Bombe mit Zeitzünder
Der Aufstieg des Zürcher Medienkonzerns Tamedia und der Niedergang der Schweizer Presse führen zur grössten Massenentlassung in der Schweizer Mediengeschichte.
Von Christof Moser, 17.05.2018
Prolog: Das Rätsel
Am 23. August 2017 kündigt Tamedia an, alle Redaktionen ihrer Tageszeitungen zu je einer Einheitsredaktion für die Deutsch- und die Westschweiz zu fusionieren. Es ist das grösste interne Sparprojekt, das die Zürcher Mediengruppe je gesehen hat. Doch am Tag des grossen Knalls versichert das Management öffentlich: «Mit der Einführung der neuen Organisation sind keine Kündigungen verbunden.»
Eine Monster-Sparübung ohne Kündigungen? Kann das die Wahrheit sein?
Wer intern zum Kreis der Informierten zählte, wusste: Nein. Seit Ende 2016 fanden am Tamedia-Hauptsitz in Zürich fast wöchentlich Sitzungen zum «Projekt 2020» statt. Die 30-köpfige Projektgruppe um Superchefredaktor Arthur Rutishauser, seinen Stellvertreter Simon Bärtschi, Verlagsleiter Marcel Tappeiner und Projektleiter Ueli Eckstein wälzte dabei unter anderem Pläne zur Fusion aller Tamedia-Redaktionen. In ihren Papieren rechneten die Manager damit, dass mit einer Einheitsredaktion «ab Zeitraum 2018/19» die «nötigen Spareffekte» erzielt werden können, um «über alle Kostenblocks» den «prognostizierten Ertragsrückgang um 30 Prozent zu kompensieren».
Im Klartext: Über den dreijährigen Zeitraum bis 2020 gehen die Tamedia-Manager im Mediengeschäft von einem Rückgang der Einnahmen um 30 Prozent aus. Um die Gewinnmarge zu halten, müssen daher die Kosten ebenfalls um 30 Prozent sinken. Und der mit Abstand grösste Teil der Kosten entfällt im Journalismus auf das Personal.
«Keine Kündigungen»? Gespräche mit zahlreichen Quellen, die aufgrund ihres Arbeitsverhältnisses nicht genannt werden wollen, legen nahe, dass es bei Tamedia zu Entlassungen kommen wird. Viele Mitarbeitende glauben, die Unternehmensleitung habe bereits an einer Retraite Anfang April auf dem Zürcher Üetliberg einen konkreten Abbauplan abgesegnet. Recherchen der Republik zeigen: Davon wären aktuell über 200 Mitarbeitende betroffen.
Derzeit zieht das Management die Politik der kleinen Schritte dem harten Sparschnitt vor. Der Konzern unternimmt alles, um Personal zu freiwilligen Abgängen zu motivieren. Die entscheidende Frage ist: Wie lange noch? Ohne die grösste Massenentlassung in der Schweizer Mediengeschichte wird weder der erwartete Einnahmerückgang zu kompensieren noch die erwartete Gewinnmarge zu erreichen sein.
Im Aufstieg der Tamedia zum mächtigsten Medienkonzern der Schweiz spiegeln sich auch 25 Jahre Mediengeschichte. Die gegenwärtigen Ereignisse sind bloss das letzte Kapitel einer rasanten Medienkonzentration. Mit einer grossen Siegerin: Tamedia. Wie es so weit kommen konnte – in 10 Kapiteln.
I. Der Knall
Am Tag des grossen Knalls beginnt die grösste Fusionswelle der jüngeren Schweizer Pressegeschichte:
23. August 2017: Tamedia fusioniert ihre zwölf Redaktionen in der Deutsch- und die vier Redaktionen in der Westschweiz zu je einer Einheitsredaktion. Drei sogenannte Kompetenzzentren in Zürich, Bern und Lausanne beliefern «Tages-Anzeiger», «Landbote», «Zürichsee-Zeitung», «Zürcher Unterländer», «Berner Zeitung», den «Bund», «Berner Oberländer», «Thuner Tagblatt» und ein halbes Dutzend weitere Titel in beiden Landesteilen ab 2018 mit Inhalten zu Inland, Ausland, Wirtschaft, Sport, Wissen, Kultur und Gesellschaft.
Es folgen: die Echos des Knalls.
7. Dezember 2017: Die NZZ-Mediengruppe und AZ Medien kündigen an, ihr Regionalzeitungsgeschäft in einem Joint Venture zusammenzuführen. Eine gemeinsame Zentralredaktion soll mehr als zwanzig Titel – darunter die «Aargauer Zeitung», das «St. Galler Tagblatt» und die «Luzerner Zeitung» – in dreizehn Kantonen mit Inhalten beliefern.
