Binswanger

Bitte keine Hysterie

Das Geldspielgesetz ist ein fauler, sehr helvetischer Kompromiss. Wir täten trotzdem gut daran, es durchzuwinken.

Von Daniel Binswanger, 26.05.2018

Als Emmanuel Macron im letzten Frühjahr Wahlkampf machte, erhob er die «digitale Revolution» zu einem zentralen Schlagwort. Le Pen verhindern, Frankreich retten, die Zukunft erobern – das geht nicht ohne «Digitalisierung». Als das deutsche Parteiensystem mit Ach und Krach die Regierungsbildung hinbekommen hatte, als endlich ein Koalitionsvertrag vorlag, war selbstverständlich darin zu lesen: «Wir wollen unser Land in allen Bereichen zu einem starken Digitalland entwickeln.» «Digital» oder wahlweise auch «Internet» ist die Default-Position des heutigen Politik-Diskurses. Eine komfortable Nullansage. Passt immer.

Natürlich ist die Dynamik der informationstechnologischen Entwicklung eine objektive Herausforderung für Politik und Gesellschaft. Doch wer risikofrei zu verstehen geben will, dass er für das Gute, Wahre und Schöne ist, der bekennt sich heute zur Digitalisierung und zum Internet. Damit kann man nichts falsch machen. Weder auf der Rechten noch auf der Linken.

Quälend zeigt sich das nun auch im Abstimmungskampf um das Schweizer Geldspielgesetz. Eigentlich ist das Geldspielgesetz ein solider helvetischer Kuhhandel, den man unbesehen abnicken könnte – so wie das Parlament es auch getan hat. Doch nun hat die Reizvokabel «Internet» gezündet. In Kombination mit «Freiheit» und «Zensur» erweist sie sich als unwiderstehlich. Nun müssen abgründige Grundsatz-Diskussionen geführt, heroische Schlachten geschlagen werden. Von den Grünen bis zur Jung-FDP, von der «Wochenzeitung» bis zum «Blick».

Die Netzsperren, mit denen die Internetadressen von ausländischen Online-Glücksspiel-Plattformen unerreichbar gemacht werden sollen, bedrohen nun plötzlich die Freiheit, das Abendland, die Demokratie. Laut den Gegnerinnen der Vorlage drohen chinesische Verhältnisse, der «Dammbruch» zur totalitären Staatszensur. Politiker mit Idealen wollen es natürlich nicht verpassen, gegen eine solche Drohung Widerstand zu leisten. Weder auf der Rechten noch auf der Linken.

Die Debatte ist absurd: Das Internet ist eine öffentliche Infrastruktur, aber kein rechtsfreier Raum. Wachsamkeit gegen Zensurbemühungen ist wichtig und tugendhaft, aber nicht gleichzusetzen mit dem Kampf für Offshore-Online-Casinos. Unsere digitalen Freiheitskämpferinnen würden sich besser relevantere Betätigungsfelder suchen, zum Beispiel die Revision des Datenschutzgesetzes.

Auch die Propaganda des Ja-Lagers zeichnet sich zugegebenermassen nicht durch exzessive Nüchternheit aus. Nein, Kultursubventionen werden nicht sofort versiegen, Sportstadien nicht sofort veröden, sollte das Geldspielgesetz abgelehnt und der Status quo erhalten werden. Dass im heutigen System die konzessionierten Lotterien und Spielbanken jedoch Marktanteile verlieren werden, dass die Kunden zunehmend von drögen Lotterien auf einfallsreiche Online-Wetten umsteigen dürften, steht ebenfalls kaum ausser Zweifel. Eine Sicherung der Geldspielabgaben verlangt nach einem Gesetz.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Das vorliegende Geldspielgesetz ist ein schlechtes Gesetz. Es dient selbstverständlich primär den Interessen der heimischen Casinobetreiberinnen, die konkurrenzfrei ihre Tätigkeit ins Internet ausdehnen können. Viel sinnvoller wäre es gewesen, ein Lizenzsystem zu schaffen, das offen ist für ausländische Anbieter, die alle regulatorischen Auflagen einhalten und die Spielbankenabgaben an den Schweizer Staat abführen. Die Konkurrenz hätte das Geschäft belebt, das Angebot verbessert – und AHV/IV sowie die zahlreichen gemeinnützigen Kultur- und Sportorganisationen, die von Lotterie- und Spielbankenabgaben leben, hätten nicht fürchten müssen, dass die Verlagerung des Glücksspiels ins Internet ihre Einnahmequellen austrocknet.

Es ist nicht schwer zu erraten, weshalb das schlechte Gesetz in dieser Form durch die Räte kam: Auf bürgerlicher Seite dürfen sich die Spielbankenlobbyisten über ein neues Luxuskartell freuen. Die SP macht mit, weil die knapp eine Milliarde Abgaben gesichert werden, was weiss Gott auch keine Kleinigkeit ist. Natürlich könnte man auch von Freisinnigen träumen, die den Wettbewerb nicht nur predigen, sondern durchsetzen. Aber träumen kann man bekanntlich immer …

Doch nun geht es plötzlich um «Netzsperren», «Zensur», «Freiheit im Internet», und es herrscht kollektive Hysterie. Nein, Netzsperren per se sind keine Vorboten des Totalitarismus. Es gibt 17 europäische Staaten, zum Beispiel Dänemark, die sie bereits anwenden – in der Regel übrigens in Kombination mit einem für ausländische Anbieter offenen Lizenzsystem.

Dass im Internet Inhalte kursieren, die staatlich zu unterdrücken vielleicht Sinn ergeben könnte, ist keine so skandalöse Feststellung. Noch dieses Jahr wird voraussichtlich im Parlament beratschlagt werden, ob für pädophile Inhalte Netzsperren eingeführt werden sollen. Man darf gespannt darauf sein, ob Jungfreisinnige, Grünliberale und Grüne auch in diesem Fall die Freiheit des Internets akut bedroht sehen und freie Fahrt für unzensierte Pädophile fordern.

Bizarr ist auch, dass die Gegner des Geldspielgesetzes einerseits die Freiheit im Internet akut bedroht sehen, andererseits aber damit argumentieren, dass Netzsperren relativ leicht umgangen werden können. Es mag richtig sein, dass das Aussperren von Online-Anbieterinnen weitgehend wirkungslos bleiben könnte, obwohl die Erfahrungen, die etwa Frankreich bisher gemacht hat, diese Befürchtung nicht bestätigen. Seltsam ist es jedoch, wenn dieselben Politiker zuerst die Schrecknisse der drohenden Zensur denunzieren und dann mit Kennerstolz eine Anleitung geben, wie kinderleicht diese Zensur zu umgehen sei. Für eines von beidem sollten sie sich schon entscheiden.

Nein, das Spielbankengesetz ist kein gutes Gesetz. Es sollte trotzdem durchgewunken werden, weil es die Spielbankenabgaben nachhaltig sichert. Und in einem zweiten Schritt könnten unsere Bürgerlichen ja ihre Scheindebatten beilegen und das Schweizer Online-Geldspiel öffnen für Markt und Konkurrenz.

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Illustration Alex Solman