Heiraten ist kein Privileg, es ist ein Recht
Die Schweiz solle die Ehe für alle einführen, fordern Lesben- und Schwulenverbände. Doch ein Blick in die Gesetze zeigt: Es gäbe sie bereits. Die Zivilstandsämter müssten sie nur anwenden.
Von Michael Rüegg (Text) und Julia Spiers (Illustration), 17.05.2018
Der 17. Mai ist der Internationale Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie. Homophob ist nicht nur, wer einen Schwulen mit Steinen bewirft, eine Lesbe beschimpft oder einer Transfrau keinen Kaffee ausschenken will. Homophobie ist auch die Angst davor, Schwulen und Lesben die gleichen Rechte zuzugestehen wie allen anderen Menschen.
«Grüezi, ich würde gerne heiraten. Was muss ich da genau tun?», frage ich die Dame am Schalter. Relativ bald fällt bei der Frau vom Amt der Begriff «Ihre Verlobte». «Das ist ein Missverständnis, Frau Schmid, ich habe einen Verlobten. Mit ‹n› am Schluss.» – «Ah!», schiesst es aus Frau Schmid hinaus, «Sie meinen eine eingetragene Partnerschaft!» «Nein», entgegne ich, «ich meine eine Ehe.» – «Aber das geht in der Schweiz nicht, dafür haben wir ja das Partnerschaftsgesetz», sagt Frau Schmid mit entschuldigendem Blick.
Daraufhin ich: «Können Sie mir sagen, wo denn steht, dass zwei Männer nicht heiraten können?»
Zugegeben, obigen Dialog gab es so nie. Ich will gerade nicht heiraten. Ich weiss auch nicht, ob mein Partner tatsächlich eine Ehe mit mir eingehen würde. Womöglich hat er andere Pläne. Das Gespräch habe ich konstruiert aus einem anderen, das ich mit einem langjährigen Zivilstandsbeamten geführt habe. Er wird später auftreten.
Der Dialog könnte sich aber genau so abspielen. Wenn ich denn mit der Absicht, als Mann einen Mann zu heiraten, in ein Zivilstandsamt marschierte. Und tatsächlich hätte die Frau Schmid, oder wie sie heissen würde, gewisse Mühe, meine letzte Frage zu beantworten: Wo denn bitte stehe, dass nur Mann und Frau heiraten dürfen.
Denn die Bundesverfassung sagt:
Artikel 14: «Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet.»
Von Mann und Frau steht da kein Wort. Im Gegenteil, in Artikel 8 hält unser Grundgesetz fest, dass alle Menschen gleich sind und niemand diskriminiert werden darf. Im Einklang mit der Verfassung lässt auch das Zivilgesetzbuch offen, wer wen heiraten darf. Einzig Verwandten in gerader Linie ist die Eheschliessung verboten.
Aber warum sollen Schwule und Lesben überhaupt heiraten dürfen? Schliesslich führte bereits 2003 der Kanton Zürich ein Partnerschaftsgesetz ein. Und seit 2007 können Frauen- und Männerpaare in allen Kantonen mit gegenseitiger Unterschrift ihre Beziehung eintragen lassen. Die Rechte und Pflichten sind mit denen einer Ehe weitgehend vergleichbar.
Ehe zweiter Klasse
Aber nur weitgehend. So steht ausländischen eingetragenen Partnerinnen die Möglichkeit der erleichterten Einbürgerung nicht offen. Unterschiede zeigen sich auch in anderen Bereichen, etwa dem Güterstand. Und die Adoption ist Verpartnerten explizit verboten, es sei denn, einer von beiden ist bereits ein biologischer Elternteil.
Häufig heiraten Paare, um sich gegenseitig abzusichern. Das klappt aber bei gleichgeschlechtlichen nur, wenn die Todesart stimmt. Angenommen, ich stürbe an einer Krankheit, würde meine Pensionskasse meinem hinterbliebenen Partner eine Rente bezahlen – übrigens unabhängig davon, ob wir verpartnert sind oder nicht. Würde ich jedoch von einem LKW überfahren, erhielte er nichts. Für die Unfallversicherung und die AHV gibt es keine Witwer. Nur Witwen. Es sei denn, die Witwe ist lesbisch. Dann mutiert sie auf dem Papier unter Umständen zum Mann und geht leer aus.
Der Zürcher SP-Ständerat und Rechtsprofessor Daniel Jositsch nennt die eingetragene Partnerschaft in einer Veröffentlichung, die er zusammen mit einer Parteigenossin und einem -genossen geschrieben hat, also zu Recht eine «Ehe zweiter Klasse».
Unterschreiben statt sprechen
In Sachen Ritus und Tamtam sind sich Ehe und Eintragung der Partnerschaft hingegen fast gleich. Roland Peterhans hat unzählige Paare getraut, auch schwule und lesbische. «Die Zeremonie ist weitgehend dieselbe», sagt er, der seit 22 Jahren auf dem Stadtzürcher Zivilstandsamt arbeitet. Statt vor Zeugen Ja zu sagen, unterschreiben die Paare. Trauzeugen dürften mitunterschreiben, hätten aber nur symbolischen Charakter, so Peterhans.
