Die Geburt des Trainings, des Dopings, des Irrsinns
Die Geschichte meines Freundes Paolo Fusi, der Schwimmer war zu der Zeit, als Pioniere den modernen Spitzensport entwickelten. Erst das wissenschaftliche Training. Dann das noch fast unschuldige Doping.
Von Constantin Seibt, 13.06.2018
«Der grosse Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein.»
Bert Brecht
Sie sind für sauberen Sport? Sie glauben, dass es so etwas gibt? Sie glauben überhaupt an Reinheit?
Zugegeben – auf den ersten Blick liegen Sie vorn. Die weltweit führenden Spitzensportler gleichen heute einem Apple-Produkt. Profis wie Roger Federer, Ronaldo, Usain Bolt bewegen sich fugenlos, mit dem Zauber der Einfachheit.
Die Brutalität der Anfänge ist nur noch Erinnerung. Lange Jahrzehnte waren die führenden Sportler Boxer und Radfahrer. Sie waren Schwerarbeiter. Boxkämpfe dauerten nicht zwölf Runden, sondern bis zum K.o. Und Sechs-Tage-Rennen tatsächlich sechs mal vierundzwanzig Stunden. Wer antrat, kämpfte weniger um Pokale als ums Überleben.
Heute ist Sport – wie vor hundert Jahren die Kunst – in der Abstraktion angekommen. Nach Spielende folgen im TV Zahlen und Grafiken. Während Athletinnen mit ihrem Stab bereits im nächsten Flugzeug sitzen und Tabellen studieren: Abschnittszeiten, Trainingspläne, Blutwerte. Adrenalin kristallisiert fast ohne Umweg zu Statistik.
Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit.
Denn die Abstraktheit des Sports ist das Ergebnis der Arbeit von Generationen an seiner Optimierung. Nun ist man nahe an der Perfektion. Und Perfektion – egal ob in der Kunst, im Ingenieurwesen, wo immer – besteht exakt darin: die Illusion von Reinheit herzustellen. Denn Perfektion löscht die Spuren der Anstrengung aus, die zu ihrer Herstellung benötigt wurde.
Was dadurch unsichtbar wird, ist ihr Rohstoff: der Irrsinn und der Irrtum. Das Höllenfeuer, ohne das keine Höchstleistungen möglich sind.
Dies ist die Geschichte meines Freundes Paolo Fusi. Es ist eine Geschichte aus der Anfangszeit des Spitzensports. Damals, als alles begann: das systematische Training, das noch unsystematische Doping, der Aufstieg aus der rohen Unschuld.
Paolo schwamm eine Jugend lang, erst in der Mannschaft der AS Roma, später beim SC Sergio De Gregorio. Er war zwar ein unauffälliger Spitzenschwimmer. Kein Mensch erinnert sich an seine Resultate.
Aber er war dabei, als Sportgeschichte geschrieben wurde: Die AS Roma war in den Sechzigerjahren die erste professionelle Schwimm-Mannschaft Italiens. Und sie war der Club, in dem eine Generation zuvor der bekannteste Filmstar Italiens schwamm: Bud Spencer.
1. Akt – Die Wette
Und die ganze Geschichte begann auch mit Bud Spencer. Dieser hatte damals noch keine Ahnung, dass er einmal beim Film landen würde. Er hiess noch Carlo Pedersoli: Er war der beste Schwimmer Italiens, ein Modellathlet und der Star der Nationalmannschaft.
Es war einer der letzten Sommertage im Jahr 1956. Pedersoli schlenderte mit seiner Clique durch eines der römischen Schwimmbäder. Einer dieser Kumpels war ein kleiner, dicker Bauarbeiter. Sein Name war Marcello, er war 26, verlegte mit seinem Vater Heizungen – und auf den ersten Blick schien er das Gegenteil von Pedersoli zu sein. Aber wie sich herausstellen sollte, war er gar noch verrückter als dieser.
