«Wir sind die, auf die wir gewartet haben»
Mittendrin im Aufstand des Anstands. Was bringt der slowakische Frühling? Die Schriftstellerin Irena Brežná hat ihr Herkunftsland besucht. Eine Reportage.
Von Irena Brežná, 08.05.2018
Die schmale, blasse Achtzehnjährige mit Brille büffelt in diesen Tagen für das Abitur – wenn sie nicht gerade auf der Tribüne steht. Karolína Farská ist das Gesicht einer Jugend, die sich für die Bewegung «Für eine anständige Slowakei» starkmacht. An diesem warmen Aprilsonntag bespricht sie ihre bevorstehende Rede mit anderen Mitstreitern, die sich im Stadtzentrum von Bratislava versammelt haben, im Café Dobre & Dobré – die Verdoppelung von «gut» steht für den Kampf des Guten gegen das Böse.
Auf dem Námestie SNP, dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes – benannt nach dem Partisanenaufstand gegen die Nazis in der faschistischen Slowakei 1944 –, finden seit Wochen Bürgerproteste statt. Heute stossen Organisatoren aus anderen Städten hinzu, die vor ihren Auftritten instruiert werden: «Jeder von euch hat auf der Bühne bloss ein paar Sekunden. Sagt euren Namen, den Beruf und die Stadt. Ihr sollt sichtbar werden, als die, die ihr seid, gewöhnliche Bürger und Bürgerinnen, welche die Initiative ergriffen haben.»
Tribünen, Plätze, Strassen
Denn auch durchaus pragmatisch veranlagte Menschen wie meine ehemalige Mitschülerin erliegen den im Internet gesäten Zweifeln an der Aufrichtigkeit der Aktivisten. Sie murmelt gereizt: «Wie kann es sein, dass eine Abiturientin etwas von Politik versteht? Wer lenkt diese Jugend?»
Als Achtzehnjährige waren wir im Frühling 1968 in der sozialistischen Tschechoslowakei selbst vor dem Abitur und wussten sehr wohl, auf welcher Seite die Lüge stand und auf welcher die Wahrheit. Damals rief mir aus dem Demonstrationszug für einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» ein Bekannter zu: «Komm mit uns!» Das erwachte Bürgerbewusstsein gegen das verbrecherische Regime zog mich magisch an, doch ich erwiderte pflichtbewusst, ich müsse Mathematik für die Prüfungen lernen.
Genau fünfzig Jahre später bin ich bei der Geburt der neuen Polis dabei. «Schande, Schande!», skandiert die Menge, wenn Karolína Farská auf der Tribüne die Verschleppung der polizeilichen Untersuchung des Doppelmordes am jungen Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová anprangert. Sie wurden am 25. Februar 2018 erschossen in ihrem Haus aufgefunden, wohl wegen Kuciaks Aufdeckung der systematischen Korruption auf höchster politischer Ebene.
Auf der Tribüne wird der Rücktritt von Polizeichef Tibor Gašpar gefordert, die auf 30’000 Menschen geschätzte Menge ruft: «Zurücktreten! Zurücktreten!»
Manche halten ihren Schlüsselbund hoch und rasseln damit – eine Anspielung auf die Samtene Revolution von 1989, als millionenfaches Schlüsselrasseln auf Plätzen in der ganzen Tschechoslowakei bedeutete: Euer Ende ist eingeläutet. Mit Studentenrevolten endete im November vor neunundzwanzig Jahren die rote Diktatur.
Im heutigen slowakischen Frühling hat der Druck von der Strasse nach und nach das erreicht, was vor kurzem noch reines Wunschdenken war: den Abgang des sich zum Landesvater stilisierenden Premiers Robert Fico sowie seines verhassten Kumpels, Innenminister Robert Kaliňák.
