Obsession
Über Monate hat der Beschuldigte seine Ex-Freundin gestalkt. Das sehen zwei Gerichte als erwiesen an. Aber Stalking allein ist in der Schweiz noch kein Tatbestand. So muss der Terror in seine Bestandteile zerlegt werden.
Von Sina Bühler, 16.05.2018
Ort: Kantonsgericht St. Gallen
Zeit: 6. April 2018, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: ST.2013.30774
Thema: Stalking. Oder: versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache Nötigung, mehrfacher Hausfriedensbruch, üble Nachrede, mehrfache Beschimpfung, Tätlichkeiten, Missbrauch einer Fernmeldeanlage, mehrfacher Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung und mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes.
Das Gericht wartet, der Beschuldigte fehlt. Der Gerichtsweibel, der Verteidiger und der Staatsanwalt haben die Hoffnung schon aufgegeben, als der Mann zwanzig Minuten zu spät ins Gebäude schlurft. Er isst eine Banane, und als er keinen Abfallkübel findet, steckt er die Schale in die Tasche seiner Wolljacke. «Es war mir nicht wohl», sagt er achselzuckend, und er möchte auch gleich wieder gehen. «Das sieht einfach gar nicht gut aus. Bleiben Sie», ermahnt ihn der Verteidiger. Der Weibel hebt fragend die Augenbrauen. Widerwillig läuft H. nun in den Gerichtssaal und setzt sich hin. Er hat müde Augen. Nicht zu müde allerdings, als dass er diese während der Verhandlung nicht ausgiebig verdrehen könnte.
Gleich nach der Begrüssung sagt er: «Ich bin nicht einverstanden.» Der Gerichtspräsident versucht herauszufinden, womit er ein Problem hat. H. kritisiert den formalen Ablauf der Verhandlung, und der Präsident erklärt ihm, dass an der Gerichtsordnung nichts geändert werden könne. Nun kippt H. im Stuhl nach hinten, genervt. Der Gerichtspräsident erklärt ihm, er könne immer und ohne Begründung auf eine Antwort verzichten. Das tut H. jetzt konsequent. Er gibt keine Antwort auf Fragen zu seiner Kindheit, zu seinen Halbgeschwistern, zu seiner Mutter, zu seinen Heimaufenthalten. Nach sieben, acht Fragen gibt der Gerichtspräsident auf. «Das ist schade», sagt er, «ich hatte etwa fünfzehn Seiten Fragen vorbereitet.» Der Richter sagt auch: «Sie haben Berufung eingelegt. Wenn Sie jetzt nichts sagen, wird sich an der Beweislage nichts ändern.»
Jetzt spricht der Beschuldigte: «Das habe ich getan, weil das ganze Verfahren, der ganze Fall, eine Farce war. Man hat mich aller Kommunikationsmittel beraubt, ich lebe unter dem Existenzminimum. Das ist eine Missachtung der Menschenrechte. Das ist auch der Grund, warum ich heute zu spät gekommen bin. Ich kann es nicht allen recht machen. Eine Erklärung würde hier den Rahmen sprengen.» Die Richter versichern, ihm zuhören zu wollen, aber es ist zu spät. H. schweigt wieder. Dabei hatte er vorher viel zu sagen, zu schreiben, zu erzählen – vor allem, wenn es nicht erwünscht war. Vor Gericht steht der 49-jährige Künstler und IV-Empfänger, weil er seine Ex-Freundin D. monatelang gestalkt haben soll. Nachdem sie die Beziehung beendet hatte, versuchte H. immer wieder, Kontakt aufzunehmen. Im Frühling 2013 tat er dies persönlich: Er habe mitten in der Nacht die Tür ihrer Wohnung eingetreten, sie gepackt, geschlagen und mit einem Globus beworfen, hiess es in der Anzeige, die D. erstattete. Es folgten Strafbefehl und Hausverbot. Es folgten Aussprache, Rückzug der Strafanträge und Einstellungsverfügung.
Und so knüpfte man an die schönen Zeiten an, versuchte es nochmals mit der Liebe. Das Glück hielt einige Wochen, dann hatte die Frau abermals genug. Sie fand, sie müsse ihn vergessen. H. fand das nicht und schickte ihr fast hundert E-Mails. Nannte sie «Psychopathin», «charakterloses feiges Ding», «fuzz dummi Sau» und «miese uneinsichtige Borderline-Schlampe». Er beschenkte und beleidigte sie, lungerte in ihrem Treppenhaus herum, lief in ihre Wohnung, spähte ihren neuen Freund aus. Inzwischen gibt es längst ein gerichtliches Kontaktverbot: H. darf ihr nicht näher als dreissig Meter kommen, darf sie nicht anrufen, nicht schreiben, nicht reden. Er tut es trotzdem. Gemäss Anklageschrift hat er versucht, seine Ex-Freundin mit einem Smart anzufahren, hat sie mit einem Holzscheit auf der Strasse angegriffen, geohrfeigt.
