Wählen ohne Wahl

Am Sonntag wählen die Bürgerinnen und Bürger des Kantons Graubünden ein neues Parlament. Viele werden an der Urne leer einlegen. Wieso tun sie das?

Von Elia Blülle, 07.06.2018

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Ohne sein Benediktinerkloster wäre Disentis eine namenlose Gemeinde. Doch die 1400 Jahre alte weisse Arche und die dazugehörige Ordensschule machen das Dorf zu einer letzten Insel katholischer Beständigkeit. Hier kandidieren bei den nächsten Grossratswahlen vom 10. Juni für die 4 Parlamentssitze 5 Christdemokraten. Alle anderen Parteien kneifen – sie wären chancenlos.

Die Übermacht der CVP im Wahlkreis Disentis stösst den 27-jährigen Bündner Fabian Krzyzanowski in ein Dilemma. Der gelernte Polymechaniker und studierte Maschinenbauer sitzt in der einzigen Pizzeria des Dorfes, öffnet das Wahlkuvert und breitet seine «cedels da votar» wie Jasskarten vor sich aus. Heute wählt er seine 4 Grossräte für Chur. Doch der junge Lokalpolitiker hat ein Problem: Er ist Mitglied der SP, nicht religiös, kann aber praktisch nur die Kandidaten der Christdemokraten wählen. Was soll er tun?

Ist das Bündner Wahlsystem demokratisch?

Schuld an Fabians Dilemma ist das Bündner Wahlsystem. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kantonen werden in Graubünden die Parlamentssitze nicht in der Verhältniswahl vergeben, bei der die Parteien entsprechend ihrem Stimmenanteil ins Parlament gewählt werden, sondern in der Mehrheitswahl.

Einen Sitz in Chur bekommt nur, wer in seinem Wahlkreis mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Jedes Votum für eine Partei ohne absolute Mehrheit versandet im Klostergarten. Oder wie es SP-Mitglied Fabian Krzyzanowski ausdrückt: «Den Stimmzettel könnte ich auch einfach in den Papierkorb werfen. Das Resultat wäre dasselbe.»

Krzyzanowskis Stimme ist wertlos, weil das Bündner Wahlsystem zwei entscheidende demokratische Prinzipien verletzt. Staatsrechtler sprechen von fehlender Stimmkrafts- und Erfolgswertgleichheit. Das Bundesgericht schreibt vor:

1. Jede Stimme hat dasselbe Gewicht. Unabhängig davon, in welchem Wahlkreis sie abgegeben wird.

2. Jede Stimme trägt gleichermassen zum Erfolgsresultat einer Partei bei. Auch wenn die vom Wähler auserkorene Person kein Mandat bekommt, muss die Stimme im Parlament abgebildet werden.

Da sich die 120 Bündner Grossratssitze auf 39 Kreise verteilen, entsteht ein Ungleichgewicht. Im kleinsten Wahlkreis Avers sind 160 Stimmen für ein Grossratsmandat nötig, im grössten Kreis Chur 2300. Eine Wählerin in Avers hat also die vierzehnfache Stimmkraft eines Wählers in Chur.

Weil die Wahlkreise teilweise sehr klein sind und nur wenige Sitze erhalten, werden die meisten von einer Partei dominiert – wie es in Disentis der Fall ist. Würde Fabian Krzyzanowski eine SP- oder SVP-Kandidatin wählen, hätte seine Stimme angesichts der CVP-Übermacht keinerlei Einfluss – weder auf das Resultat in Disentis noch auf die Zusammensetzung des Parlaments in Chur. Krzyzanowski kann seine Stimme der CVP schenken. Oder sie wegschmeissen.

Im Tal wählt man Köpfe – keine Parteien

Dass die CVP die nächsten Wahlen im Kreis Disentis gewinnen wird, ist also so sicher wie das Amen in der Klosterkirche. Denn andere Ortsparteien gibt es nicht. Die CVP verfügt über ein politisches Monopol. Fabian Krzyzanowski sagt dazu mit der Intonation des geübten Rebellen: «Im Kreis Disentis bestimmt nicht das Volk, wer nach Chur geht, sondern die CVP.»