Ich selber war bislang an vier schwulen und einer lesbischen Hochzeit. Und ja, die Rede war stets von Hochzeiten. Keine «Feste zur Feier der Eintragung der Partnerschaft».
Einige Jahre ist es her, dass zwei Freunde heirateten. Mit viel Trara, in einem Lokal am Zürichsee. Grosse Gesellschaft, einstige Schulfreunde, Arbeitskollegen, alte jüdische Tanten. Alles war dabei, gefeiert wurde mit derselben Inbrunst, wie man sie von Eheschliessungsfesten kennt. Und einige Jahre später, im Herbst 2017, lag ein Kärtchen im Briefkasten: Der Nachwuchs war da, ein Junge und ein Mädchen. Wie sich die beiden Papis über die Geburt ihrer Kinder freuten! Dass das Verfahren etwas komplizierter war und via Leihmutterschaft in den USA über die Bühne ging, kann man einem Männerpaar nicht zum Vorwurf machen.
Jetzt sind sie eine Familie. Sie und Tausende andere gleichgeschlechtliche Schweizer Paare. Aber eigentlich dürfte es sie nicht geben. Denn einst wollte man verhindern, dass Lesben und Schwule Kinder aufziehen. Doch die Realität hat das ursprüngliche Konzept über die Jahre verdrängt.
Eine Insel der rückwärtsgewandten Standhaftigkeit
Wo steht denn nun geschrieben, dass in der Schweiz nur Mann und Frau eine Ehe eingehen können? Die Antwort ist enttäuschend lächerlich: in der Botschaft des Bundesrates, die dieser 1995 dem Gesetzentwurf über die Änderung des Zivilgesetzbuches angeheftet hatte. Die Botschaft ist ein erläuternder Bericht, der die Absicht der Regierung ausformuliert und die wichtigsten Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens nennt.
Der Satz hiess: «Die Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Personen bleibt ausgeschlossen.» Und er wirkt so antiquiert, dass man ihn in Fraktur setzen möchte.
Eine Phrase in einem Bericht wird als Hauptargument für eine diskriminierende Praxis geführt. Und das in einem Land, in dem schon 2002 die Bevölkerung des grössten Kantons mit klarer Mehrheit die rechtliche Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare begrüsst hat.
Der Bundesrat zitierte mit obigem Satz übrigens das Bundesgericht. Es hatte in einem Entscheid aus dem Jahr 1993 den Ordre public als gefährdet gesehen – die öffentliche Ordnung. Dies sei der Fall, «wenn fundamentale Rechtsgrundsätze verletzt sind, der fragliche Akt mit der schweizerischen Rechts- und Wertordnung schlechthin unvereinbar ist», wie die Bundesrichter in ihrer Begründung geschrieben hatten.
Bloss: Ist eine Ehe zwischen Frau und Frau heute tatsächlich so unvereinbar mit unserer geltenden Wertordnung?
Markiert man auf einer Europakarte alle Länder, in denen nicht nur Heterosexuelle heiraten können, fällt auf: Die Schweiz ist neben Italien die einzige westeuropäische Nation, die die Ehe für alle noch nicht kennt. Liechtenstein, Nordirland, der Vatikanstaat, Monaco und Andorra ausgenommen.
Ehen für alle werden heute in folgenden europäischen Staaten geschlossen: Niederlande (seit 2001), Belgien (2003), Spanien (2005), Norwegen (2009), Schweden (2009), Island (2010), Portugal (2010), Frankreich (2013), Grossbritannien (2014), Luxemburg (2014), Irland (2015), Dänemark (2016), Finnland (2017), Deutschland (2017), Malta (2017). In Österreich gilt die Ehe für alle ab 1. Januar 2019.
«Die öffentliche Ordnung in all diesen Ländern ist bis jetzt nicht zusammengebrochen. Es sind auch keine Racheengel vom Himmel gefahren und haben mit flammenden Schwertern die Sündiger niedergestreckt.»
Diese Worte stammen nicht von mir. Sondern von Michael Lauber, dem amtierenden Schweizer Bundesanwalt. Er äusserte sie in einer Rede an der Generalversammlung der FDP-Frauen am 21. April dieses Jahres. Lauber, der selber in einer registrierten Partnerschaft lebt, machte sich während seines Auftritts für die Eheöffnung stark. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie die Bürokratie abbaue.
Der Zivilstandsbeamte Roland Peterhans pflichtet Michael Lauber bei: «Es wäre damit allen gedient. Die registrierte Partnerschaft brauchten wir somit nicht mehr.»
Keine zusätzlichen Kreuzchen mehr auf Formularen.
Keine speziellen Passagen mehr in Vorsorgereglementen.
