Ankunft des Alpha-Gnus

Liviu Dragnea ist der starke Mann der rumänischen Politik. Der vorbestrafte Sozialdemokrat ist angeklagt in mehreren Korruptionsverfahren, will die Justiz aushöhlen und beleidigt unabhängige Medien. Nun kommt er in die Schweiz – auf Einladung des Nationalratspräsidenten.

Von Benjamin von Wyl, 29.05.2018

Liviu Dragnea umgeben von Reportern und Kameraleuten
Ein Spitzenpolitiker in der Klemme: Liviu Dragnea am 27. April nach einem Hearing bei der nationalen Antikorruptionsbehörde.Daniel Mihailescu/AFP/Getty Images

Es kommt selten vor, dass Politiker von Gnus reden. Valeriu Zgonea hat es getan. Das war 2016, als er aus seiner Partei ausgeschlossen wurde, der sozialdemokratischen PSD. Zgonea, damals Präsident des rumänischen Parlaments, sagte, mit seiner Partei sei es wie mit einer Gnuherde: Das Alphamännchen springt in den Fluss. Alle folgen ihm, ohne nachzudenken. Und wenn die Krokodile kommen, schaut jeder für sich.

Zgonea war Ende April 2016 aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er sich mit dem wohl mächtigsten Mann der rumänischen Politik angelegt hatte: mit PSD-Chef Liviu Dragnea. Zgonea hatte es gewagt, seinen Parteikollegen Dragnea zum Rücktritt aufzufordern, weil dieser gerade wegen Wahlfälschung verurteilt und seine Bewährungsfrist auf zwei Jahre verdoppelt worden war. Der Angriff hatte Folgen: Zgonea musste den Hut nehmen, Dragnea aber ist heute trotz Vorstrafe, lauten Protesten und mehreren laufenden Gerichtsverfahren sein Nachfolger als Präsident der rumänischen Abgeordnetenkammer.

Für heute Dienstag wird in Rumänien ein weiteres Urteil gegen Dragnea erwartet. Es geht um Amtsmissbrauch. Dem starken Mann der rumänischen Politik drohen siebeneinhalb Jahre Haft. Aber ausgerechnet am Tag der Urteilsverkündung wird Dragnea voraussichtlich nicht in Rumänien sein, sondern in der Schweiz: eingeladen vom Nationalratspräsidenten Dominique de Buman (CVP). Am Mittwoch trifft er de Buman und anschliessend Bundespräsident Alain Berset.

Wer ist dieser Liviu Dragnea, dem in Rumänien viel Macht und eine gehörige Portion kriminelle Energie nachgesagt werden? Und warum kommt er ausgerechnet jetzt in die Schweiz?

Amtsmissbrauch und Geldwäscherei

Dragnea war in seinem Leben Kneipenbesitzer, Hotelunternehmer, Kreispräsident, PSD-Generalsekretär, Minister. Gegenwärtig ist er Parteichef und Präsident der rumänischen Abgeordnetenkammer. Dass er selbst nicht Ministerpräsident werden konnte, liegt an seiner Vorstrafe wegen Wahlfälschung. Trotzdem ist klar: Dragnea war und ist das eigentliche Machtzentrum der letzten vier kurzlebigen Regierungen Rumäniens seit Anfang 2017.

Vor den letzten Parlamentswahlen Ende 2016 erklärte Dragnea in einem Interview mit dem Schweizer Radio SRF, dass er nicht mehr über solchen «Bullshit» wie Korruption sprechen wolle. Der Gesprächsausschnitt ging in Rumänien viral. Dragnea sagte, ihn interessiere «Rumäniens Zukunft». Nach dem Wahlsieg seiner PSD war klar, wie sehr «Rumäniens Zukunft» mit seinen Eigeninteressen zusammenfällt. Die von der PSD angeführte Koalition plante eine Justizverordnung im Sinne vieler korrupter Spitzenpolitiker: Unter anderem sollte die Verordnung die Verfolgung von Amtsmissbrauch aussetzen – ein Vorwurf, mit dem sich auch Dragnea konfrontiert sieht.

