Vollgeld für Nerds
Warum wir uns bei der Geldreform keinen Illusionen hingeben sollten: Ein Erklärstück zur Initiative für Fortgeschrittene.
Von Simon Schmid (Text) und Adam Higton (Illustration), 09.05.2018
Sie haben bereits eine Idee davon, was die Vollgeld-Initiative will – und haben eventuell unsern Dummy-Text dazu gelesen. Jetzt wollen Sie tiefer in die Materie eintauchen und sich ein Urteil darüber bilden, ob die Nationalbank mit dem neuen Geld-Arrangement zurechtkäme. Dann ist dieser Text für Sie.
Der Streit
Die Befürworter der Vollgeld-Initiative fühlen sich schlecht behandelt. Kürzlich haben sie beim Kanton Aargau Abstimmungsbeschwerde eingereicht: Der Bundesrat (im Abstimmungsbüchlein) und die Nationalbank (in ihrem Argumentarium gegen die Vorlage) würden die Stimmbürger in die Irre führen. Sie würden Fehlinformationen zur Vollgeld-Initiative verbreiten.
Stein des Anstosses ist (unter anderem) die folgende Passage, in der es um die Art und Weise geht, wie im Vollgeld-System Geld in Umlauf gebracht wird:
Im Initiativtext steht dazu: Die Nationalbank bringt «neu geschaffenes Geld schuldfrei in Umlauf, und zwar über den Bund oder über die Kantone oder indem sie es direkt den Bürgerinnen und Bürgern zuteilt. Sie kann den Banken befristete Darlehen gewähren.»
Bei der Einleitung im Bundesbüchlein heisst es: Die SNB soll «Geld ‹schuldfrei› in Umlauf bringen, also ohne Gegenleistung, indem sie es direkt an den Bund, die Kantone oder die Bevölkerung verteilt».
Es geht um den letzten Satz im Initiativtext, zu den Darlehen an Banken.
Er fehlt im Bundesbüchlein. Für die Initianten kommt dies einem Betrug gleich. Sie legen Wert darauf, dass die SNB im Vollgeld-System nicht nur Geld «schuldfrei» (also gratis) in die Wirtschaft bringen könnte, sondern auch über ein rückzahlungspflichtiges Darlehen (also nicht «schuldfrei»).
Schuldfreies Geld und/oder Bankendarlehen – ist das wirklich wichtig?
Falls es Ihnen gerade schwerfällt, nachzuvollziehen, warum die Initianten von dieser vermeintlichen Kleinigkeit solches Aufheben machen, so seien Sie beruhigt: Die Sache ist in der Tat nicht ganz leicht zu verstehen. Auch trainierte Ökonomen müssen sich gedanklich anstrengen, um die Vollgeld-Initiative bis in ihre hintersten Winkel zu durchdringen.
Doch zurück zur Geschichte mit den Bankendarlehen.
Sie ist tatsächlich nicht ganz unbedeutend. Sondern ziemlich entscheidend, wenn man es genau nimmt. Sie tangiert nämlich eine Kernfrage in der Diskussion:
Wie viel Flexibilität muss ein Geldsystem zulassen?
Die Frage wird uns über die nächsten Abschnitte begleiten, bei einem vertieften Blick auf die geldpolitischen Implikationen des Vollgelds.
Der Zweck des Geldes
Treten wir zunächst einen Schritt zurück. Was ist Geld überhaupt?
Geld ist ein Medium, so lernt man es in der Einführungsvorlesung. Es hat drei Funktionen:
Es dient als Rechen- und Vergleichseinheit (ein Kilogramm Mehl kostet 1 Franken, ein Apfel kostet 50 Rappen: Für ein Kilogramm Mehl bekomme ich also zwei Äpfel).
Es dient als Tauschmittel (ich muss nicht zwei Äpfel besitzen, um ein Kilogramm Mehl zu kaufen, es genügt, dass ich 1 Franken besitze).
Es dient zur Wertaufbewahrung (ich kann zwei Äpfel heute für 1 Franken verkaufen und das Geld ein Jahr später für ein Kilogramm Mehl ausgeben).