18. April 2018: Tamedia kauft die «Basler Zeitung» von der Zeitungshaus AG um Christoph Blocher, die im Gegenzug von Tamedia das «Tagblatt der Stadt Zürich» übernimmt. Die «Basler Zeitung», um die auch die AZ Medien buhlte, soll nach der Übernahme sofort ins «Projekt 2020» der Tamedia integriert werden. «Alleine wäre die ‹Basler Zeitung› zum Tode verurteilt», sagt Blocher.
In der Deutschschweiz bleiben nach diesen Fusionen und Deals gerade mal noch sechs unabhängige, tagesaktuell und national berichtende Redaktionen übrig (abgesehen von den Radio- und TV-Redaktionen der SRG, die ab Herbst 2018 ebenfalls grösstenteils zu einer Einheitsredaktion fusioniert werden):
die Zentralredaktion der Tamedia in der Deutsch- und der Westschweiz;
die Redaktion von «20 Minuten», die ebenfalls zu Tamedia gehört;
die Zentralredaktion von AZ Medien und NZZ-Regionalmedien;
der Ringier-Newsroom für «Blick», «Blick am Abend» und «Blick online», der bereits 2010 das Modell der fusionierten Einheitsredaktion einführte;
die Redaktion der Nachrichtenagentur SDA, von der die letzten noch nicht fusionierten Titel wie die «Südostschweiz» und der «Walliser Bote» abhängen;
die Redaktion der NZZ.
Sechs Redaktionen mit landesweiter Ausstrahlung. Vor 25 Jahren waren es noch über zwei Dutzend. Damals zählte die Schweiz 300 Zeitungstitel. Heute sind es noch knapp 100.
II. Die Verunsicherung
Die Mitarbeitenden von Tamedia erfahren erstmals im Frühling 2017 vom «Projekt 2020». Am 5. Mai informiert die Unternehmensleitung – «um Gerüchten vorzubeugen» – intern über die Planspiele eines Umbaus. Ein Stellenabbau sei nicht vorgesehen, wird schon damals versichert.
Die Betonung, es sei kein Stellenabbau vorgesehen, ist kein Zufall. Der Konzern hat die Lehren aus dem «Mai-Massaker» von 2009 gezogen, als beim «Tages-Anzeiger» auf einen Schlag 52 Stellen gestrichen wurden. Die Redaktion muckte auf, der Präsident der Personalkommission organisierte Proteste. Zwei Tage nach einer Kundgebung wurde er entlassen. Der Skandal beschäftigte die Schweizer Presse wochenlang. Und später auch die Gerichte.
Nur über den verschlankten und angeblich verbesserten «Tages-Anzeiger» redete damals keiner – ein Ärger für die Chefetage des Konzerns. Das «Projekt 2020» soll daher mit allen Mitteln nicht als Abbruch, sondern als Aufbruch präsentiert werden.
Im Mai 2017 berichtete die «NZZ am Sonntag» über «radikale Szenarien» bei Tamedia, im August schrieb die Wochenzeitung «WOZ» unter dem Titel «Tamedia plant ein Massaker»: «Ob Ende August ein schleichender Abbau eingeleitet oder ein Erdbeben stattfinden wird, weiss niemand.»
Besonders in den beiden Berner Redaktionen ist jetzt die Unruhe gross. Wie viele von ihnen werden es in die Zentralredaktion schaffen? Bei der «Berner Zeitung» («BZ»), die bislang den Mantel für die drei Zürcher Landzeitungen, die «Freiburger Nachrichten» und das «Bieler Tagblatt» lieferte, würden mit der Einheitsredaktion Dutzende Stellen überflüssig.
Die Redaktion schreibt dem Verleger einen Brief und weist auf ihre «grosse Verunsicherung» hin. Die Antwort wird von «BZ»-Chefredaktor Peter Jost im Redaktionsblog ausgerichtet: «Er (Supino) teile die Einschätzung, dass es uns gelingt, mit einem motivierten Team täglich eine gute Zeitung zu machen.»
III. Der Blödsinn
Die Nachricht, nach innen wie nach aussen, bleibt einheitlich. Das «Projekt 2020» ist kein Sparprogramm. Schon gar kein Stellenabbauprogramm. Und so bekräftigt am 23. August 2017, als Tamedia den Umbau offiziell ankündigt, Konzernchef Christoph Tonini: «Mit der Einführung der neuen Organisation sind keine Kündigungen verbunden.»
In den folgenden Tagen und Wochen erfährt dieser Satz nach und nach die Präzisierung: «bis zum Projektstart Anfang 2018». An einem internen Anlass zur Information der Redaktionen in Bern räumt Projektleiter Ueli Eckstein schon am Tag der Ankündigung ein, Entlassungen könnten «nicht ausgeschlossen» werden.