Im Schwimmbad fiel Pedersoli und seinen Kumpels eine Frau auf, die ebenfalls mit ihrer Clique unterwegs war. Sie war eine halbe Amerikanerin, elegant, aus der römischen Oberschicht. Die Jungs sagten ihren üblichen Unfug, aber Marcello sagte: «Die hier. Die werde ich heiraten. Ich wette jeden Betrag.»
Die Jungs lachten. Sie war grösser als er, ein Mädchen mit Bildung. Er war klein, grob, unwissend, mittellos und fett. Sie hatten noch kaum ein Wort zu zweit gesprochen. Es gab für ihn nicht den geringsten Grund für die Annahme, dass er eine Chance hatte.
Keinen Grund, ausser vielleicht einen einzigen: Marcello hatte einen Instinkt für Schwäche. Er musste ihre Unsicherheit gerochen haben.
Jedenfalls ging er zu ihr und sagte ihr, dass er sie heiraten würde.
Sie sah ihn an und lachte. Dann sagte sie: «Du kannst nicht einmal schwimmen.»
Das stimmte. Er hatte es nie gelernt. Aber er antwortete: «Im nächsten Jahr bin ich italienischer Meister.»
Sie lachte wieder und wandte sich ihren Freundinnen zu.
Marcello hatte genug gehört. Er verlor keine Zeit. Er machte ab sofort nach der Arbeit Übungen. Im letzten Sommermonat verlor er etliche Kilo. Im Herbst lernte er Schwimmen und trainierte wie ein Pferd. Dann beobachtete er den ganzen Winter lang jeden Morgen das Training der Nationalmannschaft.
Im Februar stieg er mit ihnen ins Becken. Sie lachten gutmütig über ihn, wie er ihnen um Längen hinterherschwamm. Doch Marcello hatte beim Zuschauen etwas gesehen. Er hatte erkannt, dass Schmetterling die Disziplin war, die den italienischen Spitzenschwimmern am wenigsten lag. Deshalb trainierte er vom ersten Tag nichts anderes. Er schwamm morgens und abends ausschliesslich Schmetterling, von Februar bis Juni, jeden einzelnen Tag.
Dann kam die italienische Meisterschaft. Marcello schaffte es in den Final. Dort gab er alles – und verlor. Am Ende musste ihn Pedersoli persönlich aus dem Becken ziehen. Und wie fast immer war es auch Pedersoli, der gewonnen hatte. Aber Marcello wurde Dritter. Er hatte auf den besten Schwimmer Italiens nur zwei Sekunden verloren.
Am nächsten Tag erschien in der Zeitung eine kurze Notiz mit den Ergebnissen der Meisterschaft. Marcello kaufte die Zeitung, wartete, bis die schöne Römerin aus dem Haus kam und hielt sie ihr mit den Worten unter die Nase: «Und du hast gesagt, ich kann nicht schwimmen.»
Nur Wochen später zogen sie zusammen. Sie hatte zuvor in der Künstlerszene verkehrt, war Modell gestanden und hatte mit ein paar Malern Affären gehabt – alle in ihrer Clique waren intellektuell, freundlich, verträumt, weich. Marcello dagegen war roh, entschlossen, ehrgeizig – ein Irrer. Sie war so begeistert von ihm, wie die weisse, vornehme Katze in «Aristocats» vom Strassenkater.
Für beide Familien war es eine Katastrophe. Für ihre, weil die einzige Tochter von einem Proleten aus der Gosse gekapert worden war. Für seine, weil er keine Frau, sondern eine Ausserirdische gewählt hatte, eine vornehme Nichtsnutzin, für die und vor der sie sich schämten.
Doch die Verzweiflung der Eltern war ihnen beiden egal. Sie zogen in eine winzige Einzimmerwohnung mit Koch- und WC-Ecke. Dann heirateten sie. An Weihnachten war sie schwanger.
