Portugals radikale Antwort
Europas grösste offene Drogenszene war nicht der Zürcher Platzspitz, sondern Casal Ventoso in Lissabon. Portugal reagierte damals mit einem überraschenden Schritt auf die Heroinkrise. Davon können andere heute noch lernen – auch die Schweiz.
Von Ümit Yoker, 21.05.2018
João Goulão hebt ein schmutziges Plastiksäckchen vom Wegrand auf, streicht es glatt und betrachtet es, als hätte er gerade ein typisches Exemplar hiesiger Fauna entdeckt. Der Leiter der nationalen Behörde für Drogenbelange liest von der Rückseite ab: «Zwei Spritzen, zwei Filter, zwei Blechbehälter, Desinfektionstüchlein, destilliertes Wasser, Zitronensäure, Präservativ.» Tatsächlich sind die grasgrünen Aids-Präventions-Kits typisch für Casal Ventoso: Sie liegen hier überall herum. Goulão hat keine Berührungsängste damit. Auch nicht mit dem kronkorkenähnlichen Gefäss, nach dem er nun greift: Darin werde das Heroin mit dem Wasser und der Zitronensäure erhitzt, bevor man es sich spritze, sagt er.
Es ist eigentümlich still hier, obwohl die Gegend nur einen kurzen Fussmarsch von einem geschäftigen Mittelstandsquartier Lissabons entfernt ist. Oben am Hang drängen sich müde Häuschen aneinander, unten säumen grau verwaschene Sozialwohnungsbauten die Schnellstrasse, dazwischen steil abfallendes Niemandsland, auf dem in akkuraten Abständen Säulenzypressen in die Höhe ragen: Casal Ventoso sieht aus, als sei hier vor langer Zeit ein Stück Fleisch aus Lissabon herausgebissen worden, und nun vernarbt die Wunde langsam.
Die Schweiz als Pionierin
Goulão kennt das Quartier noch aus Zeiten, in denen man hier kaum einen Fuss vor den anderen setzen konnte. Und es in der Regel auch nicht wollte. Bis zu 5000 Menschen seien in den 80er- und 90er-Jahren jeden Tag hierhergekommen, erzählt der Drogenexperte, der mit seinem blütenweissen Hemd, der Krawatte und den gepflegten Händen so gar nicht in die Gegend passt, in der er sich so selbstverständlich bewegt. Sie kauften, verkauften, injizierten Heroin. Sie warteten in engen Gässchen auf Dealer, setzten sich auf dem Trottoir den nächsten Schuss. Casal Ventoso war Europas grösste offene Drogenszene.
Man kann sich alte Fernsehbeiträge über das Viertel nicht ansehen, ohne an das Zürich dieser Zeit zu denken, an Platzspitz und Letten. Auch die Schweiz erlebte damals eine Heroinkrise sondergleichen. Zu Beginn der 90er-Jahre waren mehr als 30’000 Menschen drogenabhängig. Hunderte starben jedes Jahr an einer Überdosis oder an Aids, über das man erst wenig wusste. Die Drogenpolitik in der Schweiz stand wie vielerorts auf drei Säulen: Prävention, Therapie, Repression. «Das Land wollte lange nicht wahrhaben, dass diese nicht mehr ausreichten», sagt Frank Zobel, Vizedirektor der Stiftung Sucht Schweiz. Er sagt es nicht weit von Casal Ventoso entfernt, in einem grossen Park, in dem die Lissabonner gern Picknicks veranstalten und Kindergeburtstage feiern. Zobel hat in der Stadt gerade einen Vortrag über die Analyse von Drogenrückständen im Abwasser gehalten. Der Deutsche, der in Lausanne aufgewachsen ist, kennt Lissabon gut. Mehrere Jahre hat er hier an der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht gearbeitet; sie hat die Aufgabe, die EU und ihre Mitgliedsländer über aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich zu informieren.
In der Schweiz hätten Städte und Kantone als Erste nach neuen Wegen gesucht, um mit der Krise umzugehen, sagt Zobel. Mitte der Achtzigerjahre habe Bern den ersten Konsumraum eingeführt, in dem sich Süchtige unter hygienischen Bedingungen Heroin injizieren konnten. Zürich begann bald darauf auch, Drogenabhängigen saubere Spritzen abzugeben. Solch pragmatische Massnahmen, die einzig der Hilfe und dem Schutz drogenabhängiger Menschen dienten, passten erst nicht in die Vorstellungen des Bundes. Damals stellten sich die Behörden auf den Standpunkt, dass nur Unterstützung verdiente, wer willig und fähig war, aus der Sucht auszusteigen.