Nach dem Fusionsknall ist die Stimmung in den Tamedia-Redaktionen gedrückt, in Bern ist gar von «Schockstarre» die Rede. In Zürich hellt sich die Stimmung auf, als Tamedia am 22. September 2017 die Ressortleiter für das Kompetenzzentrum in der Deutschschweiz ernennt und vor allem Zürcher Redaktionsmitglieder zum Zug kommen. Empörung dagegen in Bern. Und weil Bern das schon bei jeder früheren Restrukturierung durchgespielt hat, kennt jeder seine Rolle: Regierungsräte zeigen sich besorgt, der Schriftsteller Pedro Lenz schreibt einen Abgesang auf die Berner Medien («Bye-bye Bern»).
Am 23. November 2017 wird Pietro Supino, Präsident des Verwaltungsrats von Tamedia, in Bern an einem Podium zum Thema «Was wird aus Bund und BZ?» von der eigenen Leserschaft «Zürcher Arroganz» vorgeworfen. Supino verliert annähernd die Fassung und antwortet, er sei sich ja gewohnt, als «Geldsack» beschimpft zu werden, Arroganz habe ihm noch kaum jemand angehängt. Einen Tag später muss Supino einen internen Anlass in Bern zum «Qualitätsmonitoring» der Tamedia vor fast leeren Rängen durchführen. Die Redaktion der «BZ» boykottiert den Anlass (so wie das zuvor auch schon die Kolleginnen in der Westschweiz taten).
Intern glaubt im Spätherbst kaum jemand mehr daran, dass es in den Tamedia-Redaktionen keine Entlassungen geben wird. Es werden nur noch zwei Fragen gestellt. Erstens: Wann kommen die Kündigungen? Zweitens: Darf das Management eines Medienkonzerns, der sich gern mit kritischem Journalismus brüstet, seine Journalisten derart an der Nase herumführen? Tamedia blende den Kollateralschaden ihrer Strategie aus, kritisiert AZ-Medienjournalist Christian Mensch: «Schaden nimmt die Glaubwürdigkeit, das höchste Gut im Journalismus. Was ist von den publizistischen Absichtserklärungen des Medienkonzerns noch zu halten, wenn ihm selbst die eigenen Journalisten zutiefst misstrauen?»
«Die Umsätze aus dem Werbemarkt sind leider weiter stark rückläufig, weil die Werbemöglichkeiten zunehmen und der Grossteil der digitalen Werbegelder zu Google und Facebook fliesst. Wir haben im Frühjahr und August 2017 offen über die erwarteten Umsatzrückgänge sowie die redaktionelle Strategie im Projekt 2020 informiert, und das scheint uns auch nichts als fair», sagt Tamedia-Kommunikationschef Christoph Zimmer gegenüber der Republik.
Eines kann man der Informationspolitik der Tamedia-Leute nicht vorwerfen: mangelnde Konsequenz. Entlassungswelle? «Das ist Blödsinn», sagt Superchefredaktor Arthur Rutishauser Mitte November in der NZZ.
Vier Monate später, im März 2018, anlässlich der Bilanzmedienkonferenz, wird CEO Tonini einen ganz anderen Ton anschlagen, und das gleiche Blatt wird genüsslich schreiben: «Aus Blödsinn wird Ernst». Dazu später mehr.
An dieser Stelle zunächst ein kurzer Rückblick auf die Veränderungen in der Presselandschaft der Schweiz. Er zeigt, weshalb die gegenwärtigen Ereignisse im Hause Tamedia bloss das vorläufige Ende einer langen Entwicklung sind, die sehr eng mit der Medienkonzentration verbunden ist.
IV. Die Rückblende (1/2): Go big
1993: In Bern besitzt Charles von Graffenried ein Zeitungsimperium, in der Westschweiz herrscht Pierre Lamunière. Die «Basler Zeitung» ist im Besitz der Familie Hagemann, in Solothurn führt Fritz Schuhmacher die «Solothurner Zeitung», in Baselland verlegt Mathis Lüdin seine «Basellandschaftliche Zeitung», im Thurgau Familie Huber ihre «Thurgauer Zeitung», im Wallis André Luisier den «Nouvelliste», in Luzern Hans Kaufmann die «Luzerner Zeitung». Und in Zürich feiert Hans Heinrich Coninx das 100-jährige Bestehen des «Tages-Anzeigers».