Im Sommer 1959 wurde ihr erster Sohn geboren, Paolo, später folgten weitere Kinder. Marcellos Lohn als Bauarbeiter reichte kaum aus, die wachsende Familie zu ernähren: Die Kinder schliefen erst zu zweit, dann zu dritt in einem Bett und hatten eine Kindheit lang Hunger. Sie besorgte den Haushalt und kochte Pasta und Kohlgemüse, das sie am Strassenrand gesammelt hatte. Er montierte tagsüber Heizungen, schwamm am Wochenende Wettkämpfe, machte die Abendschule und las die Nächte hindurch wie ein Besessener, um auf ihr Niveau zu kommen.
Es war eine brutale Zeit, aber sie machten sich keine Gedanken. Von 1958 bis 1964 hatten sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens.
2. Akt – Amerika
Unter den Büchern, die Marcello stapelweise in sich hineinfrass, befand sich anfangs wahllos alles: Sachbücher, amerikanische Romane, Biografien, Essays, Lexika. Aber zunehmend las er Medizinbücher.
Denn Marcello hatte etwas entdeckt, als er einen Winter lang die Nationalmannschaft beobachtet hatte, um eine Schwachstelle zu finden: Er hatte gesehen, wie miserabel das Training war. Sein dritter Platz an den Landesmeisterschaften war Beweis genug.
Tatsächlich war der Schwimmsport damals komplett amateurhaft. Selbst die internationalen Spitzenathleten schwammen nicht mehr als tausend Meter am Morgen und am Abend. Und das war es schon. Es gab keine Masseure, keine Fitnesstrainer, keine individuellen Pläne, keine Strategie und keine Disziplin.
Pedersoli etwa schlenderte bei seinen Rennen oft mit einer Zigarette im Mundwinkel zum Startblock, die er dann lässig neben das Becken spuckte – die Begeisterung der zuschauenden Mädchen war ihm wichtiger als die Luft in der Lunge. Er gewann zwar trotzdem so gut wie immer, aber nur national. (Ohne das Rauchen, behauptete er später, wäre er Weltmeister geworden.)
Marcello sah eine Chance. 1962 übernahm er als Trainer die SS Mediterranea, eine unbedeutende römische Quartiermannschaft. Er tat es ehrenamtlich, aber mit finsterer Entschlossenheit. Er hatte von seiner Frau, der halben Amerikanerin, ein paar Brocken Englisch gelernt – und er trainierte nach den Methoden, die er in amerikanischen Handbüchern zu Trainingstechniken gelesen hatte: Er liess die Quartierjungs täglich vier Stunden schwimmen, mit einem individuellen Plan für jeden einzelnen von ihnen.
Nach nur einem Jahr gewann die Staffel der SS Mediterranea die italienische Meisterschaft. Gleich drei der Quartierjungs schafften den Sprung in die Nationalmannschaft.
Der Verband war beeindruckt. Er finanzierte Marcello ein Praktikum in Amerika. Marcello kündigte bei der Baustelle und flog nach Sacramento. Drei Monate später war er Assistent von Sherman Chavoor, dem Trainer der University of California. Man bot ihm einen Vierjahresvertrag an.
Marcello rief seine Frau an und fragte, ob sie nach Amerika ziehen wolle. Sie schrie vor Freude. Ihre einzige Frage war, ob er das Geld für den Flug habe.
Er flog zurück, um den Umzug vorzubereiten. Und der Familie mitzuteilen, dass die Zeit der Armut nun Vergangenheit war. Dass er nach Kalifornien ziehe – mit einem fürstlichen Vertrag für vier Jahre.
Als er es seinen Eltern mitteilte, fiel seine Mutter in Ohnmacht. Als sie wieder aufwachte, fing sie an zu schreien: «O Gott, was habe ich dir angetan, dass du meinen Sohn nimmst und in der Fremde sterben lässt!» Und zu ihrer Schwiegertochter sagte sie: «Du Sau, du Hure, du Tochter Satans …»
Marcellos Vater gab ihr eine Ohrfeige. Sie hörte nicht auf zu toben. Dann begann er, seine Frau systematisch zusammenzuschlagen, bis sie sich still auf dem Boden krümmte. Darauf strich er ihr über das Haar und wandte sich traurig seinem Sohn zu: «Schau, Marcello, was du deiner Mutter angetan hast!» Dann fing auch er zu weinen an. «Gerade jetzt, wo ich genug gespart habe, um mit meinem einzigen Sohn eine eigene Firma aufzumachen!»