Als von der Tribüne wieder der Kampfruf «Wir sind die, auf die wir gewartet haben» ertönt, antworten die Demonstrierenden – Menschen aller Altersgruppen, Frauen wie Männer – «Ďakujeme, d'akujeme, wir danken, wir danken». Und ein paar Tage nach der Demonstration opfert der neue Premierminister Peter Pellegrini den Polizeichef.
«Soll Frieden über diesem Land bleiben»
Die Organisatoren sorgen für den Anstand, den sie für das Land fordern: keine brennenden Autoreifen, keine eingeschlagenen Schaufenster, keine Schlägereien. Freiwillige stehen in Leuchtwesten in der Menge mit dem Auftrag, den Polizeikräften zu melden, sollte sich ein Gewaltausbruch anbahnen. Es blieb bis jetzt friedlich, und die Organisatoren vergessen nie, sich bei der Polizei zu bedanken.
Es klingt merkwürdig, wenn sich die Jugend für Ruhe und Ordnung bei der Polizei bedankt und sich für eine altertümliche Tugend wie Anstand mobilisiert. Gewisse Machenschaften der älteren Generation müssen arg unanständig wirken, dass «slušnosť», Anstand, zum modischen Jugendwort mutiert. Der Sprecher der Studierenden ruft seine Landsleute dazu auf, überall im Alltag auf Anstand zu achten: «Seid selbst ein Vorbild für Anstand!»
Anstand solle die ganze Gesellschaft durchdringen, auch die Behörden und die Gerichte. Das Wort weitet sich. Ján und Martina wurden in ihren Hochzeitskleidern begraben, da der Auftragsmörder sie vor ihrer geplanten Hochzeit umgebracht hatte. Die Unanständigkeit steht für die ermordete Jugend, für die ermordete Unschuld. Dagegen revoltiert diese Generation: «Es reicht!»
«Soll Frieden über diesem Land bleiben», singt eine slowakische Sängerin auf Tschechisch. Die Menge summt mit, sie kennt die symbolische Kraft des Refrains. Das ist das «Gebet für Marta» von Marta Kubišová, der in den 60er-Jahren populären tschechischen Sängerin. Es ist jenes Lied, das sie gegen die Okkupation der Tschechoslowakei sang, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 den Prager Frühling niedergeschlagen hatten, mit Flugzeugen, Panzern und fast einer Million Soldaten.
Kubišová durfte während der 21 Jahre dauernden sogenannten Normalisierung, während dieses Rückfalls in die Diktatur, nicht mehr auftreten, während ihr Bühnenpartner Karel Gott mit dem Regime paktierte und sich gar gegen die Charta 77 öffentlich aussprach, was seinem Ruhm keinen Abbruch tat, ihm weiterhin volle Säle bescherte. Der gealterte Gott aus Prag hetzt heute mit Verschwörungstheorien gegen Flüchtlinge, gegen Muslime, die eh einen Bogen um die Goldene Stadt machen.
Kontinuität des Widerstands
Kubišová und ihr Gebet symbolisieren das tschechoslowakische Erbe des Widerstandes. Auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes sind die Jahre 1944, 1968, 1989 und 2018 miteinander verbunden. Schon 1989 rief man «Ďakujeme, d'akujeme». Und gerade diese Kontinuität ist das Hoffnungsvolle. Denn ob die Demonstrationen die politische Landschaft konkret und bald verändern werden, ist mehr als fraglich, doch im nationalen Gedächtnis wird die Erinnerung an den Frühling 2018 bestehen bleiben. Die Zivilgesellschaft wird dank der Macht, die sie sich auf der Strasse erkämpft hat, hellhöriger für Missstände sein und selbstbewusster dagegen vorgehen. Sie wird erprobte Instrumente dafür haben.