Eine stolze Zeitung. Doch es gibt Ärger: Zwei Jahre zuvor hatte Verleger Coninx einen Chefredaktor abgesetzt, weil der sich geweigert hatte, kritische Journalisten zu entlassen – es kommt zu Protesten der Redaktion. Um die Gemüter zu beruhigen, gibt der Verleger eine Jubiläumsschrift in Auftrag. Sie erscheint unter dem Titel: «Medien zwischen Geld und Geist». Es sollte das Ehrlichste werden, was ein Schweizer Verlag je in eigener Sache publizierte.
Im Kapitel «Die innere Pressefreiheit wird sträflich missachtet» berichten Journalistinnen, wie Verlagsmanager Artikel von Freunden gegen den Willen der Redaktion ins Blatt rücken. Nur ein Kapitel fehlt am Ende im Feierwerk: Zwar hatte ein «Spiegel»-Korrespondent, wie beauftragt, einen kritischen Artikel zur Pressekonzentration geliefert. Doch kurz vor Druck erfährt der Autor, «dass Herr Hans Heinrich Coninx Ihren Text über die Monopolsituation der Presse aus dem Jubiläumsbuch gestrichen hat».
Zur gleichen Zeit kommt es im Schweizer Medienmarkt zur ersten grossen Fusionswelle seit den 1970er-Jahren, als die «Berner Zeitung» und die «Basler Zeitung» aus Zusammenlegungen entstanden.
1991 schliessen sich «Vaterland» und «Luzerner Tagblatt» zur «Luzerner Zeitung» zusammen. In der Romandie fusionieren «Journal de Genève» und «Gazette de Lausanne» zum «Journal de Genève et Gazette de Lausanne».
1994 arbeiten im Aargau das «Aargauer Tagblatt», das «Zofinger Tagblatt» und das «Oltner Tagblatt» unter dem gemeinsamen Titel «Mittelland-Zeitung» zusammen; Vorbote einer späteren Fusion, die 2001 vollzogen wird.
1996 fusionieren Ringiers «Luzerner Neuste Nachrichten» und «Luzerner Zeitung»; die «Neue Luzerner Zeitung» entsteht. Aus dem «Aargauer Tagblatt» und dem «Badener Tagblatt» wird die «Aargauer Zeitung».
1997 folgt der Paukenschlag in der Ostschweiz: Zehn Blätter aus Graubünden, Glarus, St. Gallen und Schwyz bilden die neue «Südostschweiz».
Ende der 1990er-Jahre beginnt das Zeitalter der Gratiszeitungen, was den Konzentrationsprozess beschleunigt. Die norwegische Schibsted und die schwedische Metro International lancieren 1999 in der Schweiz «20 Minuten» und «Metropol». 2003 wird «Metropol» eingestellt und Tamedia kauft «20 Minuten». Drei Jahre später lanciert der Konzern in der Westschweiz das französischsprachige Pendant «20 minutes», und Ringier steigt mit «heute» und «Cash daily» ins Gratiszeitungsgeschäft ein.
Die Gratiszeitungen saugen die Werbegelder aus den Bezahlzeitungen, lassen den Lesermarkt erodieren und verschaffen Tamedia damit den Hebel, um die Konkurrenz in Bern und der Westschweiz endgültig in die Knie zu zwingen:
2007 kauft Tamedia die Espace Media und übernimmt damit «Berner Zeitung», «Bund» und Beteiligungen an «Berner Oberländer» und «Thuner Tagblatt». Dafür wird das Nachrichtenmagazin «Facts» geschlossen. Ringier schliesst «Cash». Die AZ Medien kaufen die «Basellandschaftliche Zeitung».
2009 übernimmt Tamedia bis Ende 2011 die Westschweizer Edipresse und damit die Tageszeitungen «24 heures», «Tribune de Genève» und «Le Matin» sowie die Sonntagszeitung «Le Matin Dimanche».
2010 erwirbt Tamedia von der NZZ die Beteiligungen an «Zürcher Unterländer», «Zürichsee Zeitung» und «Zürcher Oberländer». Im Gegenzug übernimmt die NZZ von Tamedia die «Thurgauer Zeitung».
2013 übernimmt Tamedia die Winterthurer Ziegler Druck- und Verlags-AG und damit die Mehrheit am «Landboten».
Und zum Schluss: Am 18. April 2018 kündigt Tamedia den Kauf der «Basler Zeitung» von Christoph Blocher, Rolf Bollmann und Markus Somm an. Im Gegenzug erhält das Trio von Tamedia das «Tagblatt der Stadt Zürich».
Medienkonzentration in der Schweiz
Die detaillierte Übersicht über die «Chronologie der Medienkonzentration» erhalten Sie hier.