Marcello verschob die Reise um drei Monate. Die Amerikaner hatten keine Geduld. Sie kündigten den Vertrag. Das Telegramm kam am Tag vor Weihnachten.
Marcello Fusi starb an Weihnachten 1964. Seine Leiche blieb zwar offiziell am Leben. Sie bewegte sich täglich in die kleine Baufirma seines Vaters und installierte Heizungen. Sie verdiente im Bauboom der Sechzigerjahre ein kleines Vermögen. Er bekam einen guten Vertrag als Cheftrainer beim Schwimmverein der AS Roma. Sie kündigte 1969 die Einzimmerwohnung über der Trattoria und mietete eine Wohnung mit drei Badezimmern und Terrasse. Sie zeugte noch zwei weitere Kinder.
Aber die neue Wohnung war nichts als ein gigantisches Grab, bewohnt von einem Zombie. Marcello Fusi hatte aufgehört zu existieren. Er war mit seinen Träumen gestorben.
3. Akt – Unter Wasser
Viele Jahre später gab Marcello seinem Sohn gegenüber zu, dass sein Herz tot war. Er sagte: «Anfangs habe ich Schwimmtraining aus Liebe gemacht, danach nur noch aus Rache.»
Er war immer ein Einzelgänger gewesen, aber nun war er ein Mann ohne Freunde, ohne jede Kontrolle. Nach dem Umzug begann Marcello allein zu essen, weil ihm die Familie auf die Nerven ging. Die beiden ältesten Söhne rief er einmal jedes Wochenende nach dem Abendessen zu sich. Dann stellte er ihnen eine einzige Frage, immer dieselbe: «Was hast du diese Woche für deine Zukunft getan?»
Am Anfang wussten Paolo und sein Bruder Carlo nicht, was sie antworten sollten. Marcello zog seinen Gürtel aus der Hose und begann sie schreiend zu peitschen: «Wenn ihr es selber nicht wisst – ihr verwöhnten Lumpen! –, dann werde ich es selber für euch entscheiden: Baustelle oder Bergwerk! Baustelle oder Bergwerk!»
Die einzige Alternative war: Schwimmen. Mit Marcello als Trainer. Am Ende mussten alle fünf Kinder schwimmen. Schwimmen war unentrinnbar. Sie waren gezeugt worden, um zu schwimmen. Um das Schwimmen zu lieben.
Paolo schwamm zehn Jahre Tausende von Bahnen, am Morgen vor der Schule, am Nachmittag danach, stets unter den Augen seines Vaters. Er war als Schwimmer nur halb zu gebrauchen: ein brillanter Schwimmreflex, aber zu schwere Knochen. Ein Jahrzehnt lang kämpfte seine Muskelmasse gegen sein Gewicht.
Marcello war noch immer ein brillanter Trainer, den anderen zehn Jahre voraus. Er stellte individuelle Pläne zusammen. Er war der erste in ganz Italien, der einen Psychologen beschäftigte. Er sprach bei Problemen mit dem Schützling und beiden Elternteilen. Spitzenschwimmen ist nichts Mechanisches, weit mehr als pure Muskelkraft – es braucht Strategie, Selbstvertrauen, einen klaren Kopf.
Vor allem braucht ein erfolgreicher Schwimmer eines: Haltung. Marcello interessierte nie, ob jemand ein Rennen gewann oder verlor. Denn seiner Ansicht nach ging es bei diesem Sport einzig und allein darum, sich selber zu schlagen.