Hunderttausende von Rumäninnen und Rumänen innerhalb und ausserhalb des Landes malten sich Rumäniens Zukunft anders aus – und gingen auf die Strasse: Anfang 2017 erlebte Rumänien die grössten Proteste seit 1989, als Demonstrationen das Ende der Ceausescu-Diktatur beschleunigt hatten.

Dragnea will sich auf die Zukunft konzentrieren, aber er muss sich ständig mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen – und zwar vor Gericht. Momentan laufen drei Verfahren gegen ihn, zwei in Rumänien und eines in Brasilien. Es geht um Amtsmissbrauch, Geldwäscherei und um die Gründung einer kriminellen Vereinigung.

Im sogenannten Teldrum-Verfahren in Rumänien wird Dragnea die Veruntreuung von EU-Geldern vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft sei in dem im südlichen Rumänien gelegenen Kreis Teleorman ein Strassenbau-Unternehmen namens Teldrum gegründet worden – einzig um in betrügerischer Weise an öffentliche Gelder zu gelangen. Die Schadenssumme betrage 30 Millionen Lei (rund 7,5 Millionen Franken) und 21 Millionen Euro an EU-Geldern. Dragnea, der von 2001 bis 2012 Kreispräsident von Teleorman war, wird deshalb die Gründung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Dragneas Privatvermögen von rund 130 Millionen Lei (32 Millionen Schweizer Franken) liess die rumänische Staatsanwaltschaft bereits beschlagnahmen.

Um weit weniger Geld, nämlich um genau 108’612 Lei (27’500 Franken), geht es in Dragneas Verfahren wegen Amtsmissbrauchs. Ab 2005 soll er über die staatliche Kinderschutzbehörde zwei Scheinbeschäftigte angestellt haben. In Wahrheit seien diese jahrelang für die Parteizentrale der PSD tätig gewesen. Die Gesamtlohnsumme der beiden Scheinbeschäftigten beträgt 108’612 Lei Lohn.

Die erste Anhörung in diesem Verfahren wegen Amtsmissbrauchs fand im Januar 2017 statt, als Dragnea nur noch über die Zukunft Rumäniens sprechen wollte. Die von seiner Partei geführte Regierung war gerade erst im Amt, als der Justizminister eine Verordnung per Eildekret durchsetzen wollte: Amtsmissbrauch sollte nur noch verfolgt werden, wenn die Schadenssumme mindestens 200’000 Lei betrüge – Dragnea wäre vor einer Strafverfolgung verschont geblieben. Doch das Eildekret wurde gestoppt, der damalige Justizminister trat infolge der Rekordproteste zurück.

Die zwei Scheinbeschäftigten sind geständig. Die Staatsanwaltschaft fordert 7,5 Jahre Gefängnis für Dragnea. Dessen Bewährungsfrist wegen Wahlfälschung läuft noch. Nach 14 Verhandlungstagen hat das oberste Gericht Rumäniens das Urteil für heute Dienstag angekündigt – wenn Dragnea in der Schweiz landet.

Lombardi weiss von nichts

In Rumänien sorgt der Ausflug in die Schweiz seit Tagen für Aufregung: Schleicht sich hier gerade ein heftig umstrittener Politiker aus dem Land, während er zu einer Gefängnisstrafe verknackt wird? Ganz so dreist ist Dragnea nicht. Der rumänische Parlamentspräsident kann in Berufung gehen, das Urteil wird also nicht rechtskräftig sein, wenn er Bundesrat Berset beim «Höflichkeitsbesuch» am Mittwoch die Hand schüttelt. Die Parlamentsdienste teilen mit, die Treffen mit de Buman und Berset seien von Schweizer Seite vorgeschlagen worden, lange bevor man das Datum der Urteilsverkündung kannte.