Doch zu Beginn der 90er-Jahre erweiterte auch der Bund seine Drogenpolitik mit einer vierten Komponente: Er führte Massnahmen zur Schadensminderung ein und begann den Zugang zu Methadonprogrammen stark auszuweiten. Ab 1994 sprach man dann offiziell von einer Vier-Säulen-Politik und führte die Heroinverschreibung ein. «Die Schweiz war damals ganz klar eine Pionierin», sagt der Vizedirektor der Stiftung Sucht Schweiz. Noch heute lebt fast die Hälfte aller Heroinsüchtigen weltweit, die Zugang zu einer ärztlichen Heroinverschreibung hat, in der Schweiz. Dass sich die Situation damals relativ rasch normalisierte, habe jedoch nicht nur am neuen Ansatz gelegen, sagt Zobel. «Die Suchtgefährdetsten dieser Generation waren irgendwann schlichtweg tot.»
Ein unvorbereitetes Land
Lange bevor João Goulão Leiter der portugiesischen Behörde für Drogenbelange war, arbeitete er als junger Hausarzt in der Algarve, ganz im Süden des Landes. Seinen ersten heroinabhängigen Patienten behandelte er zu Beginn der 80er-Jahre. «Ich hatte damals keine Ahnung von Suchtkrankheiten», erzählt der heute 63-Jährige. Er war nicht allein damit: Das ganze Land wusste zu dieser Zeit kaum etwas über Drogen. Portugal war bis in die 70er-Jahre eine Diktatur gewesen, abgeschottet vom übrigen Europa. Woodstock und Blumenkinder, LSD, Cannabis und die 68er-Bewegung hatten das Land höchstens als gedämpftes Murmeln erreicht.
Nach der Nelkenrevolution 1974 begannen einerseits mehr Touristen ins Land zu strömen, die auch mal Gras im Gepäck hatten. Andererseits kehrten auch die vielen jungen Männer aus den ehemaligen Kolonien zurück, die man dort mit leichtem Zugang zu Cannabis und Whisky bei Laune gehalten hatte: Sie hatten auf Diktator Salazars Geheiss hin den zwecklosen Versuch unternehmen müssen, die Unabhängigkeitsbestrebungen der kolonialisierten Länder niederzuschlagen. Bald fanden auch Kokain, Heroin und LSD den Weg nach Portugal. Und wer das eine schon versucht hatte, probierte nun oft auch das andere. «Die Drogen trafen auf ein Land, das komplett unvorbereitet war», sagt Goulão. «Sie verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.» In anderen Ländern hätten viele Menschen Drogen ausprobiert, aber nur wenige seien abhängig geworden. In Portugal sei es umgekehrt gewesen.
Seit 13 Jahren steht Goulão der nationalen Behörde für Drogenbelange nun vor. Enstprechend häufig hat er Auskunft gegeben über die portugiesische Heroinkrise und die mutige Antwort, die das Land darauf finden würde. Kaum je vergeht eine Woche ohne Anfragen aus dem Ausland. Gerade erst waren drei Minister aus Norwegen zu Besuch, später steht noch ein Interview mit einen iranischen Fernsehteam an. Man merkt es ihm nicht an, dass er die Geschichte schon Tausende Male erzählt. Mit ruhiger Stimme rollt er alles ein weiteres Mal auf und blickt sein Gegenüber so aufmerksam an, als hätte er alle Zeit der Welt. Man kann sich den Hausarzt, der er einst war, immer noch problemlos vorstellen.
Krank, nicht kriminell
Auch Portugal versuchte der Drogenkrise damals erst einmal mit Prävention und Entzug beizukommen. Ende der 80er-Jahre entstanden neue Behandlungszentren, aber auch sie zeigten nicht die erwartete Wirkung. «Es fehlte an einer einheitlichen Linie», sagt Goulão. Besonders an der Methadonabgabe für Heroinsüchtige schieden sich die Geister. Der Arzt wurde damals angefragt, in der Algarve ebenfalls ein solches Zentrum zu eröffnen, und übernahm später die Gesamtkoordination aller Einrichtungen.