Wie diese Funktionen des Geldes in der Praxis zusammenspielen, hängt von der Form ab, in der wir Geld halten.
Heute tun wir dies überwiegend in der Form von Bankeinlagen. Guthaben bei einer Bank sind das Medium, über das wir die meisten Zahlungen abwickeln. Wir nutzen es auch intensiv zur Wertaufbewahrung, viel intensiver als Bargeld (je nach Definition der Geldmenge ungefähr sechs- bis zehnmal intensiver).
Bankengeld vereint die Funktionen des Geldes auf besondere Weise. Es dient einerseits als Zahlungsmittel – wir können damit Überweisungen tätigen. Es dient andererseits zur Wertaufbewahrung – ja sogar zur Wertvermehrung, da es normalerweise Zinsen abwirft.
Das ist praktisch. Und es hat einiges mit der Frage zu tun, die wir oben gestellt haben:
Wie viel Flexibilität muss ein Geldsystem zulassen?
Flexibilität bei den Banken
Damit sind wir mitten in der Diskussion.
Für Bankengeld-Besitzer spielt es keine Rolle, welches Motiv zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade überwiegt: Zahlen oder Wertaufbewahren bzw. -vermehren. Ein Guthaben auf dem Bankkonto erfüllt zu einem gewissen Grad beide Zwecke.
Bankengeld ist multifunktional – und damit per se schon ziemlich flexibel.
Vollgeld vereinigt weniger Funktionen in sich. Es trennt die beiden Bereiche des Zahlens und des Sparens.
Die Vollgeld-Initiative will das Schweizer Bankensystem sicherer machen. Sie schreibt den Banken vor, dass sie die Sichteinlagen ihrer Kunden vollständig mit Geld der Nationalbank unterlegen müssen. Kunden benutzen für Zahlungen also nicht mehr Buchgeld der Banken, sondern Notenbankgeld. Dadurch wird die Geldschöpfung im Bankensystem unterbunden. Neu geschaffenes Geld wird allein durch die Nationalbank in Umlauf gebracht. Mehr dazu in diesem Text.
Im Vollgeld-System gäbe es nicht mehr eine Art von Bankengeld, so wie es heute der Fall ist, sondern zwei Arten von geldähnlichen Medien.
Nationalbankgeld («Franken-Chips»), das ausserhalb der Bankbilanz lagern würde. Dieses Geld würde als Zahlungsmittel dienen, aber keinen Zins abwerfen.
Sparguthaben bei der Bank, die mit Mindesthaltefristen belegt wären und sich damit nicht als Zahlungsmittel eignen. Diese Guthaben würden zur Wertvermehrung verwendet.
Das Vollgeld-System bietet deshalb weniger Flexibilität als das heutige Geldsystem.
Aufbau einer Bankbilanz
heute
mit Vollgeld
Zahl-Bereich
Bank
Vermögen
Schulden
Vermögen
Schulden
Vollgeld im
Kundenbesitz
Guthaben
bei der SNB
Giro-Guthaben
bei der SNB
Einlagen
der Kunden
Spar-Bereich
Vermögen
Schulden
Sparguthaben
der Kunden
Kredite an Firmen
und Hypotheken
Kredite an Firmen
und Hypotheken
Eigenkapital
der Aktionäre
Eigenkapital
der Aktionäre
Aufbau einer Bankbilanz
heute
Bank
Vermögen
Schulden
Giro-Guthaben
bei der SNB
Einlagen
der Kunden
Eigenkapital
der Aktionäre
Kredite an Firmen
und Hypotheken
mit Vollgeld
Zahl-Bereich
Vermögen
Schulden
Vollgeld im
Kundenbesitz
Guthaben
bei der SNB
Spar-Bereich
Vermögen
Schulden
Sparguthaben
der Kunden
Kredite an Firmen
und Hypotheken
Eigenkapital
der Aktionäre
Man kann sich dies vor Augen führen, wenn man durchdenkt, wie eine Umschichtung zwischen den beiden Bereichen – zwischen dem Zahl- und dem Spar-Bereich – in beiden Systemen abliefe.
