«Schriftsteller ist ein Luxusberuf»

Er schreibe, weil er es nicht könne, sagt Peter Bichsel, Grand Old Man der Schweizer Literatur.

Von Sieglinde Geisel (Interview) und Helmut Wachter (Fotos), 10.05.2018

Teilen0 Beiträge
s/w Portrait von Peter Bichsel
Vom Leben eines Blinden oder eines Gehörlosen habe er eine ungefähre Vorstellung, nicht aber vom Leben eines Analphabeten, sagt Peter Bichsel.

Peter Bichsel ist einer, der sich nicht hetzen lässt. Er nimmt sich Zeit mit seinen Antworten – und sagt dann oft etwas, was man nicht erwartet hat. Also der Idealfall von Gespräch. Das Interview gibt der 83-jährige Schriftsteller in seinem Arbeitszimmer in der Solothurner Altstadt, einem gemütlichen Raum mit Büchern, Bildern, Sofa und Schreibtisch.

Ursprünglich war Peter Bichsel Primarlehrer. In den Sechzigerjahren begann er zu schreiben: «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» erschien 1964, «Kindergeschichten» 1969 – es war sein erfolgreichstes Buch, mit dem ganze Generationen von Schweizern aufgewachsen sind. Peter Bichsel ist ein Meister der modernen Prosa: In «Die Jahreszeiten» (1967) und «Cherubin Hammer und Cherubin Hammer» (1999) etwa macht er das Erzählen selbst zum Thema und erfindet seine Figuren vor den Augen des Lesers. Zugleich ist er ein politisch engagierter Autor: als Redenschreiber (1974 bis 1981) von Bundesrat Willi Ritschard und während fast vierzig Jahren mit seinen Kolumnen – bis Ende 2014.

Herr Bichsel, Sie haben sich 2014 mit einer letzten Kolumne von Ihren Lesern verabschiedet. Schreiben Sie wirklich nicht mehr?
Nur noch, was mir abverlangt wird. Vorwörter, Nachwörter.

Ich habe gerade Ihre Kolumnen wieder gelesen und den Eindruck gewonnen, dass Sie durch das Schreiben denken, dass Ihre Gedanken aus der Sprache erwachsen.
Jedes andere Schreiben interessiert mich nicht. Wenn in einer Kolumne genau das drinstand, was ich schreiben wollte, habe ich sie weggeworfen, ohne sie noch einmal zu lesen. Wirklich weggeworfen, zerrissen, auf dem Computer gelöscht und im Papierkorb auch gelöscht. Eine Kolumne musste mich selbst überraschen und insofern dem mündlichen Erzählen gleichen, wo ja auch aus jedem Satz der nächste entsteht, wo man zum Schluss erschrickt, weil man plötzlich noch etwas dazugelogen hat, was gar nicht nötig gewesen wäre, was die Geschichte weder verbessert noch verschlechtert. Das ist der Lauf des mündlichen Erzählens.

Waren Sie am Ende einer Kolumne jeweils klüger als vorher?
Selbstverständlich nicht! Aber ich habe mich gefreut, wenn mir eine Kurve gelungen ist. Wenn es mich selbst überrascht, könnte es ja auch einen Leser oder eine Leserin überraschen. Ich erzähle zuerst eine Geschichte, und zwar eine ganz andere, und komme dann erst auf die Sache. Bloss nicht mit der Tür ins Haus fallen, bloss nicht mit der Sache beginnen.

Die unvermeidliche Frage: Fehlt Ihnen das Schreiben?
Ich war nie ein leidenschaftlicher Schreiber, obwohl es mir Spass machte, wenn mir etwas gelang. Ich habe gespürt, dass ich in so ein Altersgeleiere komme, und das wollte ich vermeiden. Ich bin nicht mehr oft hier in meinem Arbeitszimmer in Solothurn. Es ist mein Heimatmuseum. Ein teurer Luxus, aber ich brauche den Arbeitsweg von Bellach nach Solothurn. Sie sitzen gerade unter der Pfeife von Max Frisch. Der würde sich ärgern, wenn er seine Pfeife an meiner Wand sähe! Die Artemis-Ausgabe von Goethe – die grünen Bände da oben auf dem Regal – habe ich mir damals in der Bibliothek ausgeliehen. Mit zwölf hatte ich sie alle gelesen, zwei Bände pro Woche. Ich habe Buchstaben in mich hineingefressen in dieser mir völlig unverständlichen Welt. Alle Leseförderung geht ja davon aus, dass Kinder dann lesen, wenn sie es verstehen. Ich bin überzeugt, dass das ein Irrtum ist: Kinder lesen, weil sie es nicht verstehen. Alle wirklichen Leser sind buchstabensüchtige Menschen. Natürlich ist es kein Schaden, wenn der Inhalt spannend ist, aber darum geht es nicht. Jean Paul gibt mir immer noch einen Hauch von diesem Erlebnis des Nicht-Verstehens. Man muss ihm zuhören, darf ihn nicht unterbrechen, nicht hinten bei den Anmerkungen nachschauen. Nur zuhören. Einen guten Erzähler unterbricht man ja auch nicht.