Die Krise spitzte sich weiter zu: Bald gab es in Portugal mehr aidskranke und HIV-infizierte Drogenabhängige als sonst irgendwo in Europa. Mehr als die Hälfte aller Süchtigen, die regelmässig in Casal Ventoso anzutreffen waren, trugen das Virus in sich. Ende der 90er-Jahre hing ein Prozent der Bevölkerung an der Nadel, 100’000 Heroinsüchtige, dreimal so viele wie in der Schweiz. José Sócrates, damals Jugendminister und späterer Ministerpräsident, beauftragte ein Gremium aus Experten unterschiedlicher Fachgebiete mit der Suche nach einer neuen Strategie. Goulão war einer davon. «Die einzige Einschränkung, die wir damals hatten, waren die Vorgaben der Uno», sagt er. Konkret: Egal wie die neue Regelung aussähe, Drogenkonsum musste weiterhin sanktioniert werden – «doch stand nirgends, dass dies strafrechtliche Konsequenzen sein müssen». Die Pfeiler der neuen Drogenpolitik sollten Menschlichkeit und Pragmatismus sein.
Drogenabhängige sind krank, nicht kriminell. Diese Haltung hatte die Schweiz zur Vorreiterin gemacht. Doch Portugal ging noch einen entscheidenden Schritt weiter: Im Jahr 2001 entkriminalisierte das Land als erstes der Welt den Konsum von Drogen komplett. Wer seither nicht mehr als 25 Gramm Cannabis, 2 Gramm Kokain oder 1 Gramm MDMA auf sich trägt – der Staat legte zehn Tagesrationen als Obergrenze fest –, war kein Fall mehr für die Justiz, sondern fürs Gesundheitsministerium.
Entkriminalisierung bedeutet nicht Legalisierung: Erlaubt ist der Drogenkonsum nach wie vor nicht. Zwar muss niemand mit einer Anzeige rechnen, wenn er mit einer kleineren Menge Drogen für den Eigengebrauch erwischt wird – mit einer Busse aber allenfalls schon. Und die Substanz muss er in jedem Fall abgeben.
Was den portugiesischen Ansatz wirklich einzigartig macht, ist etwas anderes: Wer der Polizei mit Ecstasy, Gras oder Heroin in die Arme läuft, muss innerhalb von drei Tagen vor einer Kommission antreten, die, je nach Übersetzung, das Abraten oder Abbringen von der Drogenabhängigkeit zum Ziel hat. Die 18 Kommissionen im Land bestehen jeweils aus einer Juristin, einer Psychologin und einem Sozialarbeiter und sind dem Gesundheitsministerium unterstellt. Sie informieren über Therapieangebote, sprechen Bussen aus oder verfügen Platzverbote. «So verhindern wir, dass der Polizist zum Richter werden muss», sagt Goulão. Dies sei etwa in Spanien oftmals der Fall, wo der Drogenkonsum von jeher nur als Ordnungswidrigkeit gelte. «Vor allem aber ist die Kommission ein Weg, um mit Drogenabhängigen ins Gespräch zu kommen und sie zu unterstützen.»
Warum gerade Portugal?
Warum hatte die fortschrittliche Drogenpolitik ausgerechnet im katholischen und konservativen Portugal von Anfang an grossen Rückhalt in der Bevölkerung? «Es gab keine Familie im Land, die nicht betroffen war», sagt Goulão. Die Droge hatte sich durch alle Gesellschaftsschichten gefressen, sie wucherte in der Stadt wie auf dem Land. Jeder hatte einen Sohn, eine Nichte oder einen Nachbarn, der heroinabhängig war. Im Parlament stiessen Goulão und die anderen Architekten des neuen Ansatzes hingegen durchaus auf Widerstand: Das Land werde zu einem Paradies für Drogentouristen gemacht, schon im Kindesalter würden die Portugiesen bald abhängig, hiess es, hauptsächlich von rechts.
Nichts davon hat sich bewahrheitet: Die Portugiesen konsumieren heute deutlich weniger Drogen als der europäische Durchschnitt. Während in Europa 12 von 100 Jugendlichen und jungen Erwachsenen Joints rauchen, sind es in Portugal halb so viele. Besonders die ganz Jungen greifen in Portugal viel seltener zu Cannabis als anderswo. Ebenso waren Befürchtungen unbegründet, die neue Regelung binde der Polizei bei ihren Ermittlungen die Hände. Im Gegenteil, sind sich Experten einig, man habe nun wieder mehr Kapazität, um sich um die tatsächliche Kriminalität im Milieu zu kümmern, den Handel mit und den Schmuggel von Drogen. Portugal ist Einfallstor und Durchgangsland für Kokain aus Kolumbien, Peru oder Bolivien, das über Brasilien ins Land gelangt, für Haschisch aus Marokko, für Heroin aus Afghanistan.