Die anderen Schwimmer liebten Marcello wie einen Vater. Und er liebte sie. Er gab ihnen Spitznamen wie «John Wayne» oder «Mitch». Seine besten Schützlinge nannten sich «die Unzertrennlichen» – sie wurden als Staffel Europameister und holten Bronze an den Weltmeisterschaften. Marcello war ein Wissenschaftler, ein Magier, ein Meister der Motivation.
Für alle – nur nicht für seine fünf Kinder: «Wir waren Maschinen, die anderen Freunde», sagt Paolo. Keiner der Söhne, keine der Töchter erhielt je einen Spitznamen von ihm, niemand ein Lob, geschweige denn eine Umarmung. Marcello Fusi hielt Zärtlichkeit zwischen Vätern und Kindern für eine Spielart der Homosexualität.
Er förderte sie trotzdem. Er kaufte ihnen Platten, von den Beatles, Joan Baez, Bob Dylan (und einen Fünfziger-Schuber mit Klassikerkonzerten), damit sie kultiviert würden. Er bewunderte, beneidete, nutzte und hasste die Fähigkeiten seines Sohnes beim Schreiben und Rechnen. Aber im Wesentlichen beschränkte er seine Erziehung auf die Frage nach der Zukunft. Die Alternativen waren: Schwimmen. Baustelle. Bergwerk. Oder Klapsmühle.
Sie wählten das Schwimmen. Wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg.
Paolo schaffte es für kurze Zeit in die Nationalmannschaft.
Carlo wurde eines der grössten Talente des italienischen Wasserballs, eines brutalen Sports, der den Vorzug hatte, nicht unter den Augen des Vaters stattzufinden. Schon vor Beginn der Pubertät war Carlo bereits eine Legende für seine Beleidigungen von Gegnern und Schiedsrichtern. Etwa: «Ich werde dich in den Arsch ficken, so, dass Flugzeuge hindurchfliegen können – und zwar ohne die Wände zu berühren!» Er wurde mit fünfzehn für fünf Jahre international gesperrt, als er einem Schiedsrichter mit dem Wurf einer hölzernen Absperrkugel eine Rippe brach. Im Jahr darauf ging er zur Marine.
Fabio hatte ein leichtes Asperger-Problem, war aber ein aussergewöhnlicher Schwimmer. Er ging in einen Club des Militärs, wurde Vize-Weltmeister im Marathonschwimmen und schaffte es bei den Olympischen Spielen in den Final.
Elisabetta war ebenfalls ein enormes Talent – sie gewann serienweise nationale Titel und schwamm an zwei Olympischen Spielen. Sie hörte Anfang der Achtzigerjahre mit Schwimmen auf, indem sie Hals über Kopf den Polizisten heiratete, der sie beschimpft hatte, weil sie im Flugzeug ihren Pass verloren hatte.
Nur die jüngste Schwester Sara entkam. Sie war ein gescheites Mädchen. Sie wurde als Kind sehr dick, schloss als Erste der Familie an der Universität ab, blieb kinderlos und wurde Anwältin.
4. Akt – Testosteron
Ende der Siebzigerjahre fuhr die italienische Junioren-Nationalmannschaft für ein Trainingslager in die DDR. Dort erwartete sie ein Schock. Jeder einzelne DDR-Schwimmer war schneller als der schnellste Italiener. Und nicht nur das. Jedes einzelne DDR-Mädchen (etwa Kristin Otto oder Barbara Krause) war schneller als der schnellste italienische Junge.
Marcello stand vor einem Rätsel. Soweit er es beurteilen konnte, waren die DDR-Trainingsmethoden nicht besser als die eigenen. (Er hielt sie eher für schlechter.) Ebenso schien es ihm unwahrscheinlich, dass in der DDR genetisch überlegene Jugendliche lebten. Oder dass die Ernährung einen Unterschied machte.
Zu Marcellos Glück hatte er als Co-Trainer Bubi Dennerlein mitgenommen. Bubi war der Sohn einer Italienerin und eines deutschen Soldaten: Er sprach Deutsch, die DDR-Schwimmer mochten ihn. Jemand gab ihm eine Probe der Vitamine, mit denen die DDR-Junioren ihre galaktische Leistungen erreicht hatten.
