtfertigt erscheinen. Die eigentliche Finalität der Propagandalüge, sagt Arendt, ist die «Vernichtung». Es ist die Achillesferse der demokratischen Ordnung. Der heutige Leader der freien Welt arbeitet mit aller Macht daran – ob absichtlich oder nur aus pathologischer Eitelkeit und tumbem Zynismus –, diese Ordnung zu zerstören.

Die Trump-Administration hat Anweisung gegeben, dass entgegen der bisherigen Praxis die Kinder von illegal die amerikanische Grenze überschreitenden Erwachsenen getrennt und in besonderen Auffang-Institutionen zurückgehalten werden sollen. Diese Massnahme erlaubt es, die Eltern unbegrenzt – das heisst bis zur definitiven Klärung ihrer Asylberechtigung – in Haft zu halten und dann auszuschaffen.

Kinder dürfen gemäss dem sogenannten Flores-Vergleich, der zurückgeht auf einen Supreme-Court-Beschluss aus den 1990er-Jahren, nur unter erleichterten Haftbedingungen und höchstens für 20 Tage von den Bundesbehörden zurückgehalten werden. Diese Frist ist nicht ausreichend, um Asylverfahren abzuschliessen, weshalb den amerikanischen Behörden nur zwei Lösungen bleiben: die ganzen Familien vor Abschluss der Verfahren aus der Haft zu entlassen oder die Kinder von den Eltern zu trennen. Bis anhin hat man illegal eingereiste Asylbewerber nicht in Haft gehalten. Da die Trump-Administration Härte demonstrieren will, hat sie diese Praxis geändert: Die Eltern sind in Haft geblieben. Die Kinder wurden in spezialisierten Institutionen festgehalten.

Dieses Vorgehen ist skandalös, aber es kann eine gewisse politische Logik für sich reklamieren. Aufgrund des Kinderschutzes sind den amerikanischen Behörden im Kampf gegen illegale Einwanderer, die von Kindern begleitet sind, bis zu einem gewissen Grad die Hände gebunden. Sie werden wieder freigelassen und können abtauchen. Die Behauptung, dass an der Südgrenze der USA aktuell ein Notstand herrsche, die illegalen Grenzübertritte nach oben schnellen würden und deshalb jetzt dringend gehandelt werden müsse, ist zwar frei erfunden. Denn die Statistik sagt etwas anderes.

Aber schon die Obama-Administration ist sehr aggressiv gegen illegale Einwanderer vorgegangen und stattete die Einwanderungsbehörden mit erweiterten Zwangsmitteln aus. Sie wollte allerdings die Trennung von Eltern und Kindern vermeiden und versuchte deshalb, beschleunigte Asylverfahren innerhalb der 20-Tage-Frist abzuwickeln. Das Ergebnis war desaströs, und der Versuch musste schnell wieder beendet werden: In so kurzer Zeit lässt sich ein rechtsstaatliches Verfahren nicht durchführen.

Warum also ist Trumps erst jetzt unter massivem öffentlichem Druck widerrufener Politikwechsel so abstossend und bedrohlich? Es ist nicht nur die Unmenschlichkeit, mit der auch Kleinkinder von ihren Müttern und Vätern getrennt wurden. Verstörend war vor allem der Versuch, für diese plötzliche Brutalität den Demokraten die Verantwortung anzulasten. Der Präsident, sein ganzes Kommunikationsteam und natürlich auch die Trump-freundlichen Medien logen ganz einfach drauf los, dass sich die Balken bogen. Mit atemberaubender Unverfrorenheit wurde versucht, die Tatsachen in ihr Gegenteil zu verkehren.

De facto gab die Regierung, das heisst Trump höchstpersönlich die Order, Begleitpersonen und Kinder zu trennen. Er brauchte dafür gar keine gesetzliche Grundlage, er hat diese Politik nun auch mit einer einfachen präsidialen Verordnung wieder umstossen können. Aber Trump log ganz einfach und behauptete, die von Demokraten beschlossenen Gesetze liessen ihm keine andere Wahl. Er wollte Härte beweisen in der Ausländerpolitik – unmenschliche Härte – und zugleich die Unmenschlichkeit seinen Gegnern anlasten. So einfach ist das in der postfaktischen Welt, wenn Tatsachen, Widersprüche, Konsistenz ganz einfach keine Rolle mehr spielen. Dann ist alles möglich, einschliesslich jeder Schändlichkeit.

Demokratien können damit leben, dass Tatsachen selten eindeutig und immer auch umstritten sind. Womit sie nicht leben können, ist ihre Abschaffung. Arendt zitiert den ehemaligen französischen Premierminister Clemenceau, der auf die Frage, was künftige, den Fakten verpflichtete Historiker wohl einmal über den Ersten Weltkrieg sagen würden, die Antwort gab: «Das weiss ich nicht, aber eine Sache ist sicher. Sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.»

Das war vor hundert Jahren. Ob es im postfaktischen Zeitalter auch künftig gelten wird?

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Illustrator Alex Solman