Das bedeutet nicht, dass alles rosig ist. Zwar ist die Zahl der Süchtigen, die an einer Überdosis sterben, seit den 90er-Jahren stark gesunken. Es gibt viel weniger Aids-, Hepatitis- und Tuberkulosekranke, und auch insgesamt ist die Zahl der Drogenabhängigen kleiner als früher. Doch sie ist immer noch relativ hoch. Und es gibt in Portugal mehr Drogenabhängige, die sich neu mit HIV infizieren, als anderswo in Europa.
Ein paar Meter von einem Mäuerchen entfernt hält Goulão inne. Die Stelle ist von dichtem Buschwerk umgeben, eine der wenigen in Casal Ventoso, die an diesem Vormittag nicht ausgeleuchtet werden von der Frühlingssonne. Man sieht die gekrümmten Rücken eines Paares in der Hocke, es scheint an etwas herumzunesteln. Goulão zündet sich eine Zigarette an und geht weiter. Es ist ihm keine Enttäuschung anzumerken, dass man hier heute noch auf Süchtige trifft. Der Arzt hat sich nie dem aussichtslosen Kampf verschrieben, eine Gesellschaft ohne Drogen zu schaffen. Es ist ihm immer schon um etwas anderes gegangen: «Jeder Mensch verdient ein würdiges Leben», sagt er. Egal ob er Drogen nehme oder nicht. Egal ob er von seiner Sucht nicht ablassen könne oder gar nicht wolle.
Man kommt auf einem Spaziergang mit diesem Mann, den das Thema Sucht schon ein ganzes Berufsleben lang begleitet, nicht umhin, irgendwann zu fragen: Hat er sich selbst denn nie das Rauchen abgewöhnen wollen? Goulão lächelt. So richtig versucht habe er es nie, nein. «Aber einmal habe ich mich hier in Casal Ventoso mit Tuberkulose angesteckt», erzählt er. «Ganze zwei Wochen habe ich es da ohne Zigaretten ausgehalten.» Und seine 13-jährige Tochter liege ihm seit einiger Zeit täglich in den Ohren damit. Er würde wohl Unterstützung brauchen, sagt er dann, mehr zu sich selbst.
Es war 1998, als in Casal Ventoso die Bagger auffuhren und alles niedermähten. Die maroden Häuschen, die selbstgezimmerten Baracken, die notdürftig errichteten Zelte. Goulão erinnert sich gut daran. An den Mann etwa, dessen Zuhause ein Erdloch war, das gerade so viel Platz bot, dass er aufrecht darin stehen konnte. Er hatte es mit einem Müllsack ausgekleidet, als Dach hielt er sich einen Regenschirm über den Kopf. «Als wir ihn aus der Grube hoben, war sein Körper von Maden übersät.» Er erinnert sich aber vor allem auch daran, welche Kräfte und welchen Zusammenhalt die Aktion freigesetzt hat. Wie viele Betten das Militär herangekarrt hatte. Wie viele Menschen immer wieder Essen vorbeibrachten. Wie es irgendwie gelang, die wichtigsten medizinischen Untersuchungen durchzuführen in dieser provisorischen Unterkunft, die damals neben dem Quartier eingerichtet worden war. Wie alle mithalfen, Staat, Kirche, Private.
Macht es ihn traurig, dass zwar viele Länder den hiesigen Ansatz loben, aber bis heute kein einziges Portugal in derselben Konsequenz gefolgt ist? Goulão mag es nicht so sehen: Immer mehr Länder hielten heute Behandlungsplätze statt Gefängniszellen für Drogenabhängige bereit, sagt er. «Das ist schon sehr viel.»
Wirrwarr um Cannabis
In der Schweiz ist es heute Cannabis, das die Schweizer Politik von allen Drogen am meisten beschäftigt. Herr und Frau Schweizer rauchen viel öfter Joints, als dass sie eine Linie ziehen oder Pillen einwerfen. Und wer heute von Heroin abhängig ist, war dies wahrscheinlich bereits in den 90er-Jahren.