Zurück in Rom, untersuchte das staatliche Sportlabor den Cocktail und liess Kopien anfertigen. Kurz danach schluckten die italienischen Junioren ein in Wasser gelöstes gelboranges Pulver.
Die Resultate waren eine Katastrophe. Die Leistung brach zusammen. Dafür litt das gesamte Team an Kopfschmerzen, unkontrollierten Wutanfällen, Sehstörungen, Depressionen.
Der zentrale Fehler war, dass die unerfahrenen Sportärzte das Mittel viel zu hoch dosiert hatten. Und verpasst hatten, es zu halten, wie es seit Marcellos Übernahme bei den Trainingsplänen üblich war: die Dosierung individuell anzupassen. Es war Steinzeitdoping.
Was genau an chemischer Keule verabreicht wurde, weiss bis heute niemand. Schon allein, weil die ehemaligen Schwimmer nicht oder nur flüsternd darüber sprechen.
Zwar war Doping damals noch nicht einmal illegal. Und um Geld ging es auch nicht. Der Sieger eines nationalen Rennens bekam 50’000 Lire – eine Pizza kostete 4000 bis 6000 Lire. Trotzdem herrscht bis heute Schweigen.
Laut Paolo deshalb:
Die Politik. Die italienische Regierung liebt ihre Sportler, finanzierte zwar das Labor, aber verurteilt Doping: Wer zugibt, zu dopen, ist ein Betrüger, ein Verräter, kein guter Italiener.
Die Familie. Nicht selten waren es die Eltern selbst, die (schon um die regelmässige Einnahme zu sichern) ihren Kindern die Vitamine verabreichten. Jeden Morgen, mit dem Frühstück.
Am schlimmsten war, zumindest für die Jungs, dass das Mittel einen zwar in einen jähzornigen Zombie verwandelte, dass es aber aus einem unaussprechbaren Grund fast nicht abzusetzen war: Nahm man es, war man im Bett ein Gott. Setzte man es ab, versagte man total.
Jedenfalls: Das noch junge italienische Dopingprogramm war ein einziger Absturz. Das änderte sich erst, als einige Jahre später amerikanische Kollegen (unter anderem Sherman Chavoor) mit Know-how aus den US-Laboren halfen. Danach hatten die italienischen Schwimmer wieder eine Chance, international mitzuschwimmen.
Paolo nahm das Pulver etwa fünfeinhalb Wochen. Es verursachte fünfeinhalb Wochen Wirbel im Kopf – und ein paar erstaunliche halluzinatorische Erlebnisse. Danach sah er klar.
Er verliess sein Elternhaus, das Schwimmen, den Sport. Er setzte sich an den Strand und spielte ein Jahr lang Revolution und Gitarre.
5. Akt – Der Körper und sein Kopf
Der Dilettantismus des Steinzeitdopings traf vor allem Sportlerinnen, die zwischen 1957 und 1962 geboren waren. Einige Schwimmer und Schwimmerinnen starben später irritierend früh, verdächtig oft an Leukämie.
Ob Doping dabei eine Rolle spielte, lässt sich nicht offiziell sagen. 2004 veröffentlichte der Fussballer Ferruccio Mazzola seine Erinnerungen an die grosse Zeit von Inter Mailand. Sie begann 1960, als Helenio Herrera Trainer wurde – von seinen Fans «der Magier» genannt. Und von allen anderen «der Totengräber des Fussballs».
Herrera war eingebürgerter Argentinier – zu Zeiten, als Argentinien durch Brasilien dauergedemütigt wurde. Dadurch war er ein Fanatiker des Widerstands geworden: Er erfand ein Spielsystem, das alle Kreativität des Gegners zerstörte: den Abwehrriegel des Catenaccio. Und er war (laut Mazzolas Erinnerungen) ein Pionier der chemischen Kriegsführung. Er verteilte vor jedem Spiel Pillen. Als er merkte, dass einige der Spieler sie wieder ausspuckten, löste er sie im Kaffee auf.