V. Die Rückblende (2/2): Go digital
Tamedia ist bereits vor Jahren zur Einsicht gekommen, dass das traditionelle Mediengeschäft strukturell gefährdet ist. Eine wichtige Weichenstellung ist das Jahr 2007, als Hans Heinrich Coninx das Verwaltungsratspräsidium an seinen Neffen Pietro Supino übergibt: Ein Wirtschaftsanwalt ist der neue starke Mann im Haus. Zusammen mit CEO Martin Kall – und später mit dessen Nachfolger Christoph Tonini – nimmt sich Supino ein Beispiel am Axel-Springer-Verlag und investiert in grossem Stil in Internet-Marktplätze.
Bereits 2004 hatte Tamedia die Immobilienplattform homegate.ch gekauft. Nach der Machtübernahme von Supino folgt der Einstieg bei Zattoo (2008), Fashionfriends (2009) und Doodle (2012) sowie der Kauf von jobs.ch (2012, zusammen mit Ringier) und ricardo.ch (2015).
Im Portfolio finden sich auch schmierige Geschäftsfelder wie sexup.ch, eine Westschweizer Buchungsseite für Escortgirls. Das Schmuddelbusiness, das früher ganze Zeitungsseiten füllte, spült jetzt digital das Geld in die Kassen, abgekoppelt vom Journalismus.
2017 bringt das Geschäft mit digitalen Marktplätzen und Beteiligungen erstmals mehr Betriebsgewinn ein als das Geschäft mit Journalismus. Etablierte und profitable Onlinefirmen für teures Geld einkaufen und sich dann mit der tollen Profitabilität brüsten – das sei letztlich das Modell Tamedia, sagen Kritiker. Die Strategie ist nicht ohne Risiko: Fashionfriends erweist sich als Flop und wird wieder verkauft, andere Plattformen werden eingestellt. Angesichts der Offensive von Amazon, Zalando und Galaxus in der Schweiz fragen sich inzwischen auch Tamedia-Kader, ob sich die 240 Millionen Franken für ricardo.ch nicht als Millionengrab entpuppen werden.
VI. Teilen
Zurück in der Gegenwart. Seit Anfang 2018 ist die erste Phase der Tamedia-Einheitsredaktion Realität. Schon nach wenigen Monaten, berichten interne Quellen, seien die Überkapazitäten beim Personal augenfällig geworden. In der Zentrale in Zürich stehen sich Journalisten «gegenseitig auf den Füssen herum», erzählen Mitarbeitende. In Qualifikationsgesprächen werde kein Hehl daraus gemacht, wer gehen solle und wer nicht. Immer häufiger und offener ist von bewusster «Vergrämung» die Rede.
Am 12. März kündigt der Konzern die Einführung eines Expertensystems an. In sogenannten Expertenzirkeln sollen die besten Journalistinnen eines Fachgebiets aus allen Redaktionen vereint werden. «Die Besten der Besten», wie Projektleiter Peter Jost in einer internen Mitteilung schreibt. In den Redaktionen löst das Projekt grosse Entrüstung aus, die bis heute anhält.
Die Wut über die Einführung einer «Zweiklassengesellschaft» wogt konzernübergreifend. Das komme der Vorselektion zu einer grossen Säuberung gleich, sagt der langjährige Tamedia-Journalist Jean-Martin Büttner am 7. April in der NZZ: «Total desillusionierend.» Und niemand möge sich ausmalen, was geschähe, würde Tamedia jetzt auch noch die «Basler Zeitung» übernehmen.
Am 18. April übernimmt Tamedia die «Basler Zeitung».
Widerstand gegen das Expertensystem organisiert sich. Die G-200, eine lose Gruppe von Redaktionsmitarbeitenden, kritisiert in einem anberaumten Treffen Projektleiter Peter Jost heftig. Das Protokoll vermerkt: «katastrophale Kommunikation», «intransparente Auswahlkriterien», «Desavouierung und Demotivierung», «von oben verordnete Bevorteilung».
Es werde immer klarer, dass eine Entlassungswelle bevorstehe, sagen jetzt viele Journalisten. Erst recht, wenn nun auch noch die Redaktion der «Basler Zeitung» zur Gruppe stosse. «Die Verunsicherung nimmt stark zu», sagt der Präsident des «BZ»-Personals: «Illusionen macht sich niemand mehr.» Andere, die etwas detaillierter wissen, was vor sich geht, erwarten keine unmittelbare Entlassungswelle: Die Zusammenlegung der Systeme nehme ein bis zwei Jahre in Anspruch. «Solange wird vergrämt.»