Und keine Pflicht für verpartnerte Lesben und Schwule, ihre sexuelle Identität zu offenbaren, wenn sie gegenüber Arbeitgebern, Ämtern oder in Arztpraxen ihren Zivilstand angeben müssen.
Überhaupt, keine Extrawürste mehr für Männer- und Frauenpaare. Eine Ehe für alle.
Die Praxis greift auf sich selbst zurück
Was hält denn nun die Zivilstandsämter davon ab, bereits heute Ehen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren zu schliessen, wenn dies gemäss dem Buchstaben des Gesetzes eigentlich möglich wäre?
Roland Peterhans: «Es herrscht ein Konsens, dass das Gesetz so auszulegen ist, wie wir es heute auslegen.» Ein Konsens, der zu keinem Zeitpunkt explizit demokratisch legitimiert worden ist. Einer, der auf einem von Aberhunderten Sätzen in einem 25 Jahre alten erläuternden Bericht des Bundesrates fusst.
Und wenn man zu einem anderen Konsens gelänge? Schliesslich ist die Schweiz mit ihrer Rechtsauffassung heute eine Insel in Westeuropa. In den 1990er-Jahren, als der Bundesrat sich auf den bundesgerichtlich angerufenen Ordre public berief, war die Welt noch eine andere.
Roland Peterhans, der auch als Präsident des Schweizerischen Verbands für das Zivilstandswesen amtet, sieht das persönlich ebenso: «Unter den Schweizer Zivilstandsbeamten ist die Haltung eigentlich klar, die Ehe für alle muss kommen», sagt Peterhans, «aber wir können sie nicht einfach voranwenden. Es braucht einen politischen Entscheid.»
Ein solcher politischer Entscheid könnte nächstes Jahr bevorstehen. Eine parlamentarische Initiative der grünliberalen Nationalrätin Kathrin Bertschy, datiert vom 5. Dezember 2013, wird nun seit bald fünf Jahren im Bundeshaus umhergeschleift. Ihr Ansinnen: die Bundesverfassung ändern und die Ehe darin explizit auch für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Dagegen ausgesprochen haben sich bislang vor allem SVP-Parlamentarier.
Der Nachteil dieses Vorgehens aus Sicht der Befürworterinnen: Für Verfassungsänderungen ist zwingend eine Volksabstimmung nötig, inklusive Ständemehr. Und die vielen kleinen Kantone stimmen häufig konservativer als die wenigen bevölkerungsreichen.
Mittlerweile sehen viele eine Änderung des Grundgesetzes nicht mehr als notwendig an. Auch Bundesanwalt Lauber wird in seiner Rede deutlich: «Es braucht keinen Eingriff in die Bundesverfassung, um die Ehe zu öffnen.» Die Drohkulisse einer Volksabstimmung mit Ständemehr könnte problemlos gekübelt werden.
Zeiten ändern, Meinungen auch
Dass die öffentliche Haltung sich radikal verändern kann, zeigt auch ein Blick auf die Vereinigten Staaten. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup hat über Jahre hinweg dieselbe Frage gestellt: Sollen Schwule und Lesben heiraten dürfen? 1996 waren noch 68 Prozent der Befragten dagegen. In der Zeit um 2011 und 2012 kippte die Mehrheit ins Ja-Lager. 2017 erreichte die Zustimmung zur «gay marriage» mit 64 Prozent einen Höchststand.
Das ist nicht etwa wunderlich. Sondern ganz normal. Wir nennen es Fortschritt. Und der drückt sich auch in der Anwendung von bestehendem Recht aus. Wie Gesetze ausgelegt werden, hängt immer auch davon ab, wie die Gesellschaft tickt. Dort, wo Menschen systematisch benachteiligt werden, kann Unrecht auch geheilt werden, ohne dass an Gesetz und Verfassung geschnipselt werden muss.
Es reicht, wenn die Menschen, die das Gesetz anwenden, ein Bewusstsein für die Zeit entwickeln, in der sie leben.
Die Welt dreht sich seit Jahrmillionen nur im Kreis. Trotzdem ist unbestritten, dass die Menschheit seit ihrer Entstehung Fortschritte erzielt hat. Und so wird eines Tages die Frau Schmid (oder wie auch immer sie heissen mag) vom Zivilstandsamt von sich aus «Verlobte oder Verlobter» sagen.
Ganz egal, wen die Person am Schalter ehelichen will.
Debatte: Soll die Ehe für alle Realität werden?
Was spricht denn gegen die Ehe für alle? Ist sie, wie Gegner behaupten, wirklich unvereinbar mit unserer Wertordnung? Oder sollen sich Zivilstandsämter einfach an die Bundesverfassung halten und die Ehe für Lesben und Schwule öffnen? Und sind Sie dafür, dass gleichgeschlechtliche Paare im Gegensatz zu heute künftig auch Kinder adoptieren und fortpflanzungsmedizinische Leistungen beanspruchen dürfen? Hier geht es zur Debatte.