Hat etwa der amerikanische Milliardär und Philanthrop George Soros das Lied von Marta Kubišová bestellt und bezahlt? Sein Name als Drahtzieher der angeblichen Destabilisierung Europas geistert nicht nur in seinem Herkunftsland Ungarn herum. Unmittelbar nach den Morden brachte der damalige Premier Fico den Staatspräsidenten Andrej Kiska und Soros zusammen als Hintermänner der Tat ins Spiel. Ein Kommentator in der grössten slowakischen Tageszeitung «Sme» fragte: «Ist Fico wahnsinnig geworden?»
Die Organisatorin der Demonstrationen in der Stadt Žilina erzählt mir, dass sie die Abzeichen «Bürger für eine anständige Slowakei» in aller Öffentlichkeit in einer Buchhandlung von Eltern und Kindern drucken lassen. Damit entkräftet sie das Argument, Soros habe die Abzeichen lange vor den Demos anfertigen lassen. Und sie zeigt, dass jeder und jede mitmachen kann. Die Organisatorin der Demos in der Kleinstadt Skalica, die nach Österreich pendelt, wo sie als Kellnerin arbeitet, erklärt mir: «Es ist wichtig, dass wir Ortsansässige sind, dass die Menschen wissen, wie wir leben, wer unsere Eltern sind. So wird es klar, dass wir nicht von irgendjemandem manipuliert werden.»
Die Verschwörungstheorien finden einen fruchtbaren Boden im Nihilismus, diesem Abwehr- und Schutzreflex vor permanentem politischem Missbrauch. Das hört sich so an: «Ach, man kann niemandem trauen, alle sind korrupt, es lohnt nicht, etwas zu unternehmen, es ändert sich eh nichts», um nicht schon wieder enttäuscht zu werden. Die Demonstrationen räumen damit auf. Die tiefsitzende, lange brodelnde Wut auf die regierende Klasse entlud sich nach den Morden.
Als Auslöser für Proteste ist Wut genau das Richtige. Aber wie soll es weitergehen?
Flatternde EU-Fahnen
Jetzt stellen sich die Organisatoren aus anderen Städten auf der Tribüne vor, ein älterer Lehrer aus Lučenec, eine Studentin aus Dubnica nad Váhom, eine aus Rimavská Sobota und viele andere. Sie stehen für den Pluralismus der Bewegung. Die Menge jubelt ihnen zu: «Ďakujeme, d'akujeme». Die EU-Fahnen, die im durch die Donauebene wehenden Wind flattern, bedeuten, dass dieser Bürgerprotest proeuropäisch ist – man versteht die EU als Garantin für den Rechtsstaat. Es gibt auch zwei Regenbogenfahnen.
Die bewusst offen gewählten Slogans «Für eine anständige Slowakei», «Es reicht» und «Es ist uns nicht egal» sind der gemeinsame Nenner für das Unbehagen in der Gesellschaft. Die Demos als soziales Becken, in dem sowohl Atheisten wie Gläubige, Mütter wie Schüler, Intellektuelle wie Bauern Platz finden. Wer du auch bist, du kannst mitmachen. Obdachlose helfen mit, die Tribüne aufzubauen, auf der sich gerade junge Mütter mit ihren Kleinkindern aufreihen. Sie erklären, dass sie sich als gewöhnliche Bürgerinnen engagieren, da sie die Zukunft für die nächsten Generationen nicht verspielen wollen. Mittendrin steht ein lesbisches Paar mit Kind.
Die Dramaturgiestudentin aus Bratislava hilft bei der Inszenierung der Demos, ein Informatiker kümmert sich um das Image in den sozialen Medien, andere lassen T-Shirts und Umhängetaschen aus Jute mit Slogans bedrucken. Was ich kann und tun will, biete ich selbst an, anstatt der autoritären traditionellen Art und Weise: Du musst das tun und du jenes. Das lange Transparent, das die Studierenden durch die sie frenetisch begrüssende Menge zur Tribüne tragen, hat einen schwarzen Hintergrund, der die finsteren Taten der regierenden Elite symbolisiert. Darauf steht in weissen Lettern «Es ist uns nicht egal».