Ein «Fact Sheet», in dem das Expertensystem vorgestellt wird, aufgeschaltet im Intranet, schürt Befürchtungen. Unter dem Punkt «Aufgaben für die Experten» steht wörtlich geschrieben: «Ansprechpersonen für Nicht-Experten». In 10 bis 12 Themenbereichen wie Reportage, Recherche, Video oder Storytelling sollen Mitarbeitende mit Expertenstatus zusammengezogen werden. In Mitarbeitergesprächen wurden die Experten inzwischen ernannt. Wer dabei ist, erhält eine Lohnerhöhung von 500 Franken.
Viele der ernannten Experten sind wütend. Man habe Verständnis, dass Tamedia während einer Restrukturierung zu verhindern versucht, dass die falschen Leute kündigen. Aber der Konzern mache das «unfair und ohne Plan». Die Allrounder, die stillen Schaffer, die seit Jahren die Zeitung füllen, damit die Expertinnen brillieren können: «Sie sind in den Plänen vergessen gegangen, und deshalb gehen die Pläne nicht auf», kritisieren Mitarbeitende.
Es sei nachvollziehbar, dass die Unsicherheit angesichts der stark rückläufigen Umsätze gross ist, sagt Tamedia-Kommunikationschef Christoph Zimmer. «Die neuen Expertenzirkel sollen es den Spezialisten in den einzelnen Redaktionen ermöglichen, sich untereinander zu vernetzen und voneinander zu lernen.» Die Experten erhielten ein Budget, mit dem sie Weiterbildungsveranstaltungen für ihre Redaktionen organisieren könnten: «Das führt zu zusätzlichen Ausgaben und ist eine Investition in den Journalismus, von der alle Mitarbeitenden profitieren sollen.»
Die Stimmung habe sich in den Redaktionen in den letzten Wochen nochmals rapide verschlechtert, sagt ein «Experte». Das Expertensystem, sagt eine «Nicht-Expertin», sei Machiavelli wie im Lehrbuch: «Teile und herrsche.»
VII. Herrschen
13. März 2018, ein Tag nach der internen Information zum Expertensystem: Tamedia präsentiert das Jahresergebnis 2017. Fast eine Milliarde Umsatz, Reingewinn: 170 Millionen Franken. Davon werden 148 Millionen an die Aktionäre ausgeschüttet. Verwaltungsrat und Management erhöhen sich die eigene Vergütung von 10,5 auf etwas über 12 Millionen Franken – eine Steigerung um fast 15 Prozent.
Das «Projekt 2020» sei «perfekt umgesetzt», berichten die gut gelaunten Tamedia-Chefs an der Bilanzmedienkonferenz. Die Vielfalt sei zwar weniger gross, doch die Leser bekämen dies nicht zu spüren, sagt Verleger Supino.
CEO Christoph Tonini spricht an diesem Tag nun erstmals öffentlich das Wort «Kündigungen» aus. Die Fluktuation des Personalbestandes in den Redaktionen sei zu niedrig, erklärt er. Auf Nachhaken der NZZ fallen jetzt die entscheidenden Salamischeibchen: Die Quote der freiwilligen Abgänge liege derzeit bei rund 4 Prozent pro Jahr. Und ja, man habe beim Start von «Projekt 2020» mit einem Rückgang der Einnahmen um 30 Prozent über drei Jahre gerechnet.
An einer internen Informationsveranstaltung zum Jahresergebnis, ebenfalls am 13. März, reden die Topmanager offen von möglichen Entlassungen. Und sie begründen sie ebenfalls mit der niedrigen Fluktuation. Mit 4 Prozent natürlichen Abgängen pro Jahr werde das Ziel einer Kostensenkung um 30 Prozent niemals in nützlicher Zeit erreicht.
Als jemand nach einer konkreten Zahl der geplanten Entlassungen fragt, lautet die Antwort: «Rechnet selber!»
VIII. Das Fest
2018 ist kein normales Jahr für Tamedia. Es ist das 125-Jahr-Firmenjubiläum. Und das will gefeiert werden: am 9. Mai, dem Mittwochabend vor Auffahrt, in der «Samsung Hall» in Dübendorf. «Für Lacher und gute Unterhaltung ist gesorgt», hatte Pietro Supino in der Einladung versprochen.
Wut und Widerstand in der Tamedia-Einheitsredaktion kristallisieren sich am angekündigten Tamedia-Fest. Allein bei der «Berner Zeitung» wollen 50 Mitarbeiterinnen der Jubiläumsparty fernbleiben. «Zynisch» oder «völlig fehl am Platz» sei das Fest, hält ein Protokoll der «Bund»-Personalkommission fest. An allen Ecken und Enden werde gespart, manchmal würden sogar die Büros nicht mehr geputzt: «Dazu passt ein pompöses Fest nicht.» Am 1. Mai kündigt ein Teil der Belegschaft schliesslich eine eigene Party in Bern an – weil man «keinen Bock» darauf habe, «brav mitzuspielen».