Dragnea bleibt nicht zum ersten Mal auf Staatskosten einem Gerichtstermin fern. Während des Prozesses wegen Amtsmissbrauchs war er schon auf Staatsbesuch in Israel. Die rumänische Öffentlichkeit erfuhr davon erst am Tag selber. Dieses Mal ist das anders: Dass Liviu Dragnea in die Schweiz reist, weiss man in Rumänien, weil seit Mitte letzter Woche ein Memorandum des rumänischen Ratsbüros seine Runden auf Facebook und in den rumänischen Medien macht. Das Programm laut dem Memorandum: Gespräche mit de Buman, Ständerat Filippo Lombardi und Bundespräsident Alain Berset.

Das in Bukarest zirkulierende Memorandum mit Liviu Dragneas angeblichem Programm in Bern.

CVP-Fraktionschef Filippo Lombardi wusste am Wochenende nicht, dass sein Name derzeit durch die rumänischen Medien geistert: «Keine Ahnung davon, tut mir leid.» Ein Sprecher des Bundespräsidenten erklärte, es handle sich beim Treffen mit Alain Berset lediglich um «einen kurzen Handshake». Die Parlamentsdienste sagen, Ständerat Lombardi werde voraussichtlich nicht an Gesprächen teilnehmen. Das sei in Rumänien falsch kolportiert worden. Ausserdem sei Dragnea nicht als Person eingeladen, sondern in seiner Funktion als Parlamentspräsident.

Kampf gegen Korruptionsbekämpferin

Als Dragneas «Bullshit»-Statement gegenüber Radio SRF in Rumänien viral ging, warf Dragnea dem Schweizer Radio Fake News vor. Allen kritischen Journalistinnen in Rumänien teilte er letzten Sommer über das Fernsehen mit: «Der Frieden ist vorbei.» Das ist nachvollziehbar. Ohne rumänische Investigativjournalisten gäbe es etwa das Geldwäschereiverfahren in Brasilien nicht. Die Medien sind aber nur einer der Lieblingsfeinde von Dragneas PSD.

Man regiere «im Belagerungszustand» gegen einen «illegitimen Parallelstaat», hiess es in einer offiziellen Parteierklärung vergangenen November. Gemeint waren der Staatspräsident, der der Opposition nahesteht, und die erfolgreiche Chefermittlerin der Antikorruptionsbehörde. Die von Dragneas PSD geführte Regierung treibt eine umfassende Justizreform gegen diesen «illegitimen Parallelstaat» voran: Korruptionsdelikte sollen aus dem Strafgesetz getilgt, Korruptionsverdächtige unmittelbar nach Beginn der Ermittlungen über den Verdacht informiert und Staatsanwälte und Richter wegen «Justizfehlern aus Böswilligkeit oder ernsthafter Fahrlässigkeit» zur Verantwortung gezogen werden. Auch die Leiterin der Antikorruptionsbehörde soll entlassen werden. Der Staatspräsident lehnt das ab. Am Mittwoch soll das Verfassungsgericht darüber befinden.

Dragnea forderte natürlich auch schon persönlich die Entlassung der obersten Korruptionsbekämpferin. Immer wieder unterstellt er ihrer Behörde und der Staatsanwaltschaft, im Dienste ausländischer Mächte zu handeln. Dragnea hantiert gern und regelmässig mit dem Feindbild EU und aus Ungarn bekannten Verschwörungstheorien rund um den Milliardär George Soros. Dragnea sagt zwar nicht gerade, dass Korruption patriotisch sei. Aber er unterstellt jenen, die sie bekämpfen, mangelnden Patriotismus.

Nun kommt er also in die Schweiz: Liviu Dragnea, das Alpha-Gnu, das Machtzentrum der rumänischen Politik. Das oberste Gericht Rumäniens könnte ihn heute zu einer langen Haftstrafe verurteilen. Vielleicht wird das Alpha-Gnu also von den Krokodilen gefressen. Die Chance besteht. Womöglich aber hilft Dragnea die Einladung in die Schweiz sogar: Seine Anwälte versuchen, die Urteilsverkündung wegen Abwesenheit des Angeklagten zu verschieben. Das wäre folgenreich in einem Land, in dem die Justiz Stück für Stück ausgehöhlt werden soll. Jede Urteilsverzögerung hilft dem Alpha-Gnu.

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