Worin besteht der Gewinn des Nicht-Verstehens?
Man betritt eine alternative Welt. Und all diese alternativen Welten haben etwas miteinander gemein: Sie sind tröstlich. Leider hat das immer etwas Tröstliches.

Warum leider?
Weil die Absicht eine andere ist. Literatur will aufrütteln, uns erschüttern. Doch dann zeigt sie uns das Leben in einer alternativen Welt. Nicht einmal eine Fotografie kann die Wirklichkeit wiedergeben. In meinem Arbeitszimmer war früher eine fürchterliche Sauordnung. Meine Frau war nicht oft hier, und als ich ihr eine Fotografie davon zeigte, sagte sie: «Warum schimpfst du immer über die Sauordnung? Dein Arbeitszimmer ist doch schön aufgeräumt.» Die Fotografie räumt auf. Ein Regisseur hat mir einmal erzählt, dass er einen Dokumentarfilm über die Abfallhalden in Grönland drehen wollte. Diese Abfallhalden seien fürchterlich, ein Gestank über dreissig Kilometer hinweg. Im Film aber waren sie schön, sie waren farbig und sie stanken nicht. Er musste das Projekt aufgeben. So ist es auch in der Literatur: Formulieren heisst ästhetisieren, und Ästhetik hat mit Genuss zu tun.

Auch Bücher, die vom Unglück handeln, machen ihre Leser glücklich.
Ich würde nicht das Wort «glücklich» verwenden. Sie trösten uns, weil sie uns zeigen: Es gibt eine andere Welt als diese. Lesen ist auch ein Fluchtversuch, raus aus dem eigenen Mief. Auch Traurigkeit kann ein angenehmes Gefühl sein.

Sie sind kein Romancier geworden. Warum?
Wir Schweizer müssen ja sozusagen auf Lateinisch schreiben, wenn wir Hochdeutsch schreiben. Formulieren ist etwas Schriftliches. Auch wenn ich mündlich formuliere, kommen mir Buchstaben vor die Augen. Ich bin dankbar für das Verhältnis zwischen Mundart und Schriftsprache. Es wäre für mich unvorstellbar, in derselben Sprache zu schreiben, in der ich rede. Wäre ich Franzose, ich wäre nicht Schriftsteller geworden. Wenn man als Schweizer auf Hochdeutsch schreibt, hat man so eine wunderbare Distanz. Man kann mit dieser Sprache spielen, etwas konstruieren. Man bringt eine Formulierung nach der anderen zu Papier – doch auf diese Weise bringt man keinen Roman zustande. Romanciers sind in der Schweizer Literatur selten. «Der grüne Heinrich» von Gottfried Keller ist kein Roman, sondern eine geniale Sammlung von Kurzprosa. Es gibt sehr schöne Romane von Schweizerinnen und Schweizern heute, hervorragende Sachen, aber für mich ist die kurze Prosa immer drin versteckt. Eigentlich gibt es in der Schweizer Literatur nur einen einzigen wirklichen Romancier: Jeremias Gotthelf.

Und der hat wiederum so nah am Dialekt geschrieben, dass deutsche Leser vieles nicht verstehen.
Zu Gotthelfs Zeit konnten die Deutschen das noch verstehen.

Ist diese Distanz zwischen Mundart und Schriftsprache nicht auch eine Begrenzung?
Ich sehe nur Vorteile in der Doppelsprachigkeit. Es gibt ja auch eine Schweizer Mundart-Literatur, doch was mir an ihr nicht gefällt, ist das Gestelzte. Mit der Hochsprache gehen wir Schweizer beim Schreiben viel lockerer um als mit der Mundart.