Im aktuellen System läuft diese Umschichtung relativ reibungslos ab.
Will ein Kunde zu einem bestimmten Zeitpunkt lieber mehr Zahl-Geld und weniger Spar-Geld halten, so spielt das für die Bank praktisch keine Rolle – das Geld befindet sich am selben Ort. (Eine interne Umbuchung vom Spar- auf das Zahlungsverkehrskonto des Kunden genügt, um dessen Wunsch nachzukommen.)
Beim Vollgeld wird die Angelegenheit etwas komplizierter.
Will ein Kunde lieber etwas weniger Sparguthaben besitzen und dafür etwas mehr Nationalbankgeld halten, so kann die Bank das nicht ohne weiteres intern regeln. Das geht nur, wenn die Bank zufälligerweise einen anderen Kunden findet, der grade das umgekehrte Bedürfnis hat – also einen Kunden, der Nationalbankgeld hergeben will, um dafür mehr Sparguthaben zu halten.
Findet sich kein solcher Kunde (auch nicht indirekt auf Vermittlung einer anderen Bank), muss die Bank einen Teil der Wertpapiere, in denen das Sparguthaben des Kunden steckt, liquidieren. Das heisst, sie muss entweder die Wertpapiere auf dem Finanzmarkt verkaufen, um den Kunden in SNB-Geld auszuzahlen. Oder sie muss die Kredite von anderen Hypothekar- oder Firmenkunden zurückfordern, deren Projekte mit den Sparguthaben finanziert wurden.
Wie gesagt, Vollgeld ist weniger flexibel als unser heutiges Geld.
Warum betonen wir diesen Punkt?
Weil diese fehlende Flexibilität beim Vollgeld in gewissen Situationen zu einem grösseren Problem werden könnte. Nämlich dann, wenn sehr viele Kunden gleichzeitig dieselbe Umschichtung vornehmen wollten – und etwa statt Sparguthaben lieber etwas mehr Nationalbankengeld halten.
In diesem Fall würde ein «reines» Vollgeld-System rasch an Grenzen stossen.
Die Ökonomen Martin Sauber und Benedikt Weihmayr gehen auf dieses Problem in einem Aufsatz ein. Sie beschreiben darin, wie die Notenbank in einer solchen Situation gefordert wäre: Würde das Publikum aus irgendeinem Grund (zum Beispiel, weil sich die Konjunkturaussichten verschlechtern) plötzlich in Notenbankgeld umschichten wollen, so müsste die Notenbank erstens dieses Geld unverzüglich bereitstellen. Und sie müsste zweitens den Banken mit Krediten unter die Arme greifen, damit die Banken ihre Wertpapiere und Anlagen nicht verkaufen müssten. Ohne diesen Eingriff käme es zu Wertpapierverkäufen und zu Börsenturbulenzen.
Das Gedankenspiel zeigt, dass Flexibilität und Finanzstabilität miteinander in Zusammenhang stehen. Ein gewisses Mass an Flexibilität (seitens der Banken und auch der Notenbanken) hilft, das Finanzsystem zu stabilisieren. Es dämpft automatisch gewisse Schwankungen der Zinsen und Aktienkurse.
Und damit zurück zur Abstimmungsbeschwerde der Initianten.
Worum ging es dabei nochmals?
Ach ja, um die befristeten Darlehen der Nationalbank an Banken.
Wie nun klar ist, wäre es stabilitätspolitisch wohl ziemlich wichtig, dass die SNB auch in einem Vollgeld-System solche Darlehen vergeben könnte. Dass die Initianten auf diesem Punkt so herumreiten, ist also kein Zufall. Denn ein «reines» Vollgeld-System – ohne Notenbankkredite – könnte die Flexibilität kaum gewährleisten, die es im Finanzsystem braucht.
Bleiben wir noch etwas beim Thema.
Und bei der Frage, wie elastisch ein Geldsystem eigentlich in Bezug auf die Menge des Geldes sein muss, das in einer Volkswirtschaft zirkuliert.