Ich spreche die Organisatorin der Demos aus dem südslowakischen Städtchen Nové Zámky an, eine von der Regierung vernachlässigte Gegend, wo es kaum Arbeit gibt und wenig Lust, sich einzubringen. Hier lebt vor allem die ungarische Minderheit, die mit Orbáns Propaganda aus dem ungarischen Fernsehen berieselt wird. Aus Ungarn blicken nur sogenannte Volksverräter mit Sympathien auf das slowakische Frühlingsphänomen. Um dem Vorwurf entgegenzuwirken, die Demos seien ungarnfeindlich, laden die Organisatoren ungarischsprachige Redner ein, berichtet diese Opernsängerin und Theologiestudentin. Man merkt den Organisatoren an, wie professionell und sensibel sie die lokalen Besonderheiten berücksichtigen.
Wo sind die Roma?
Aber etwas fehlt. Meine Frage an die Aktivisten, ob sie auch Roma als Rednerinnen und Redner hätten, macht stutzig. Es kommen vorsichtige Erklärungen, dass die Roma in ihrer Ortschaft keine geeigneten Vertreter hätten, dass diese Bevölkerungsgruppe in den Siedlungen abseits der Städte und Dörfer zu stark in ihrem Überlebenskampf stecke, bei dem es ums Essen, um Anschluss an Wasser- und Stromleitungen gehe. Der Zusammenhang zwischen Lokal- und Staatspolitik sei ihnen zu wenig bewusst. Die Organisatoren hätten Mühe genug, sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen, und die Bevölkerung würde die Teilnahme der Romaminderheit an den Protesten nicht goutieren, das könnte Sympathisanten abschrecken.
In der Hauptstadt dagegen wäre es möglich, doch man wagt es nicht. Würde die Menge dann nicht mehr jubeln? Sollen die Proteste die ganze Bevölkerung repräsentieren, müsste ein Zeichen gesetzt werden gegen die Stigmatisierung von einer etwa halben Million Roma, die weiterhin gesellschaftlicher Konsens ist. Gerade fand in Bratislava ein Kongress junger Roma statt, die neben Forderungen nach Bildungsprogrammen für die Roma-Jugend auch verlangt, von den Staatsvertretern und der Gesellschaft als gleichwertige Partner anerkannt zu werden.
Wie lebendig die Proteste auch sind, mit fröhlichen, sympathischen Gesichtern, so schwebt über allem die grosse, bange Frage: Und wo ist die Alternative? Wo sind Politiker, die wir als unsere Vertreter akzeptieren würden? Die Oppositionspolitiker sind entweder genauso schlimm wie die der regierenden Koalition. Oder gar noch gefährlicher.
Zum Beispiel Richard Sulík. Er ist der Gründer und Vorsitzende der stärksten Oppositionspartei Sloboda a Solidarita, er tritt oft im deutschen Fernsehen auf, da er gut Deutsch spricht. Der ehemalige Unternehmer bewirtschaftet Anti-Migrations-Themen, wie es Fico getan und womit Orbán soeben die Wahlen gewonnen hat. Was würde der Bewunderer Orbáns und EU-Abgeordnete Sulík, der immer leidenschaftlicher gegen die EU ins Feld zieht, mit der Slowakei bloss anstellen?
«Wir bleiben hier»
Eine ausweglose Lage. Einerseits gibt es keine politische Persönlichkeit, die den Wagen aus dem Morast führen könnte, anderseits halten die zurückgetretenen Politiker Fico und Kaliňák an der Macht fest, auf Umwegen über ihre Marionetten. Das zeigt die unverfrorene Ernennung der neuen Innenministerin Denisa Saková. Ihr Ehemann, ein guter Freund von Kaliňák, hatte sie ins Innenministerium gebracht, wo sie Kaliňáks rechte Hand wurde.