Am 2. Mai schreibt «BZ»-Chefredaktor Peter Jost im «Blattkritik»-Blog der «Berner Zeitung», er verstehe, dass «Mitarbeitende in diesem Umfeld keine Lust verspüren», am 125-Jahr-Jubiläum der Tamedia mitzufeiern. Nicht verstehen könne er hingegen, «was das geplante Berner Alternativfest Konstruktives zur Situation von ‹BZ›/‹Bund› beitragen soll».
Etwa 300 Mitarbeitende bleiben am 9. Mai dem offiziellen Fest fern und nehmen an Alternativpartys teil, die neben Bern auch in Zürich und Lausanne stattfinden. In Bern richtet die gebeutelte Redaktion der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) eine Grussbotschaft aus, Matto Kämpf singt «Mir uf d Chappä schissä, Fählaazeig», geschöpft wird Suppe mit Wienerli, genannt «Supinerli».
Teilnehmerinnen der offiziellen Jubiläumsparty berichten, die Stimmung sei deutlich weniger gut gewesen als vor zwei Jahren. Schon 2016, ebenfalls am Mittwoch vor Auffahrt, hatte Tamedia ein Mitarbeiterfest gefeiert. Gegen 2000 Mitarbeitende nahmen teil. CEO Tonini bot in der Begrüssungsrede allen Mitarbeitern das Du an: «Ich bin Christoph.» Kurz vor dem Fest war publik geworden, dass sein Salär inklusive Bonus sechs Millionen Franken beträgt. Der Verleger übermittelte per Videoschaltung Grüsse aus seinem Sabbatical in den USA, und «77 Bombay Street» spielte auf.
Dieses Jahr: Beat Schlatter gibt sein beliebtes Bingo, die Funk-Combo «Few Good Men» tritt auf, Tonini singt Karaoke. Unter den angereisten Journalistinnen und Medienmachern ist das «Projekt 2020» das Thema. Die übrigen Gäste interessiert das wenig, sie arbeiten nicht im Journalismus, sondern für diverse Digitalplattformen.
IX. Das Winseln
Zwei Tage nach den Tamedia-Festivitäten, am Freitag, 11. Mai, meldet der Werbevermarkter Publicitas am Bezirksgericht Bülach Konkurs an. Es ist der Tod einer alten Institution der Schweizer Presse, die noch vor 20 Jahren als wichtigste Tochter des Publigroupe-Konzerns fast 70 Prozent des Inseratemarkts beherrschte. Aus Rücksicht auf die Schweizer Verleger, die sich lange ans Printgeschäft klammerten, verzichtete die Publicitas auf die digitale Weiterentwicklung des Geschäfts und wagte stattdessen riskante Abenteuer im Ausland, die im Debakel endeten.
Als Tamedia am 24. April, zwei Wochen vor dem Konkurs, der Publicitas die Zusammenarbeit per sofort aufkündigt und Kunden auffordert, Rechnungen direkt an Tamedia zu bezahlen, wird eine Kettenreaktion ausgelöst. Weitere Verlage springen ab, der Konkurs wird unausweichlich. Ende April gibt Tamedia, flankiert von NZZ, AZ Medien und der MediaTI Marketing SA («Corriere del Ticino»), die Gründung einer neuen Werbefirma bekannt.
Noch einmal ziehen die vereinigten Schweizer Verleger unter ihrem Präsidenten Supino durch, was sie erst gerade auch bei der SDA durchgezogen haben: die Liquidierung einer Institution der Schweizer Presse. Wie bei der SDA nutzen die Grossverlage bei der Publicitas ihre Marktmacht, um das System nach ihren Regeln umzubauen.
Im Schatten von «No Billag», SDA-Streik und den Knallern beim Aufstieg von Tamedia zum mächtigsten Schweizer Medienkonzern aller Zeiten geht die Infrastruktur des Schweizer Mediensystems mit einem leisen Winseln.
X. Die Zensur
War es richtig von Tamedia, die Publicitas in den Tod zu stossen? «Bis jetzt hat noch niemand diese Frage öffentlich diskutiert, was mich aber nicht wundert. Schliesslich haben wir hier ein Themenkartell mit vier, fünf Teilnehmern. Sie sind alle Partei und nicht daran interessiert, diese Frage öffentlich zu diskutieren», sagt der altgediente Medienexperte Karl Lüönd bei «Persönlich.com». «Und in den Redaktionen ist der vorauseilende Gehorsam auf allen Stufen inzwischen so hoch entwickelt, dass niemand das Thema aufgreifen wird.»