Wann haben Sie entdeckt, dass es beim Erzählen nicht um den Inhalt geht, sondern um die Form?
Das habe ich nicht entdeckt, das ist einfach so. Ich habe ja als Lyriker angefangen, meinen ersten Prosatext habe ich erst mit 25 geschrieben. Zuerst waren das «normale» expressionistische Gedichte, dann habe ich konkrete Lyrik geschrieben, das wurde 1958 in der Zeitschrift «Augenblick» veröffentlicht. Der Dadaismus war mir wichtig, ich interessierte mich für moderne Kunst und Architektur. Ich träumte dann auch von der Moderne in der Literatur: dass man das herstellen kann. Schriftsteller ist ja ein Luxusberuf, abgesehen davon, dass man nicht gut verdient. Wir produzieren Literatur immer noch so, wie sie von jeher gemacht wurde, das ist der erste Luxus. Wir produzieren wie Homer, das Einzige, was sich geändert hat, sind die Schreibgeräte. Und Schriftsteller ist ein Beruf, in dem man mit Weiterbildung nicht die geringsten Chancen hat – das ist der zweite Luxus.

Eigentlich darf man das keinen Autor fragen, ich tue es trotzdem: Warum schreiben Sie?
Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: «Weil ich es kann», das hat der Faschist Gabriele D’Annunzio gesagt. Und: «Weil ich es nicht kann.» Ich schreibe, weil ich es nicht kann. Schreiben hat mit Können nichts zu tun, es ist ein andauerndes Umgehen mit dem Nicht-Können. Zu meiner Zeit als Lehrer habe ich mir die Aufsätze der sogenannten schlechten Schüler beim Korrigieren immer für zuletzt aufgehoben, weil ich mich so darauf gefreut habe. Sie schrieben die spannenderen Aufsätze als die talentierten. Sie wussten nicht, wie man «Bahnhof» schreibt, deshalb mussten sie ausweichen auf andere Wörter, und auf dem Umweg kommt man auf neue Gedanken. Der Unterschied zwischen sogenannter Literatur und Trivialliteratur ist der: Der Trivialautor ist ein Autor, der es kann. Wehe dem Autor, der es kann! Er kann die Bedürfnisse der Leser befriedigen. Ich hatte einmal eine lange Erzählung geplant. Sie handelte von einem Eskimo, und es wurde dann eine kurze Erzählung daraus, sie ist in «Zur Stadt Paris» abgedruckt. Mein Problem war: Wie bringe ich den Eskimo von Grönland über Amerika nach Solothurn? In Grönland kann ich ihn nicht beschreiben, denn Grönland kenne ich nicht. Der Trivialautor könnte das. Und den Eskimo von Grönland nach Amerika zu bringen, das ist mir zu umständlich. Der Trivialautor macht das, der bringt den Eskimo auch nach Solothurn. Die Gegner der modernen Kunst sagten immer: Kunst kommt von Können. Dann haben sie Picassos Bilder angeschaut und festgestellt, dass er nichts kann. Doch sie haben nicht recht: Kunst kommt von Künstlichkeit. Der Trivialliteratur fehlt die Künstlichkeit. Da ist alles eins zu eins, oder wie es im Fernsehen heisst, oben links, «live».

Was meinen Sie genau mit diesem «live»?
Im Fernsehen ist alles ein Jetzt. Ich sehe das jetzt, es geschieht jetzt. Doch Erzählen beginnt mit dem wunderschönen Anfang der Brüder Grimm: Es war einmal. Die Erzählung kann nur aus der Erinnerung kommen, man muss es zur Erinnerung werden lassen. Dass alte Menschen von ihrer Kindheit und von früher erzählen, hat nichts mit Nostalgie zu tun, sondern mit dem Wissen, dass man nur aus der Erinnerung erzählen kann: «Lang, lang ists her …»

Warum brauchen wir Geschichten?
Weil wir uns unser Leben erzählen müssen. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die in Notsituationen geraten – sei es ein Sturz in die Gletscherspalte –, diese nur überstehen, indem sie beginnen, sich die Situation selbst zu erzählen. Wer in der Gletscherspalte hängt, stellt sich vor, wie er nachher davon erzählen wird, er stellt sich vor, wie er in seine Stammkneipe kommt und sagt: «Ihr glaubt es nicht, aber vor sieben Tagen habe ich noch in einer Gletscherspalte gehangen!» Wenn Literatur einen sozialen Auftrag hat, dann diesen: das Leben erzählbar zu machen.