Ganz anders sieht das René Epp. Der Grossrat und Kreispräsident der CVP widerspricht dem Vorwurf einer christdemokratischen Diktatur, noch bevor er sich hinsetzt: «Wir haben für die Grossratswahlen einen zusätzlichen Kandidaten nominiert. Damit geben wir der Bevölkerung eine Auswahl von Milizpolitikern, die sich in Chur für unsere Region einsetzen wollen.»

Der 36-jährige Epp greift nach dem Stuhl neben Krzyzanowski, richtet seine randlose Brille und grüsst mit einem «bun di». Neben seiner Krawatte sitzt ein Anstecker der örtlichen Raiffeisenbank, bei der er arbeitet. Er schiebt den orangen Wahlflyer über den Tisch, auf dem Epp als bisheriger Kandidat zu erkennen ist, und eröffnet mit seinem Hauptargument gegen das Proporzsystem: «Im Kanton Graubünden wählt man Köpfe, keine Parteien.»

Die regionale Vertretung sei in einem Kanton mit drei Sprachen und hundertfünfzig Tälern wichtiger als die angemessene Repräsentation der Parteien im Parlament, argumentieren die Majorzbefürworter. Epp sagt: «Das Calancatal, das Puschlav oder die Surselva müssen in Chur ebenso gut vertreten sein wie die Städte.» Die ohnehin gebeutelten Randregionen fänden bereits heute zu wenig Beachtung. Durch die Mehrheitswahl und die vielen kleinen Wahlkreise würden diese Minderheiten geschützt.

Wahlsystem auf der Anklagebank

René Epp verschweigt, dass es bei der Frage nach dem richtigen Wahlsystem vor allem auch um Machtinteressen geht. Im Moment besitzen die FDP und die CVP im Bündner Parlament gemeinsam die absolute Mehrheit. Das wäre unter einem neuen Wahlregime anders. Der Bündner Politikwissenschaftler Clau Dermont hat ausgerechnet, wie sich eine Proporzwahl auf die Zusammensetzung des Parlamentes auswirken würde. Er stellt fest: Die CVP und die FDP würden Sitze verlieren. Die absolute Mehrheit der beiden Mitteparteien wäre dahin, und auch die im Kanton Graubünden ausserordentlich stark vertretene BDP müsste fast die Hälfte ihrer Mandate abgeben. Profitieren würden die SVP und die SP.

Die überproportionale Vertretung der Mitte ist einer der Gründe, warum die SP gemeinsam mit drei weiteren Parteien das Bündner Wahlsystem auf die bundesgerichtliche Anklagebank in Lausanne zerrt. Sie haben im letzten Herbst eine Beschwerde eingereicht. Das Gericht soll nun die Parlamentswahlen vom 10. Juni auf ihre Verfassungsmässigkeit prüfen.

Träte das Bundesgericht auf die Beschwerde aus dem Kanton Graubünden ein, stünden die Erfolgschancen gut. Das sagt der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser, Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA)*. Die Rechtslage sei eindeutig: «Das Bündner Wahlsystem verstösst gegen die Bundesverfassung.» Es verletze nicht nur die Stimmkrafts- und Erfolgswertgleichheit, sondern sei auch in weiteren Punkten problematisch.

Glaser stört sich vor allem an den Wahlkreisen. Diese hätten seit der letzten Gebietsreform keine administrative Funktion mehr und bestünden nur noch als Überbleibsel für die Aufrechterhaltung der Majorzwahl. «Das allein reicht nicht, um ihre Existenz zu rechtfertigen», meint Glaser. Zudem sei es ein Mythos, dass man im Kanton Graubünden Köpfe anstelle der Parteien wähle. Stimmte das, sässen viel mehr Parteilose im Parlament. Heute ist im Grossrat nur eine Politikerin ohne Partei.