Geldmenge und Zinsen
Machen wir dazu einen kleinen Exkurs.
Volkswirtschaften, so dachten Ökonomen lange, würden ein bisschen wie Motoren funktionieren. Alles, was sie zum reibungslosen Laufen brauchen würden, sei eine gewisse Menge an Schmiermittel. Also an Geld.
Milton Friedman war ein Vordenker der Schule, die sich die Wirtschaft so vorstellte. Und vereinfacht gesagt annahm: Wenn eine Wirtschaft in einem bestimmten Jahr um 2 Prozent wächst, so wäre es das Beste, wenn auch die Geldmenge in diesem Jahr um 2 Prozent wüchse.
Die Idee, das Geld und die Wirtschaft nach einer solchen Faustregel zu regulieren, ist als Monetarismus bekannt. Notenbanken versuchten nach dem Ende der Bretton-Woods-Ordnung in den frühen 1970er-Jahren, diese Idee umzusetzen und die Menge an Geld, die als Banknoten sowie auf den Bankkonten der Wirtschaftsteilnehmer im Umlauf war, um bestimmte Prozentsätze jährlich wachsen zu lassen.
Während der 1980er- und 1990er-Jahre, als die Informatik im Bankenwesen Einzug hielt und in der Finanzwelt immer ausgefeiltere Technologien zum Einsatz kamen, wurde allerdings klar, dass dieses Vorgehen nicht zielführend war. Was auch immer die Notenbanken mit der Geldmenge anstellten: Die Wirtschaft reagierte selten so, wie die Notenbanker gedacht hatten.
Und so stellten die Notenbanken ihre Politik um.
Statt der Geldmenge achteten sie fortan auf die Zinsen: Diese sollten den Ausschlag darüber geben, ob Firmen und Haushalte lieber sparen oder lieber investieren und ihr Geld ausgeben würden.
Sinnbildlich für den Paradigmenwechsel steht der Name von John B. Taylor. Der US-Ökonom stellte Ende der 1980er-Jahre eine berühmte Zinsregel auf. Sie beschrieb, nach welchen Kriterien eine Notenbank die Leitzinsen setzen sollte. Taylor wies nach, dass Notenbanken wie die Federal Reserve eigentlich (und möglicherweise unbewusst) schon lange nach dieser Regel gehandelt hatten – selbst wenn offiziell stets die Geldmenge im Vordergrund stand.
Die Zinssteuerung setzte sich in der Geldpolitik durch.
Und die Geldmengensteuerung trat in den Hintergrund. Notenbanken gaben nicht mehr vor, wie stark die Geldmenge wachsen sollte – sondern sie gingen davon aus, dass die Firmen, Haushalte und Banken bei einem vorgegebenen Zinssatz selbst so viel (Banken-)Geld schöpfen würden, wie aus Sicht der gesamten Volkswirtschaft nötig wäre.
Ökonomen betrachteten das Geld also nicht mehr als Schmiermittel.
Sondern quasi als Sauerstoff, der übers Bankensystem ein- und wieder ausgeatmet wird. Je nach Konjunkturlage wäre die Bankenlunge mehr oder weniger gefüllt. Und die Geldmenge grösser oder kleiner.
Dann kam die Finanzkrise von 2008.
Und machte nochmals ein Umdenken nötig. Im grössten Finanzmarktcrash seit den 1930er-Jahren wurde den Notenbanken bewusst, dass es dem Finanzsystem manchmal auch die Luft verschlägt – und man es in diesen Situationen sprichwörtlich beatmen muss.
Ben Bernanke, Präsident der Federal Reserve zur damaligen Zeit, hatte dies als einer der ersten Ökonomen bereits ein paar Jahre vor der Krise realisiert. Und veranlasste, als die Krise dann ausbrach, dass die amerikanische Notenbank grosse Mengen an Wertpapieren aufkaufte und damit grosse Mengen an Notenbankgeld ins Bankensystem pumpte.
Man kann etwas überspitzt sagen: Bernanke benutzte eine von mehreren Hintertüren, die den Notenbanken im heutigen Geldsystem offen stehen.