Die Medienkonzentration, sagen Tamedia-Mitarbeiterinnen, sei das eine – schlimm genug. Das andere sei der Verlust der inneren Pressefreiheit: «Sie stirbt im Gegensatz zur Medienvielfalt im Verborgenen», sagt ein Journalist.
In der Tamedia-Redaktion sorgen aktuell mehrere Beispiele für Aufsehen:
Das zurückgezogene Supino-Interview: Es hätte am 19. April 2018, am Tag nach der Verkündung der «Basler Zeitung»-Übernahme, erscheinen sollen. Doch der Tamedia-Verleger zieht das Interview zurück. In der «Schweiz am Wochenende» begründet Tamedia den Rückzug damit, dass das Interview während der Bahnfahrt zwischen Basel und Zürich am Telefon und ohne Tonband entstanden sei: Supino fühle sich «nicht richtig wiedergegeben». «Eine Machtdemonstration», heisst es in der Zürcher Zentralredaktion.
Das gelöschte Lebrument-Porträt: Der Text über Hanspeter Lebrument, den starken Mann hinter der «Südostschweiz», erscheint am Ostersamstag, 31. März 2018, und verschwindet kurz darauf spurlos aus Internet und Medienarchiv. Gegenüber der «Weltwoche» begründet Tamedia die Löschung damit, der Artikel habe unbelegte Behauptungen enthalten und weitgehend auf anonymen Quellen basiert. Somedia-CEO Masüger hatte sich öffentlich aufgeregt, «dass der Artikel in einer Zeitung von Tamedia erschienen ist, deren Verleger mit Lebrument freundschaftlich verbunden ist». Schliesslich intervenierte Verleger Supino persönlich. In der Tamedia-Redaktion wird die Löschung als «gravierender Vorgang» taxiert.
Der kastrierte SDA-Kommentar: Erschienen am 31. Januar 2018, verfasst von einem frisch von der «Berner Zeitung» in die zentrale Inlandredaktion nach Zürich gewechselten Redaktor. Am Vorabend der Publikation, um 22 Uhr, nach einem Telefonanruf von Superchefredaktor Rutishauser, muss der Kommentar entschärft werden. «Auch Streik ist keine Lösung», lautet tags darauf der Titel. Der Redaktor kündigt und wechselt zur Flüchtlingshilfe.
Tamedia weist die Vorwürfe zurück: Das Supino-Interview hätte im Wortlaut gebracht werden können, das Porträt habe gegen die Qualitätsstandards verstossen, und auf SDA-Berichte wurde kein Einfluss genommen: «Unsere Redaktionen berichten frei, und uns ist kein Beispiel bekannt, in denen die redaktionelle Unabhängigkeit infrage gestellt worden ist», sagt Tamedia-Kommunikationschef Christoph Zimmer.
«Politisch sind wir frei. Schwierig wird es dann, wenn ökonomische Interessen der Tamedia tangiert werden», sagt eine Journalistin. Andere sagen: Auch das gehört zur Strategie der Vergrämung.
Epilog: Die Wahrheit
«Mit der Einführung der neuen Organisation sind keine Kündigungen verbunden», sagten die obersten Tamedia-Manager im August 2017. Sie wussten damals schon, dass das nicht stimmt.
«Rechnet selbst!», sagten sie im März, sieben Monate später.
Also, rechnen wir.
In der Zentralredaktion Deutschschweiz von Tamedia arbeiten derzeit rund 180 Journalisten, dazu kommen rund 150 Angestellte in den Supportdiensten Layout, Produktion, Korrektorat, Infografik und Bild. In der Westschweiz sind es 60 Journalistinnen und 65 Mitarbeitende in den Supportdiensten. Dazu kommen Lokal-, Regional- und Mantelredaktorinnen (total ca. 300) plus die rund 60 Redaktionsmitarbeitenden von der «Basler Zeitung»: alles in allem rund 800.
Um die Kosten bis 2020 um 30 Prozent zu senken, müssen gegen 240 dieser Stellen gestrichen werden. Mit der gegenwärtigen Fluktuationsrate werden 80 bis 100 Mitarbeitende innerhalb der nächsten drei Jahre freiwillig gehen. Bleiben 140 bis 160 Stellen, die über Entlassungen abgebaut werden müssen – die grösste Massenentlassung in der Schweizer Mediengeschichte.
Bleibt nur noch die Frage nach dem Wann. Das grosse Fest ist gefeiert, die Peinlichkeit eines Eklats erspart. Im Juni trifft sich der Verwaltungsrat in der Regel zu einer mehrtägigen Retraite. Und Verleger Pietro Supino pflegt die Sommermonate auf seiner Jacht zu verbringen. Inside Tamedia wird tendenziell erst nach dem Segeltörn mit der Kündigungswelle gerechnet.
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