Der Psychologe Viktor Frankl hat dieses Prinzip genutzt, um Auschwitz zu überstehen. Die Häftlinge wurden jeden Tag zum Arbeitseinsatz in den Wald getrieben, frierend und hungrig. Er stellte sich vor, wie er nach seiner Befreiung in einer Vorlesung davon erzählen würde.
Ich glaube, Erzählen ist lebensnotwendig. Aber in unserer Gesellschaft verschwindet das Erzählen. Als Journalist würde ich das Sportressort wählen. Über Fussball kann man nicht berichten, Fussball muss man erzählen. Man geht in die Beiz, und dann heisst es: «Hast du das gesehen? Der Doppelpass, und wie der Ball dann am Torpfosten abgeprallt ist! Und dann – mit Kopfschuss in die linke Ecke!» Sie erzählen einander eine Stunde lang das Gleiche. Das ist Literatur. Das ist die Bedeutung des Sports: Es ist das Letzte, von dem in der Beiz noch erzählt wird. Sonst wird am Stammtisch nur noch behauptet, und dann googelt man per Handy und kann sagen: Ich habe recht gehabt.

Was machen wir dann mit unserem Bedürfnis nach Geschichten?
Ich habe nie von einem Bedürfnis nach Geschichten gesprochen, sondern nur von ihrer Funktion. Die Frage ist: Was machen Leute in einer Notsituation, die nicht fähig sind, sich ihre eigene Geschichte zu erzählen? Ich kann mir vieles vorstellen, vom Leben eines Blinden oder eines Gehörlosen habe ich eine ungefähre Vorstellung. Was ich mir aber nicht vorstellen kann, ist das Leben eines Analphabeten. Ich habe mit vielen Analphabeten zusammengelebt, meinen Mitsäufern in der Beiz. Die haben zwar in der Schule lesen gelernt, aber sie haben es durch Nichtgebrauch wieder verlernt. Allerdings kann man sich da auch täuschen. Da sagt einer zu mir: «Bulgakow, kennst du das?» Ich: «Ja.» Er: «‹Meister und Margarita›, das ist ein wunderbares Buch.» Ich: «Wie kommst du zu diesem Buch?» Da stellt sich heraus, dass er Bukowski kaufen wollte und in der Buchhandlung Bulgakow erwischt hatte. Und weil das Buch teuer war, musste er es lesen.

Peter Bichsel an einem Tisch, vor ihm eine Espressotasse
«Dass bei uns die Schriftsteller nicht Schriftsteller heissen, sondern Schweizer Schriftsteller, das ist ein Versuch, das Unheimliche zu domestizieren»: Für Peter Bichsel hat Lesen etwas Subversives.

Warum gibt es so viele Menschen, die nicht lesen?
Wenn eine Firma eine Stelle im mittleren Management zu besetzen hat und am Schluss noch drei Bewerber übrig sind, dann werden sie gefragt, was sie in ihrer Freizeit machen. Der erste sagt: «Ich bin leidenschaftlicher Fischer, wenn ich frei habe, setze ich mich ans Wasser, werfe meine Angel aus und meditiere.» Der zweite sagt: «Ich treibe Sport, ein bisschen Joggen, Wandern, in den Ferien auch mal richtig Bergsteigen.» Der dritte sagt: «Ich lese leidenschaftlich gern, zwei bis drei Bücher die Woche.» Dieser dritte wird die Stelle nicht bekommen. Das könnte ein Träumer sein, dem fehlt womöglich der Realitätsbezug, vielleicht ist er ein Spinner oder sogar politisch engagiert.

«Lesen ist nicht nützlich, und Schreiben ist auch nicht nützlich.»

Eine Gesellschaft, die Leseförderung betreibt, übt Betrug, denn Leser kann man in dieser Gesellschaft nicht gebrauchen. Leser kommen zu spät, sie sind mit dem Kopf nicht bei der Arbeit, sondern in Russland bei Tolstoi. Lesen ist nicht nützlich, und Schreiben ist auch nicht nützlich. Wäre die Leseförderung erfolgreich, würde sie verboten, denn unser Bruttosozialprodukt würde um dreissig Prozent sinken. Lesen hat immer noch einen Hauch des Verbotenen, Gefährlichen. Dass bei uns die Schriftsteller nicht Schriftsteller heissen, sondern Schweizer Schriftsteller, das ist ein Versuch, das Unheimliche zu domestizieren. Ich hatte in Zürich vor vielen Jahren, noch bevor ich Max Frisch kennenlernte, ein Plakat gesehen: «Es liest der Schweizer Autor Max Frisch.» Es wäre völlig unvorstellbar gewesen, dass in Berlin auf einem Plakat steht: «Es liest der deutsche Autor Günter Grass.» Oder in Amerika: «der amerikanische Autor Norman Mailer».