Damit endet der Exkurs – wir sind wieder bei der Beschwerde der Schweizer Vollgeld-Initianten angelangt. Und bei der Frage, ob eine Hintertüre für die Nationalbank reicht, um das Geldsystem richtig zu regulieren.
Flexibilität der Geldmenge
Oder anders gefragt: Wie «atmungsaktiv» wäre ein Vollgeld-System?
Im Prinzip lehnt sich die Vollgeld-Philosophie stark an den Monetarismus an. Veränderungen bei der Geldmenge sind ihr grundsätzlich suspekt.
Geld von selbst schöpfen, das können die Banken beim Vollgeld-System deshalb nicht. Geld in Umlauf bringen, das kann nur die Notenbank.
Wie? Das hängt davon ab, wie streng die Philosophie gelebt wird.
Würde das Vollgeld «strikt» umgesetzt (also ausschliesslich mit schuldfreier Geldproduktion und ohne Kredite an Banken), so würde das bedeuten: Die Notenbank könnte Geld nur in Umlauf bringen, indem sie es an Bürger und Staat verteilt. Kostenlose Ausschüttungen (oder bei einem Abschwung: kompensationslose Konfiskationen) von Nationalbankengeld wären das einzige Instrument, mit dem die SNB auf wirtschaftliche Schwankungen reagieren könnte.
Würde die Idee «weniger strikt» umgesetzt (also inklusive der «nicht schuldfreien» Kredite an Banken), dann hätte die SNB nebst den Ausschüttungen immerhin ein zweites Mittel zur Verfügung, um Geld in Umlauf zu bringen, wenn es in der Wirtschaft gebraucht wird.
Zugegeben: Die Vorstellung, dass sich die Geldbedürfnisse in einer Volkswirtschaft von Zeit zu Zeit verändern, ist etwas merkwürdig. Wir beschäftigen uns im Alltag praktisch nie mit solchen Fragen.
Doch für Notenbanken gehören diese Fragen zum Tagesgeschäft. Und dies seit über hundert Jahren. Eine Lehre aus dieser Zeit ist: Eine Notenbank braucht verschiedene Instrumente, um die Geldversorgung zu steuern. Eine andere lautet: Man muss dem Bankensystem eine gewisse Flexibilität einräumen. Die Notenbank muss nicht alles selbst kontrollieren.
Warum haben sich diese Lehren etabliert? Charles Goodhart, ein britischer Ökonom, formuliert es in einem Aufsatz so: weil sie letztlich ein sinnvoller Kompromiss zwischen mehreren Zielen sind: der Finanzstabilität einerseits und der Idee andererseits, dass das Bankengeschäft ein Servicegeschäft ist, das den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung tragen sollte.
Geld darf nicht nur «top-down» funktionieren, liesse sich Goodhart etwas salopp paraphrasieren. Sondern auch «bottom-up».
Die Lehren aus hundert Jahren Geldpolitik sind teils, teils in den Initiativtext zum Vollgeld eingeflossen: über die besagte, umstrittene Hintertüre. Sie lässt der SNB mehrere Möglichkeiten offen, die Geldmenge zu regulieren.
Allerdings bürdet sie ihr auch die alleinige Verantwortung dafür auf.
Aus Sicht der Nationalbank ist dies nicht unproblematisch. Tragen derzeit die Banken mit ihren eigenen Wirtschaftlichkeits- und Risikoabschätzungen eine Mitverantwortung dafür, wie viel Geld im Bankensystem durch die Kreditvergabe geschöpft wird, so würde beim Vollgeld am Ende des Tages allein die SNB die Geldmenge bestimmen. Eine solche Ballung von Entscheidungsmacht gilt wirtschaftshistorisch eigentlich als überholt.
Was bedeutet es für die Vollgeld-Philosophie, wenn die SNB als mächtiger Regulator über die Geldmenge wacht und notfalls auch durch die Hintertüre selbst ins Kreditgeschäft eingreift?
Kreditzyklen und Blasen
Eine Stelle aus deren hundertseitigem Frage-Antwort-Katalog deutet an, dass sich hier gewisse Probleme ergeben.