Seit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes 2013 gilt für Cannabis, was in Portugal seit bald zwei Jahrzehnten für alle Drogen gilt: Hat man etwas für den Eigenbedarf bei sich, wird man nicht verzeigt und erhält keinen Eintrag ins Strafregister, sondern eine Ordnungsbusse. Auch in der Schweiz darf die Menge jedoch einen gesetzlich festgeschriebenen Maximalwert nicht überschreiten; er liegt bei 10 Gramm. Die Regelung hätte der Realität besser Rechnung tragen und zu einheitlichem Vollzug führen sollen. «Hat sie aber nicht», sagt Zobel von der Stiftung Sucht Schweiz, und man hört ihm den Ärger an. Statt zu mehr Klarheit habe die Gesetzesänderung zu einem Wirrwarr geführt und kantonale Unterschiede bei der Umsetzung zutage gefördert: Die Wahrscheinlichkeit, wegen eines Joints von der Polizei angehalten zu werden, variiert je nach Kanton ebenso wie die Art der Bestrafung. Mancherorts wird man aufgefordert, die Busse von 100 Franken sofort zu begleichen, obwohl eine Zahlungsfrist von 30 Tagen gilt, mancherorts gar immer noch verzeigt.
Zur Unübersichtlichkeit der Lage trägt bei, dass seit zwei Jahren diverse Produkte mit sogenanntem CBD-Cannabis im Supermarkt und am Kiosk erhältlich sind. CBD-Cannabis enthält weniger als ein Prozent des berauschenden THC und ist deshalb nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt. «Der Konsum von Cannabis wird sukzessive normalisiert, aber in der Politik fehlt weiterhin eine klare Haltung», sagt Zobel. Die Substanz solle endlich legalisiert und Fragen zur medizinischen Anwendung geklärt werden. Der Staat solle den Markt jedoch regulieren, also wie bei Alkohol und Tabak die Entscheidung treffen, wie die Substanz besteuert werde oder an welchen Orten man sie verkaufen dürfe.
Bussen seien in Portugal zwar auch möglich, aber nicht die Regel, sagt Zobel. «Im Vordergrund steht immer die Gesundheit des Süchtigen.» Die Schweiz hingegen setze noch immer in erster Linie auf Bestrafung. «Es ist albern und meistens kontraproduktiv, jemanden dafür zu sanktionieren, dass er Drogen nimmt.» Portugal zeige nicht nur, dass es auch ohne Strafe gehe, sondern dass ein solcher Ansatz vermutlich sogar besser funktioniere. «Das könnte sich unser Land zum Vorbild nehmen.»
«Ein Labor für soziale Versuche»
Die Diskussionen über eine Legalisierung von Cannabis sind auch in Portugal nicht zu Ende. Warum geht das Land hier nicht ebenso voraus? «In den 90er-Jahren befanden wir uns in einer Ausnahmesituation, die nach radikalen Massnahmen verlangte», sagt Goulão, zurück bei seinem Auto angekommen. Ein paar abgehalfterte Männer werfen neugierige Blicke herüber. «Mit der Entkriminalisierung wurde Portugal zu einem Labor für soziale Versuche.» Diese Rolle komme heute anderen zu: Uruguay habe als erstes Land der Welt Cannabis ganz legalisiert und reguliere den Markt staatlich. Ebenso sei Marihuana in vielen Staaten der USA zu medizinischen Zwecken frei erhältlich. «Dieses Mal sind wir es, die erst einmal schauen, wie es andere machen», sagt Goulão. «Wir müssen nicht grundsätzlich Pioniere der Drogenpolitik sein.»
Ümit Yoker, Jahrgang 1977, ist Journalistin und lebt in Lissabon. Sie schreibt freiberuflich für verschiedene Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. In Zürich hatte sie mehrere Jahre als Redaktorin bei der NZZ gearbeitet. Die Tochter eines Türken und einer Schweizerin dachte immer, dass der Umzug von ihrer Geburtsstadt Baar nach Zürich in Jugendjahren der grösste bleiben würde – bis sie ihr Herz an einen Portugiesen verlor. Nach einigen gemeinsamen Jahren in der Schweiz zogen sie und ihr Mann 2014 mit den beiden Söhnen nach Portugal. Von Lissabon aus schreibt sie über Land und Leute, aber auch ganz ortsungebunden über Gesellschafts- und Familienthemen.
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