Hat das nicht auch damit zu tun, dass die Schweiz das kleinere Land ist, quasi die Abweichung vom Normalfall der Literatur aus Deutschland? Österreich dürfte das gleiche Problem haben.
Nein, das geht schon tiefer. Ich habe das schmerzlich erfahren, als ich einmal mit This schimpfen musste, meinem kleinen Sohn. Da hat er sich vor mir aufgebaut, an mir hochgeschaut und gesagt: «Du junger Schweizer Autor, du!» Da wusste ich, was die Schweizer meinen, wenn sie ihre Autoren nicht Autoren nennen, sondern Schweizer Autoren. Schweizer Autoren sind nämlich nicht so richtige. Das sind nur Schweizer Autoren. Und dann sind ja die Autoren immer jung, solange sie leben, sind sie jung. Ich bin inzwischen ein alter Mann, aber ich bin immer noch ein junger Autor.

Von wegen – inzwischen sind Sie der Grand Old Man der Schweizer Literatur!
Ein paar Freunde bezeichnen einen dann netterweise so, jaja. Die Bezeichnung Schweizer Literatur ist auch ein Versuch der Besänftigung. Literatur ist eine Gefahr für die Gesellschaft. Auch da, wo sie nicht verboten ist, ist Literatur immer etwas Subversives, oder zumindest im Verdacht der Subversion.

Gehen Sie noch an die Solothurner Literaturtage?
Ich gehe gern an die Solothurner Literaturtage, weil ich Freunde treffe, und ich gehe dann auch an ihre Lesungen. An Lesungen von Debütanten gehe ich eigentlich nicht mehr. Es drückt mir das Herz ab. Es sind so wahnsinnige Hoffnungen dabei. Einer darf vorlesen, eine Viertelstunde lang, an den Solothurner Literaturtagen, und hat das Gefühl: Ich habs geschafft. Inzwischen gibt es so viele Gescheiterte, auch hoch talentierte Gescheiterte, das gab es vor fünfzig Jahren noch nicht. Ein Lyriker hat überhaupt keine Chance mehr. Es ist ein gefährlicher Beruf, es hat auch Todesopfer gegeben. Es werden keine Bücher mehr gekauft, es gibt kaum mehr literarische Buchhandlungen, selbst bekannte Autoren können vom Verkauf ihrer Bücher nicht mehr leben. Und trotzdem hat das Buch immer noch diesen Ruf des Grossartigen. Dabei hat noch kein einziges Buch die Welt verändert. Nicht mal die Bibel.

Solothurner Literaturtage

Zum 40. Mal finden vom 11. bis 13. Mai 2018 die Solothurner Literaturtage statt. Feierliche Eröffnung ist, wie es die Tradition will, am Abend des Auffahrtsdonnerstags. Seit den Zeiten, als Peter Bichsel zusammen mit anderen die Initiative zu diesem Rendezvous der Schreibenden und Lesenden ergriff, hat es sich zu einem Grossanlass entwickelt. Längst treten nicht mehr ausschliesslich Autorinnen und Autoren aus der Schweiz auf, längst lesen die Geladenen nicht mehr bloss vor. Die Literaturtage haben sich internationalisiert, und das Spektrum der Veranstaltungen wird jedes Jahr grösser. Die Spoken-Word-Formation «Bern ist überall» zeigt sich heuer anlässlich des Projekts «Kosovë is everywhere» globalisiert. Dichterinnen und Dichter lassen sich während Poesiesalons in die lyrischen Karten schauen. Und da viele Sprachen vertreten sind, diskutieren Übersetzerinnen und Übersetzer ihre Arbeit vor und mit dem Publikum. Für die Kinder ist ebenfalls gesorgt, dank Workshops, einer Familien-Matinée und Kamishibai-Bildtheater (was das ist, erfahren Sie vor Ort).
Alle Infos hier.

Sie denken, es wäre die gleiche Welt, wenn es die Bibel nie gegeben hätte?
Nicht genau die gleiche, aber eine ähnliche.