Zur Frage nach der Geldmengensteuerung heisst es dort: «Die SNB wird also weiterhin einen Grossteil des Geldes durch rückzahlbare Bankenkredite in Umlauf bringen.»
«Einen Grossteil» – die Formulierung ist interessant. Sollte beim Vollgeld nicht weitgehend schuldenfreies Geld zirkulieren? Sympathisanten, die dachten, eine Vollgeld-Wirtschaft liefe auf eine grosse Entschuldung der ganzen Volkswirtschaft hinaus, muss dies eigentlich stutzig machen.
Die Formulierung wirft auch noch weitere Fragen auf. Zum Beispiel zur folgenden, im Argumentarium prominent vertretenen Aussage: dass es mit Vollgeld zu weniger Finanzbooms und zu weniger Krisen käme.
Ist das Versprechen wirklich realistisch?
Die Vollgeld-Initianten argumentieren zur Krisenanfälligkeit etwa so:
Das allermeiste Geld (90 Prozent) wird im heutigen System über die Kreditvergabe von Banken geschöpft.
Wegen dieser Fähigkeit der Banken ist die Geldmenge in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen.
Dieses Wachstum der Geldmenge hat zu einem Wachstum der Kredite geführt und letztlich zur Finanzkrise.
Mit dem Vollgeld-System wäre die private Geldschöpfung unmöglich, und es gäbe keine (oder weniger) Krisen mehr.
Schauen wir uns diese Kausalkette etwas näher an.
In den Wirtschaftswissenschaften wurde zuletzt intensiv über Krisen geforscht. Ein Faktor, den Ökonomen dabei wiederentdeckten (die Monetaristen wie auch ihre Nachfolger hatten ihn zeitweise etwas vergessen), ist: der sogenannte Kreditzyklus.
Also der phasenweise Aufbau von Krediten und Schulden in einem Boom, auf den eine Implosion der Kreditvergabe in einer Krise folgt.
Im Zusammenhang mit der Vollgeld-Initiative (und mit ihrem Vorhaben, das Geldwesen vom Kreditwesen zu trennen) stellen sich nun drei Fragen.
Ist der Kreditzyklus tatsächlich schuld an der Krise?
Wie ist der Geldzyklus mit dem Kreditzyklus verknüpft?
Was ändert sich an diesen Zyklen mit dem Vollgeld?
Eine Antwort auf die erste Frage gibt eine Studie der Ökonomen Moritz Schularick und Alan M. Taylor. Sie stellten in einer Untersuchung über vierzehn Länder von 1870 bis 2008 fest: Krisen, wie sie in dieser Zeit sporadisch auftraten, waren in der Tat fast immer die Folge von «credit booms gone wrong» – also von überbordenden Kreditzyklen, in denen Wirtschaftsakteure mehr Schulden aufnahmen, als sie tragen konnten, und Banken mehr Risiken eingingen, als ihre Kapitaldecke zuliess.
Schularick und Taylor stellen dabei fest: Rapide Kreditausweitungen sind der beste Frühwarnindikator, der fünf Jahre im Voraus auf eine Krise hindeutet.
Das passt zur Argumentation der Vollgeld-Initianten.
Schularick und Taylor geben aber auch eine Antwort auf die zweite Frage. Und hier stellen sie fest: Ausweitungen der Geldmenge sind kein sehr hilfreicher Indikator, um Kreditzyklen und Finanzkrisen zu prognostizieren.
Das passt weniger gut zur Argumentation der Vollgeld-Initianten.
Eine Studie der Europäischen Zentralbank kommt zu einem ähnlichen Schluss wie die beiden Ökonomen. Relevant im Hinblick auf Finanzblasen und Krisen seien die Kreditmenge und -veränderung, die langfristigen Zinsen, das Investitionsverhalten von Unternehmen sowie die Aktien- und Immobilienpreise. Wenig Erklärungskraft habe die Geldmenge (diese war übrigens in den USA vor der Finanzkrise relativ stabil).
