Farce als Kampfmittel
Im Schweizer Nationalrat werden immer seltsamere Methoden angewandt. Nicht aus Zufall.
Von Daniel Binswanger, 16.06.2018
Halleluja! Was kaum mehr menschenmöglich scheint, hat das Schweizer Parlament nun doch zustande gebracht: Die Nationalratsdebatte zur «Selbstbestimmungsinitiative» konnte trotz generalstabsmässiger Filibuster-Aktionen der SVP am Montag zu einem spätnächtlichen Ende gebracht werden.
Auch die sich seit zehn Jahren dahinschleppende Aktienrechtsrevision wurde trotz des Nicht-Eintreten-Antrags der Volkspartei und eines Teils der FDP nun doch in den Rat gebracht. All diejenigen Schweizerinnen und Schweizer, die weiterhin der Überzeugung sind, dass in einer halbdirekten Demokratie das Parlament einen unverzichtbaren Job zu erfüllen hat, können durchatmen. Die Anstrengungen, Legitimität und Leistungsfähigkeit der Parlamentsarbeit zu zerstören, werden zwar zunehmend intensiver. Aber noch sind sie nicht immer von Erfolg gekrönt.
Die Ausweitung der politischen Kampfzone und die kontinuierliche Absenkung von Standards sowohl der Sachlichkeit als auch des Anstandes sind in der Schweizer Politik selbstredend schon seit den 80er-Jahren im Gang. Sie erreichen aber einen neuen Höhepunkt mit dem gezielten Lächerlich-Machen der Parlamentsarbeit, das die SVP neuerdings fest in ihre Kommunikationsstrategie integriert hat.
Der Anfang wurde gemacht bei der Umsetzung der Masseinwanderungsinitiative, als die Debatte bereits mit allen noch so absurden Mitteln ins Endlose verlängert wurde. Die SVP-Fraktion stellte sich schon damals selber Fragen, um die Redezeit künstlich auszudehnen, und fuchtelte so lange mit Landesverratsvorwürfen und in den Ratssaal geschmuggelten Protesttransparenten herum, bis kein Zweifel mehr bestehen konnte, dass die ganze Veranstaltung eine reine Farce ist.
Bei der jetzigen Debatte über die Selbstbestimmungsinitiative erweiterte SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi das Repertoire um eine Marionetten-Nummer. Andreas Glarner führte am Rednerpult eine Performance mit Heftpflastern auf. Nationalrat Zanetti verglich das Völkerrecht mit Giftgas, Roger Köppel sprach von einen Staatsputsch. Was kommt als Nächstes? Kriegsbemalung? Stinkbomben? Pyros?
Natürlich ist es den Obstruktionspolitikern nicht gelungen, die Schlussabstimmung so lange zu verzögern, dass sie in dieser Session nicht mehr stattfinden konnte, und dadurch den Termin des Urnengangs zur Selbstbestimmungsinitiative näher an die Parlamentswahlen heranzurücken. Sie dürften damit gerechnet haben. Das Schweizer Parlamentsgesetz bietet wenig Spielraum für prozedurale Blockaden. So wie die Mehrheitsverhältnisse im Parlamentsbüro des Nationalrats liegen, war von Anfang an relativ sicher, dass die SVP eine Abstimmung in der Sommersession nicht verhindern kann. Aber darum ging es gar nicht. Viel wichtiger war das Medienecho auf das Spektakel. Und die Beschädigung der Legitimität des Parlaments.
Populistische Propaganda-Aktionen haben mit terroristischen Attentaten eines gemeinsam: Man kann sie nicht denunzieren, ohne ihnen jene mediale Aufmerksamkeit zu schenken, die ihr einziger Existenzgrund ist. Natürlich könnte nichts unter der Sonne geringeren News-Wert haben, als wenn Aeschi und Konsorten sich wieder einmal zum Affen machen. Trotzdem ist das absurde Spektakel im Nationalrat zum Medienthema geworden.
Die Logik dieser Aktionen hat SVP-Führer Christoph Blocher bei seinem Rücktritt aus dem Nationalrat glasklar beim Namen genannt. «Am meisten bedroht sind Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt jetzt durch Bern selber», erklärte er im Mai 2014. Die Kernbotschaft lautet: Die Volksvertreterinnen sind die Feinde des Volkes. Folglich ist auch alles, was den Nationalrat in seiner Arbeit behindert, was den parlamentarischen Prozess sabotiert, die Institution delegitimiert und der Lächerlichkeit preisgibt, ein Dienst am Schweizer Volk.
Mit der Behauptung, das Parlament sei eine halb nutzlose, halb bösartige «Schwatzbude», knüpft die SVP an sehr ungemütliche historische Vorbilder an, wie Georg Kreis in einem Essay dargelegt hat. Da die Volkspartei jedoch einen Drittel der Nationalräte stellt, kann sie den parlamentarischen Leerlauf – sozusagen als selbsterfüllende Prophezeiung – gleich selber herbeiführen. Das ist der Grund, weshalb sie nun auch in der Arena des Nationalratssaals immer absurdere Stillosigkeiten als Kampfmittel einsetzt. Je grotesker, desto besser. Je entwürdigter die Institution, desto plausibler die These von ihrer Schädlichkeit.
Selbst wenn die Volkspartei damit die eigentlichen Beschlüsse nicht beeinflusst, darf der Langzeiteffekt solcher Agitationen nicht unterschätzt werden. Demokratische Institutionen sind nur so viel wert wie der Geist, der sie beseelt. Sie sind nur so viel wert wie der Basiskonsens, der Parlamentsmitglieder aus allen Lagern befähigt, sachlich um Kompromisse zu ringen und halbwegs konstruktiv zusammenzuarbeiten. Mittlerweile gehört nicht einmal mehr die Unantastbarkeit der Menschenrechtskonvention zu dieser geteilten Basis.
Für die Zukunft der Schweizer Demokratie – die direkte wie die indirekte – ist das keine gute Nachricht.
Illustration Alex Solman
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