Es wäre die gleiche Schweiz, wenn Max Frisch keine Bücher geschrieben hätte?
Davon bin ich überzeugt. Mit einer Ausnahme: Frisch hat Leute, die sich um seine Zitate geschart haben, solidarisiert und eine Schweizer Literaturszene geschaffen, ob willentlich oder unwillentlich. Nicht die Welt verändert, aber Welten schon.

Das würde heissen, dass Lesen etwas mit den Lesern macht.
Ich möchte nicht wissen, was. Dass Leser etwas miteinander zu tun haben, ist Teil dieser Subversion, denn Lesen verbindet. Leser sind eine kleine Sekte. Ein Leser ist einer, der hingeht, wenn er auf der anderen Seite der Strasse im Schaufenster einen kleinen Zettel kleben sieht, und diesen Zettel liest. Das Geschäft interessiert ihn nicht, aber er muss diesen Zettel lesen. Und dann steht drauf: «Heute geschlossen.» Der schönste Zettel, den ich auf diese Weise gelesen habe, hing in Solothurn an der Tür eines Teppichhändlers, der hiess Held. «Bin beim Blutspenden, Held.»

Das ist schon eine ganze Geschichte, in einem einzigen Satz.
Eben. Die Suche nach einer Geschichte zwingt mich, über die Strasse zu gehen und diesen Zettel zu lesen. So ein Zettel könnte eine Geschichte sein.

Es heisst, in Diktaturen werde mehr gelesen. Man sprach vom Leseland DDR.
Und als das erste Steinchen aus der Mauer fiel, war es mit diesem Leseland aus und vorbei. Ich hatte kurz nach der Wende eine Lesung in Leipzig, da kamen 20 Leute. Der Veranstalter sagte mir: «Hätte die Veranstaltung vor einem Jahr stattgefunden, wären 500 gekommen.» Ich möchte das nicht kommentieren. Man kann sich nicht schlechte Zeiten wünschen, damit es mehr Leser gibt.

Lesen macht die Menschen nicht besser – aber es macht etwas mit uns, sonst würden wir es ja nicht tun.
Der erste Teil Ihres Satzes stimmt, lesen macht die Menschen nicht besser. Aber der zweite Teil stimmt nicht: Man würde es auch so tun. Es ist nicht wahr, dass die Golfspieler Golf spielen, weil es ihnen guttut. Sondern sie tun es halt. Vielleicht finden sie hinterher, sie müssten noch eine Begründung finden: Ich entspanne mich dabei, ich bin im Freien, ich bewege mich – jaja, alles in Ordnung. Aber sie haben nicht deshalb angefangen.

Dann gibt es fürs Lesen also keinen Grund?
Es gibt keinen Grund, nein. Ein Freund hat mich einmal gebeten, ihm eine Liste zu machen mit Büchern, die er lesen soll. Die hätte er gelesen, um in Gesellschaft sagen zu können: «Wieland hat doch in den ‹Abderiten› geschrieben …» Ich habe gesagt: «Nein, das mache ich nicht. Wenn du das Gefühl hast, du müsstest lesen, dann fang halt an.» Es liegt mir fern, jemanden zum Lesen zu überreden. Es ist zeitaufwendig, man braucht sehr viel Geduld mit diesem Autor. Schreiben ist eine Art des Erzählens, und Lesen ist eine Art des Zuhörens.

George Steiner sagt: «Lesen heisst antworten.»
Das ist mir zu brutal. Leo Tolstoi ist ja mein Vertrauter. Wenn ich «Anna Karenina» lese, bin ich völlig abgehoben, ich weiss nicht, wo ich sitze, aber bei aller Abgehobenheit weiss ich: Ich lese Tolstoi. Er erzählt mir diese Geschichte. Und unter den Hunderten von Personen, die im Roman vorkommen, sind wir zwei die einzigen, die diese Welt beherrschen. Wir sind die zwei einzigen Gerechten, Leo und ich. Natürlich sprechen wir im Grund genommen miteinander, aber «antworten» ist mir zu hart. Man könnte sagen: Wer zuhört, bleibt im Gespräch.

Zur Autorin

Sieglinde Geisel, Kulturjournalistin und Buchautorin in Berlin, ist Gründerin und Leiterin von «tell» – Online-Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft. Das von der Republik publizierte Interview ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Gesprächsband mit Peter Bichsel, «Was wäre, wenn?», der im Herbst 2018 im neu gegründeten Kampa-Verlag erscheint.