Wie lassen sich diese Studienbefunde erklären?
Die offensichtlichste Ursache für das Auseinanderdriften von Geld und Kredit ist das Schattenbankensystem. Also die zunehmende Finanzierung von Unternehmen und Immobilien ausserhalb des Bankensystems.
Firmen nehmen heute mehr Fremdkapital direkt am Finanzmarkt auf als über einen Bankenkredit. Hypotheken werden nach ihrer Vergabe zunehmend verbrieft und an Investoren weiterverkauft – sie verschwinden aus den Bankbilanzen und entkoppeln sich von der Geldschöpfung im engeren Sinn, so wie sie von der Vollgeld-Philosophie verstanden wird.
Damit liegt auch die Antwort auf die dritte Frage auf der Hand: was sich mit dem Vollgeld an den Geld- und Kreditzyklen ändern würde.
Sie lautet: Wahrscheinlich nicht viel. Es sei denn, es würden im weiteren Verlauf der Umsetzung noch einige weitere (drastische) Regeln eingeführt, die den Finanzmarkt insgesamt stark einschränken.
Was uns ein weiteres Mal zur Initiative, zu ihrem Hintertürchen und zu ihren Versprechen führt.
Finanzmarktregulierung
Und zur Feststellung, dass das Vollgeld (in der Version für die Schweizer Abstimmung) für die Finanzstabilität im Grunde nicht viel Neues bringt.
Zum Beispiel hinsichtlich der «Lender of last resort»-Problematik:
Handelt die Nationalbank auch im Vollgeld-System nach bestem Wissen und Gewissen, so wird sie ihren Spielraum in diesem System gebührend nutzen. Und immer dann die Banken mit Liquidität versorgen, wenn es ihr angezeigt erscheint. Also zum Beispiel, wenn in einer Finanzmarktpanik ihre Funktion als letztinstanzlicher Kreditgeber gefragt ist.
Die konkreten Situationen, in denen die Nationalbank dies täte, wären im Endeffekt allerdings dieselben, in denen sie bereits heute eine Ausdehnung von Geld und/oder Kredit zulässt – sei es aktiv, indem sie Geld gegen Wertschriften herausgibt, oder sei es passiv, indem sie die Leitzinsen nicht erhöht und damit eine Ausweitung der Geldmenge zulässt.
Oder hinsichtlich der «Leaning against the wind»-Frage:
Sollen Notenbanken mit Zinserhöhungen (oder Einschränkungen bei der Geldmenge, was auf dasselbe hinausläuft) versuchen, Blasen an der Börse und am Immobilienmarkt zu bekämpfen?
In den Wirtschaftswissenschaften wurde die Frage über die letzten Jahre kontrovers diskutiert, wobei sich der Internationale Währungsfonds und ihm nahestehende Ökonomen etwas in den Haaren liegen mit gewissen Exponenten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.
Diskutiert wird etwa, ob die amerikanische Notenbank die Leitzinsen im Vorfeld der Finanzkrise noch aggressiver hätte anheben müssen, um eine Blase an der Börse und am Immobilienmarkt zu verhindern (die Fed hob die Zinsen zwischen 2004 und 2006 um über 4 Prozent an und trug damit zur Rezession bei, vermochte aber die Blasenbildung nicht zu verhindern).
Die Debatte um «Leaning against the wind» ist allerdings etwas akademisch, denn unter den Regulatoren hat sich seit der Finanzkrise längst ein Konsens herausgebildet. Dieser sieht eine Art von Aufgabenteilung vor:
Für die Konjunktur ist die Geldpolitik zuständig (und die Fiskalpolitik).
Bei Finanzblasen kommen makroprudenzielle Massnahmen zum Zug.
Unter makroprudenziellen Massnahmen versteht man Dinge wie den antizyklischen Kapitalpuffer, den es in der Schweiz seit 2013 gibt: eine Auflage, die von Banken zusätzliche Eigenmittel bei der Kreditvergabe fordert. Sie soll die Preisentwicklung am Immobilienmarkt dämpfen.