Inter Mailand wurde zum Seriensieger – doch zehn Jahre später begannen die ersten Stars zu sterben: an Herzinfarkt oder Krebs. Nach Mazzolas Enthüllungen zog ihn Inter Mailand vor Gericht – und verlor. Aber auch die Verwandten der toten Fussballer verloren sämtliche Prozesse. Man konnte medizinisch nie nachweisen, dass einer der Todesfälle direkt mit Doping zu tun hatte.
Über Paolo lief – zwanzig Jahre nach seiner Schwimmerzeit – die Legende, dass das Pulver seinen Körper für immer verändert hatte. Gab es einen Notfall in der Zeitung, in der wir beide damals arbeiteten, startete immer dasselbe Ritual. Man servierte Paolo einen Kaffee und eine Cola – er bekam dann einen glasigen Blick und schrieb 48 Stunden durch, ohne Schlaf und Pause.
Worauf wir anderen sagten: «Was genau hast du damals genommen? Wir wollen das Zeug auch!»
Hätte es bei uns funktioniert? Wahrscheinlich: Nein. Denn anderes war prägender als die paar Gramm Pulver: Zehn Jahre Spitzensport hinterlassen einen Spitzensportkörper und einen Spitzensportkopf.
Nicht ohne Grund glich Paolo einem anderen Mann wie im Spiegel. Es war der Mann, mit dem sein ganzes Leben begonnen hatte: der Schwimmstar Carlo Pedersoli, inzwischen längst berühmt als Bud Spencer. Beide waren mit zwanzig Modellathleten gewesen, mit den Körpern griechischer Statuen. Und beide waren nach ihrem dreissigsten Geburtstag nicht wiederzuerkennen. Sie wogen weit über hundert Kilo. Sie waren zwei Brocken aus Fleisch, Muskeln und Haaren, voller gefährlicher Energie.
Ein Körper erlebt beim Ausstieg aus dem Spitzensport denselben Schock wie ein Schwerverbrecher bei der Entlassung aus dem Gefängnis: Die brutale Disziplin fällt über Nacht weg. Und der Körper sehnt sich nach der alten Hölle, tobt und jagt nach Kicks: Drill, Drogen, Essen, Sex. Der Körper eines einstigen Spitzensportlers ist unruhig wie eine Flüssigkeit. Dafür liefert er im Gegenzug eine Art Schalter, der sich umlegen lässt: für Kraftakte aus dem Stand.
Verschlief sein Besitzer, konnte er etwa einer drei Stunden zuvor aufgebrochenen Bergtourengruppe hinterherrennen. Und sie noch vor dem Mittag ohne weiteren Ärger einholen. Oder einem Motorboot bis in der Mitte des Sees hinterherschwimmen.
Der Körper von Paolo Fusi hielt nach dem Entzug zehn Jahre lang seine Form – egal, was sein Besitzer tat, ass oder nicht tat. Dann begann er mit einem Schlag, Unmengen an Fett aufzunehmen. Fast über Nacht erschienen Dutzende von Kilos. Zwar liessen sie sich zu Anfang schnell abtrainieren, aber noch schneller waren sie zurück – mit neuen zusätzlichen Kollegen.
Trotz des doppelten Gewichts war es noch immer ein Hochleistungskörper. Geeignet für eine wilde Präsenz auf der Bühne, explosive Fouls im Fussball oder einen Marathon an Arbeit.
In den Zeiten der Begeisterung (oder der Panik) war er schneller, zäher, gefährlicher als der Körper von weit fitteren Menschen. Fiel das Adrenalin weg, zahlte er seinen Preis: durch Tage von unendlicher Traurigkeit.
Diese Tage waren nur durch eines zu bekämpfen: zu essen, bis man müde wurde und schlief.