In dieser Zeit wechselt D. mehrfach ihre Handynummer, kündigt ihre Stelle, weil er am gleichen Ort arbeitet, lässt sich in eine psychiatrische Klinik einweisen, zieht zu Freunden und später nach Griechenland. H. hinterlässt Musik-CDs bei ihrer Mutter, schickt ihrem Psychiater ungefragt seine eigene medizinische Diagnose und spricht mit ihren Freunden. Erzählt ihnen, er könnte gewalttätig werden, überlege, sich eine Waffe zu kaufen. Und er schreibt D., sie solle sich einen Gefallen tun und sich die Kugel geben.
Das St. Galler Kreisgericht verurteilte ihn im November 2016 zu 14 Monaten bedingter Freiheitsstrafe, einer bedingten Geldstrafe von 2100 Franken und einer Busse. Verurteilt wurde er unter anderem wegen versuchter schwerer Körperverletzung, weil er sie mit dem Auto habe anfahren wollen. Nur mit viel Glück habe D. rechtzeitig zur Seite springen können. Eigentlich nur wegen Letzterem habe H. rekurriert, erklärt sein amtlicher Verteidiger, der aber auch die übrigen Anklagepunkte infrage stellen wird. «Wie Sie sehen, geht es meinem Mandanten gar nicht gut», sagt er. Das Verhalten seiner Ex-Freundin habe ihn getroffen, denn auch sie habe mit markigen Ausdrücken nicht hinter dem Busch gehalten. «Die derbe Sprache war zwischen den Beschuldigten gang und gäbe», so der Verteidiger: Es habe auf beiden Seiten elektronische Unhöflichkeiten gegeben. Aus reiner Fürsorglichkeit habe sein Mandant «übertrieben bevormundende, auch zotig wirkende Voten» geäussert. Dem Opfer sei es denn auch materiell sehr zupassgekommen, dass sie mit dem Beschuldigten weiter gestritten habe: «Weil sich so ihre Chancen auf eine IV-Rente erhöhten.» Er könne allerhöchstens eine Drohung erkennen, sagt der Verteidiger, sicher keine Nötigung. Weil es in der Schweiz den Tatbestand des Stalkings nicht gibt, lautet die Anklage meist auf Nötigung, kombiniert mit Hausfriedensbruch, Missbrauch einer Fernmeldeanlage und übler Nachrede.
Sein Verteidiger ist noch mitten in seinem Plädoyer, als H. einfach aufsteht und den Gerichtssaal verlassen will. Was das solle, fragt das Gericht. «Toilette», murmelt er. Jetzt wird der Gerichtspräsident laut: «Sie benehmen sich anständig. Haben Sie das verstanden? Sie fragen mich, bevor Sie gehen.» Der Verteidiger macht jetzt schnell, er verlangt Freisprüche und eine Aufhebung des Rayonverbots. Dann darf H. austreten. Er knallt den Stuhl hin, geht raus. Drei Minuten lang herrscht betretenes Schweigen im Saal. Er kommt zurück, sitzt nicht ab. Fragt: «Darf ich jetzt gehen?» – «Grundsätzlich nein, aber ich bin nicht an einer Eskalation interessiert. Sie sind schon aufgebracht hereingekommen», antwortet der Richter. «Stimmt nicht, ich war zu spät, nicht aufgebracht.» Der Richter bleibt dabei: «Sie waren zu spät und aufgebracht.» Für H. ist das wohl ein weiterer Beleg dafür, dass alle gegen ihn sind. Er sagt trotzdem: «Besten Dank für Ihr Verständnis», und verlässt den Saal.
«Ein bisschen lästig und nervig sein reicht nicht für eine Strafe. Das ist so», sagt jetzt der Staatsanwalt. «Aber H. war nicht nur ein bisschen nervig und ein bisschen lästig.» Davon zeugten die 12 Seiten der Anklageschrift, die 58 Seiten Urteil des Kreisgerichts und dass H. nicht einmal durch gerichtliche Anordnung von seiner Ex-Freundin abgelassen habe. «Es hätte ihm klar sein müssen, dass D. keinen Kontakt wünscht», sagt der Staatsanwalt: «Er hat ihr massiv mit ernsthaften Nachteilen gedroht, und die Frau hat sich entsprechend verhalten. Sie ging nicht mehr raus, hatte Angst. Das ist der Nötigungserfolg.» Der Staatsanwalt verlangt eine Erhöhung der Strafe und der Busse.
Das Kantonsgericht ist milder. Es spricht H. von der versuchten schweren Körperverletzung und von einem Teil der Nötigungsvorwürfe frei. Das Urteil, das noch nicht rechtskräftig ist, sieht keine Freiheitsstrafe mehr vor. Es lautet auf eine bedingte Geldstrafe von 7200 Franken mit einer Probezeit von vier Jahren, eine Busse und ein vierjähriges Kontaktverbot mit D.
Illustration Friederike Hantel