Am Gericht

Wer entscheidet, wer Recht spricht?

Eine Angestellte bringt den Chef in Bedrängnis. Er hat ihr ein schlüpfriges Angebot gemacht, sie hat ihn gefilmt. Nun will er sie dafür auf die Anklagebank bringen. Doch zuerst geht es um die Frage, wie man eine Richterbank korrekt besetzt.

Von Markus Felber, 09.05.2018

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Ort: Bundesgericht Lausanne
Zeit: 5. Januar 2018
Urteilsreferenz: 6B_1356/2016
Thema: Einstellung eines Verfahrens wegen Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch ein Aufnahmegerät

Das Verhältnis zwischen dem Vorgesetzten und seiner Mitarbeiterin war schon besser. Das Freiburger Kantonsgericht erwähnt in seinem Urteil gar eine sexuelle Beziehung zwischen den beiden. Später droht der Chef der Angestellten dann aber mit Kündigung, weil er mit ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden sei. Er rät ihr, sich eine neue Stelle zu suchen.

Als sie kurze Zeit später, obwohl krankgeschrieben, zu einer dringlichen Besprechung aufgeboten wird, will die Frau sich vorsehen. Um sich gegen die befürchtete Kündigung wehren zu können, zeichnet sie das Treffen mit einer Kamera auf. Diese Videosequenz dokumentiert einen recht ungewöhnlichen Vorschlag des Vorgesetzten: Die Frau könne ihre Stelle behalten, wenn sie sich drei- bis viermal im Jahr gegen Bezahlung sexuell mit ihm einlasse, so das Angebot des Chefs.

Die Betroffene zeigt Auszüge des Videos der Personalabteilung, woraufhin ihr Vorgesetzter entlassen wird. Der wiederum verklagt seine ehemalige Mitarbeiterin nach dem Streit. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg verurteilt die Frau dann auch wegen Beschimpfung. Das ebenfalls geführte Verfahren wegen übler Nachrede oder Verleumdung hingegen wird sistiert, dasjenige wegen Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte sogar eingestellt – weil die Frau in einer rechtfertigenden Notstandssituation gehandelt habe.

Diese Verfahrenseinstellung will der Ex-Chef beim Bundesgericht anfechten, doch fährt sein Anwalt in Lausanne zunächst ganz andere Geschütze auf: Er will vorweg erfahren, welche Richter in der Angelegenheit über den Fall befinden werden, und beanstandet es generell als gesetzwidrig, wie die höchste Richterbank der Schweiz im Einzelfall besetzt wird.

Damit legt der Anwalt seinen Finger auf eine wunde Stelle im Fleisch der helvetischen Justiz. Denn die Spruchkörperbestellung – Juristendeutsch für die Besetzung der Richterbank – erfolgt hierzulande noch weitgehend hemdsärmelig: Der Abteilungspräsident sucht sich mehr oder weniger aus, wer mit ihm zusammen den Fall beurteilen wird. Das aber ist problematisch, weil auf diese Weise der Ausgang des Verfahrens beeinflusst werden kann (und ab und zu auch wird).

Da Juristerei keine präzise Wissenschaft ist und mehrere Juristen dasselbe Thema meist sehr kontrovers angehen, hängt der Ausgang eines Prozesses tatsächlich nicht unwesentlich davon ab, welche drei oder fünf Richter sich den Fall vornehmen. Und genau darum darf die Besetzung der Richterbank im Einzelfall nicht von Menschen beeinflusst werden. So fordert es jedenfalls die Rechtslehre, und so wird es in den meisten Rechtsstaaten gehandhabt. In der Schweiz allerdings bestimmen nach wie vor vielerorts die Kammerpräsidenten ziemlich eigenmächtig, wer links und rechts neben ihnen auf der Richterbank sitzt und mitentscheidet.

Als Begründung wird geltend gemacht, so könnten Sprache, Spezialgebiete sowie Arbeitsbelastung der einzelnen Richter berücksichtigt und überdies Doppelspurigkeiten vermieden werden. Das sind praktische Argumente, die durchaus etwas für sich haben. Umgekehrt gilt aber auch, was vor geraumer Zeit schon ein Abteilungspräsident im Bundesgericht hinter vorgehaltener Hand verschmitzt zum Autor sagte: «Ich weiss doch ganz genau, wer den Urteilsentwurf in meinem Sinne schreibt, und einen Dritten, der zustimmt, finde ich auch.»