Auch diese Aspekte könnten vor Bundesgericht zum Tragen kommen. Bisher hat dieses zwar das Bündner Mehrheitswahlrecht toleriert, doch mussten in den letzten Jahren nach Urteilen verschiedene Kantone ihr Wahlsystem anpassen. Zuletzt hat das Bundesgericht den Kanton Uri angewiesen, sein System für die nächsten Landratswahlen zu überarbeiten. Uri wird nun wohl das empfohlene doppeltproportionale Verfahren einführen. Beim sogenannten «doppelten Pukelsheim» werden die Sitze in zwei Schritten zugeteilt. Im ersten werden die Stimmen kantonal gezählt. Und im zweiten proportional den einzelnen Wahlkreisen zugewiesen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Parteiverhältnisse sowohl kantonal als auch in den einzelnen Wahlkreisen möglichst exakt abgebildet werden.

Parteienstärke nach Wahlsystem

Wie würde sich die Zusammensetzung des Bündner Parlamentes durch ein anderes Wahlsystem verändern?

CVPMajorzsystem031 Doppelter Pukelsheim020 Proporzsystem020 FDPMajorzsystem035 Doppelter Pukelsheim016 Proporzsystem012 BDPMajorzsystem027 Doppelter Pukelsheim017 Proporzsystem015 SVPMajorzsystem09 Doppelter Pukelsheim036 Proporzsystem051 SPMajorzsystem016 Doppelter Pukelsheim021 Proporzsystem018 GLPMajorzsystem02 Doppelter Pukelsheim010 Proporzsystem04

Quelle: Clau Dermont: Proporzmodelle Grosser Rat Kanton Graubünden, 2015

Wer sich engagieren will, muss in die CVP

Im Kanton Graubünden ist die Diskussion um das Wahlsystem ein politischer Klassiker. Seit 1937 haben sich die Bündnerinnen und Bündner in acht Volksabstimmungen für das Mehrheitswahlrecht ausgesprochen. Das letzte Mal lehnten die Stimmbürgerinnen 2013 die sogenannte Proporzinitiative mit 56 Prozent ab.

Die Mehrheit ist mit dem umstrittenen Wahlsystem zufrieden. Eine Minderheit rebelliert leise. Die fehlende Möglichkeit, aktiven Einfluss auf das Wahlgeschehen zu nehmen, hat 2014 viele Wählerinnen dazu verleitet, ihren Stimmzettel leer einzulegen. So geschehen im Wahlkreis Bergell: Von 444 abgegebenen Stimmzetteln wurden 113 leer abgegeben.

Am 10. Juni wird es vielerorts nicht anders sein. In 15 von 39 Wahlkreisen kandidieren gleich viele Personen, wie es Sitze gibt. Eine echte Wahl haben diese Bündnerinnen und Bündner nicht.

Auch Fabian Krzyzanowski hat sich entschieden. Er wird leer einlegen. Und sagt: «Ich protestiere gegen ein System, das mich zwingt, Leute zu wählen, die meine Interessen nicht vertreten.»

Dafür hat René Epp kein Verständnis. Er entgegnet Krzyzanowski: «Mich erstaunt, dass du aus ideologischen Gründen auf die Wahl verzichtest. Obschon wir uns an jeder Sitzung in Chur für die peripheren Regionen und unseren Wahlkreis einsetzen.» Träte ein Sozialdemokrat gleichermassen für Disentis ein, so würde er ihn auch wählen. Die Partei komme für ihn bei dieser Frage an zweiter Stelle. Epp dreht sich zu Krzyzanowski und sagt: «Eigentlich schade, dass du kein CVPler bist. Wir brauchen junge Politiker.»

Epp greift zur Aktenmappe, lächelt und ergänzt: «Falls du in vier Jahren nach Chur willst, das Beitrittsformular liegt in meiner Tasche.»

* Interessenbindungen: Republik-Autor Elia Blülle ist Mitglied beim Verein Freunde des ZDA.

Gibt das Parlament den Kantonen einen Freipass?

Die Kantone Uri und Zug haben eine Standesinitiative eingereicht, nachdem beide Kantone ihr Wahlverfahren hatten anpassen müssen. Sie fordern nun, dass die Kantone ihr Wahlrecht selbst bestimmen können – ohne dass sich das Bundesgericht einmischen kann. Der Ständerat stimmte in der Frühlingssession für diese Initiative. Lenkt der Nationalrat in der nächsten Herbstsession ebenfalls ein, wäre die Bündner Beschwerde vor dem Bundesgericht hinfällig.