Doch noch furchterregender war der Kopf. Es ist keine gute Idee, den Kopf eines Spitzenathleten in die Verantwortung zu setzen. Denn Spitzensport ist mehr als das mechanische Training eines Körpers. Am Ende ist er eine Sache des Kopfes. Paolos Körper konnte vor zehn Jahren Training fliehen – über hundert Kilo schwer, aber trotzdem. Der Kopf nicht. Hier regierte Marcello Fusi weiter, als stünde er noch am Beckenrand.
Er hatte dem Sohn die Haltung vorgegeben: Niemand interessiert sich für dich. Niemand interessiert dein Resultat im Rennen. Wichtig ist nur, dass du dich selbst schlägst.
Sich selber zu schlagen, ist das einsamstmögliche Ziel: Es gelingt höchstens für einen Moment. Dann liegt die Latte noch höher. Und weil niemand anderer zählt, werden alle anderen Menschen zu Statisten in einem Spiel, in dem man abwechselnd Gott oder Versager ist. Wobei man sich, was immer man erreicht, für einen Hochstapler hält.
Kein Wunder, stürzen Spitzensportler oft ab. Oder machen erstaunliche Karrieren. Bud Spencer etwa war Spitzenschwimmer, Star-Schauspieler, Erfinder (etwa von einem Spazierstock mit ausklappbaren Stuhl), Schlagerkomponist, am Ende seines Lebens Bestsellerautor.
Paolo Fusi war Schwimmer, Hippie, Karrierepolitiker, Redenschreiber des Ministerpräsidenten, Sprachstudent, Ghostwriter für Doktoratsarbeiten, Sportreporter, Recherche-Journalist (mit über hundert Prozessen), Kommunenbewohner in der Ex-DDR, Konzertveranstalter, Short-Story-Autor, Sänger in mehren Bands, Inhaber einer Wirtschaftsdetektei, Theaterschreiber, Schauspieler, Universitätsprofessor, Tourismusdirektor.
Er ist der abenteuerlichste aller Leute, mit denen ich je befreundet war. Das war mit Mitte dreissig, als wir noch Kinder waren.
Heute, mit 59, ist er erwachsen. Mit allem, was dazugehört: mehreren Enkelkindern, mehreren Krebsoperationen, mehreren soliden Berufen. Er wurde zum Erwachsenen wie wahrscheinlich alle: durch den Verzicht auf Ausreden, durch klare Jas und Neins, durch die Weigerung, von irgendjemandem – zuallererst sich selbst – Bullshit zu hören.
Und natürlich durch die entschlossene Übernahme des Erbes: Paolo ist heute der Chef – das heisst: der Chef-Problemlöser – seiner weit verzweigten Familie. Und Marcello ist heute, wie beide sagen, «sein Sohn».
Marcello hat längst alle liberalen Ideen seiner Jugend aufgegeben. Er ist ein verbitterter Mann im Trainer, weit rechts, weiterhin ein genauer Beobachter der Schwächen anderer, wach, intelligent, stur, mit der versteinerten Enttäuschung eines betrogenen Kindes.
Bis zu Spencers Tod kamen Bud Spencer und Terence Hill von Zeit zu Zeit zum Essen vorbei. Und bis heute besuchen ihn seine ehemaligen Schwimmer – gealterte Männer, für die er oft mehr Vater war als ihre eigenen Eltern.
Marcello lebt weiter wie ein angeschossenes Raubtier. Er hasst alles. Und er wird noch immer geliebt.
Das zweite Ende dieser Geschichte
So weit zur Geburt des Spitzensports, damals, in der Steinzeit der Sechzigerjahre.
Sie glauben, dass Sport heute sauberer abläuft? Mit weniger Scheitern und Wahnsinn?
Lassen Sie sich nicht täuschen. Schon gar nicht von der Apple-Oberfläche des Spitzensports. Für das fugenlose iPhone brauchte es die Diktatur von Steve Jobs, das Coltan aus den Bürgerkriegsminen im Kongo und die chinesischen Arbeiter, die vom Dach von Foxconn springen.
Das Ergebnis ist ein kleines Stück schwerelose Schönheit.