Das mit der Auswahl des dritten (und allenfalls vierten und fünften) Richters trifft allerdings am Bundesgericht heute nicht mehr zu. Eigenhändig auswählen darf der Kammerpräsident zwar weiterhin die Schlüsselfigur des Referenten, der das Dossier vorbereitet und einen Urteilsvorschlag ausarbeiten lässt. Wer darüber hinaus am Entscheid mitwirkt, das bestimmt seit 2013 die EDV-Applikation CompCour. Sie berücksichtigt zwar Sprache, Spezialgebiete oder Arbeitsbelastung der Richter, überlässt die Zuteilung im Übrigen aber dem unbestechlichen Zufallsgenerator. Das alles wird im Urteil aus Lausanne dem Anwalt vorweg in einer gesonderten Erwägung erläutert. Sie soll in die amtliche Sammlung der höchstrichterlichen Leitentscheide aufgenommen werden.

Dabei ist dem Bundesgericht offensichtlich bewusst, dass die Richterbank aufgrund der nur beschränkten Wirkung von CompCour weiterhin teilweise manipulativ besetzt werden kann. Der Kritik in der Rechtslehre wird im Urteil die eigene Rechtsprechung sowie die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegengehalten. Danach verbiete weder die Bundesverfassung noch die Europäische Menschenrechtskonvention eine aktive (nicht bloss auf Zufall basierende) Besetzung des Spruchkörpers, solange diese gesetzlich geregelt sei und auf sachlichen Kriterien beruhe.

Ob diese Argumentation die zunehmend lauter vorgetragenen Bedenken zu zerstreuen vermag, bleibt abzuwarten. Immer häufiger wird zurzeit in Beschwerden ans Bundesgericht gefordert, dass auch in der Schweiz die Richterbänke ohne jedes menschliche Zutun besetzt werden. So musste das höchste Gericht unlängst im gleichen Urteil sowohl seine eigene Praxis als auch diejenige des Kantons Bern verteidigen. Die neue Regelung des Strafgerichts des Kantons Basel-Stadt hob das Bundesgericht hingegen mit sofortiger Wirkung auf. Sie hatte die Bestellung des Spruchkörpers ohne feste Kriterien ins freie Ermessen der Kanzlei gelegt. In einem weiteren Verfahren schliesslich, in dem die rechtmässige Besetzung der höchsten Richterbank in Zweifel gezogen wurde, auferlegte das Bundesgericht die Gerichtskosten nicht wie üblich dem Klienten, sondern ausnahmsweise dem Anwalt persönlich.

Solche Anzeichen wachsender Nervosität in Lausanne dürften darauf zurückgehen, dass die EDV-Applikation CompCour das Kernproblem nicht zu entschärfen vermag. Da über 99 Prozent aller Entscheide des Bundesgerichts einstimmig zustande kommen, ist in sehr vielen Fällen gar nicht relevant, welche Mitrichter das System auf die Richterbank beordert.

Die entscheidende Weichenstellung erfolgt bei der Ausarbeitung des Urteilsentwurfs durch den Referenten. Und bei dessen Auswahl hat der Präsident weiterhin erheblich Manipulationsspielraum. Ob und wie häufig der tatsächlich missbraucht wird, ist zweitrangig. Schädlich für das Vertrauen in die Justiz ist, dass der Ausgang des Verfahrens vorbestimmt werden kann – ob das nun im konkreten Einzelfall geschieht oder nicht.

Auch im Falle des heimlich aufgezeichneten Personalgesprächs delikaten Inhalts erwies sich die vom Anwalt des entlassenen Vorgesetzten massiv gerügte Besetzung der Richterbank in Lausanne nicht als nachteilig. Die Beschwerde wurde gutgeheissen, das Verfahren wegen Verletzung des Geheim- oder Privatbereichs durch Aufnahmegeräte gegen die Frau muss wieder aufgenommen werden. Die Freiburger Justiz wird im Entscheid aus Lausanne genüsslich darauf hingewiesen, dass von rechtfertigendem Notstand keine Rede sein könne. Die vom Chef in Aussicht genommene Kündigung sei völlig legal und bedürfe keiner Begründung. Daher leuchtet dem Bundesgericht nicht ein, wie die Angestellte ihre Entlassung mit der widerrechtlich erstellten Videoaufnahme hätte verhindern wollen. Das gelte selbst dann, wenn die Kündigung missbräuchlich und daher zivilrechtlich anfechtbar wäre.

Das Verhalten der beschuldigten Frau erscheint nicht klarerweise als straflos und ein Freispruch keineswegs als sehr wahrscheinlich. Deshalb muss die Staatsanwaltschaft Anklage erheben – und den Entscheid dem Gericht überlassen.

Illustration Friederike Hantel