Sinn und Zweck dieser Massnahmen ist, dass die Aufsichtsbehörden und Notenbanken nicht nur ein einziges Instrument gegen aufkommende Finanzblasen einsetzen können (nämlich den Leitzins bzw. die Geldpolitik), sondern eine ganze Palette von Instrumenten zur Verfügung haben.
Makroprudenzielle Mittel entlasten Notenbanken. Sie erlauben ihnen etwa, während eines Börsenbooms von einer starken Zinserhöhung abzusehen: einer Massnahme, die im Kampf gegen Finanzblasen erstens wenig effektiv ist und die zweitens die Wirtschaft stark bremsen kann.
Und damit zurück zur Vollgeld-Initiative.
Würde sie die Aufgabenteilung zwischen Geldpolitik und makroprudenzieller Politik wesentlich beeinflussen?
Wohl kaum. Jedenfalls nicht in einem Ausmass, in dem es ein echter Gewinn für die Stabilität wäre. Und schon gar nicht, wenn das System mit seinen Hintertüren am Ende ähnliche Entscheide herbeiführen würde wie heute.
Schluss
Warum Vollgeld? Warum nicht?
Notenbanker könnten noch lange über die Vor- und Nachteile eines Vollgeld-Systems debattieren. Sie würden vermutlich vor allem die Nachteile betonen:
etwa dass das Vollgeld-System die Geld- mit der Fiskalpolitik verquickt, weil ein solches System eine Notenbank viel direkter als heute dazu zwingt, ein Budgetdefizit (etwa in einer Rezession) mit Gelddrucken auszugleichen (warum, das steht etwa in Papieren von Giuseppe Fontana und Malcolm Sawyer und von Sheila Dow, Gudrun Johnsen und Alberto Montagnoli);
oder dass eine Notenbank wie die SNB bei der Umstellung aufs Vollgeld-System vermutlich gezwungen wäre, einen beträchtlichen Anteil der Wertpapiere, die sie hält, zu verkaufen, und in Zukunft womöglich machtlos wäre, einer allfälligen Entwertung des Frankens etwas entgegenzuhalten (die SNB betont solche Risiken in ihrem Frage-Antwort-Papier);
oder dass die Notenbank im Zuge der Umstellung grössere Kreditrisiken in ihre Bücher nehmen müsste, als dies im aktuellen System der Fall ist.
Die Befürworter würden dem andere Argumente entgegenhalten:
etwa dass die Einführung vom Vollgeld mit einer historisch einmaligen Verteilaktion von Notenbankvermögen einhergeht, die es den Empfängern von Vollgeld-Ausschüttungen erlauben würde, einen Teil ihrer Schulden abzubezahlen (was als positiv für die Wirtschaft empfunden wird) – sie verweisen dazu gern auf ein Paper von Jaromir Benes und Michael Kumhof, das vom sogenannten Chicago Plan handelt, einer ähnlichen Reform;
oder dass das Vollgeld-System helfen würde, Geld in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen. «Die Nationalbank bekommt nur die Kompetenz, von der die Leute glauben, die Nationalbank hätte sie bereits.» Vollgeld, so die Initianten, würde bedeuten, dass das Geld wieder so funktionieren würde, wie viele Menschen offenbar dachten, dass es funktionieren würde.
Das Problem an dieser letzten Idee ist jedoch (und darum ging es in diesem Text hauptsächlich, falls Sie es bis hierhin geschafft haben): Geld war noch nie eine so simple Angelegenheit, wie wir uns das als Geld-Benutzer gängigerweise denken. Und das dürfte sich auch in Zukunft kaum ändern.
Die verschiedenen Anforderungen ans Geldsystem sind auf komplexe Art miteinander verknüpft: Stabilität, Flexibilität, Wandelbarkeit. Dass sie sich regulatorisch je über einen Strang schlagen lassen, ist unwahrscheinlich.
Debatte: Soll die Schweiz das Vollgeld einführen?
Schützt das Vollgeld die Schweiz vor Finanzkrisen? Oder ist es kein geeignetes Mittel, um die Finanzstabilität zu verbessern? Hier gehts zur Debatte.
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