Daran erinnern Demonstranten vor dem Präsidentenpalast, als dort Denisa Saková vereidigt wird. Sie halten Plakate hoch: «Zehn Jahre unter Kaliňák. Ist das eine geeignete Qualifikation?» Einer kommentiert: «Wir wollen der Öffentlichkeit und der Ministerin zeigen, dass wir da sind, wir gehen nicht weg.» Das ist zugleich eine Anspielung auf die Abwanderung der frustrierten Jugend ins Ausland, unter ihnen viele Akademiker. Das selbstbewusste «Wir bleiben hier» heisst: Wir übernehmen die Verantwortung für die Gesellschaft, und die Politik muss mit uns rechnen.
In seiner Kolumne in der Wochenzeitung «Týždeň» analysiert Peter Zajac den slowakischen Frühling. Der Germanist ist gleichsam auch Experte für revolutionären Geist, er war einer der wichtigsten Akteure der Samtenen Revolution: «Die nicht aufhörenden Meetings sind eine elementare menschliche Erfahrung und zivilgesellschaftliche Pädagogik geworden. Sie haben Gemeinschaftlichkeit geschaffen, die Menschen gelehrt, dass es Sinn macht, in der freien Welt frei zu handeln. Die Korruption war so selbstverständlich geworden, dass die Politiker sie nicht mehr wahrnahmen. Doch an den Meetings nimmt man sie nicht mehr hin. Die Erde erzittert. Sie speit politische Lava, reinigt den politischen und öffentlichen Raum, macht die Öffentlichkeit empfindsam, sozialisiert mit Anstand.»
Ein Bauer aus der Ostslowakei
Den aufwühlendsten Auftritt an diesem Aprilsonntag hat der Bauer František Oravec aus dem ostslowakischen Ort Gyňovo. Mit einem typisch ostslowakischen Akzent und in einfacher Sprache schildert er, wie er sich wehrte, als fremde Mähdrescher seine Ernte einbrachten. Dafür wurde er so zusammengeschlagen, dass er ein halbes Jahr arbeitsunfähig geworden sei und bis heute unter gesundheitlichen Folgen leide. Gruppierungen würden Landwirte terrorisieren, ohne dass die Polizei eingreife.
Der ermordete Kuciak arbeitete zuletzt an einem Artikel über die Rolle der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta in der ostslowakischen Landwirtschaft und über deren Kontakte zur politischen Spitze. Antonino Vadalà aus Kalabrien, der seit den 90er-Jahren in der Ostslowakei Landwirtschaftsprojekte betrieb, auch mit EU-Geldern, wartet nun in slowakischer Untersuchungshaft auf seine Auslieferung nach Italien, wo ihm Kokainschmuggel vorgeworfen wird. Die Staatsanwaltschaft in Košice prüfte den internationalen Haftbefehl und bestätigte ihn Anfang Mai.
Zu dieser Seifenoper gehört – so hat es Kuciak enthüllt –, dass Vadalàs junge slowakische Geliebte Mária Trošková, die mit ihm gemeinsame Geschäfte machte, auf wundersame Weise persönliche Assistentin von Fico wurde. Sie begleitete den Premier zu Sitzungen nach Brüssel oder zu Angela Merkel nach Berlin. Troškovás politische Qualifikation ist ihre Diplomarbeit an einer privaten Hochschule für Management in Trenčín: ein Vergleich zwischen Websites, die Schmuck anbieten und auf denen sie selbst nackt posiert. Sofort nach den Morden verschwand die slawische Schönheit von der politischen Bühne.
Für die illegale Beschlagnahmung ostslowakischer Ländereien braucht es keine Entwicklungshilfe aus Kalabrien. Leute, die mit der Polizei und den Behörden gar verwandtschaftlich verbandelt sind, erledigen das gekonnt mit ostslowakischem Akzent. Bauer Oravec ging vor Gericht, doch niemand wurde verurteilt. Die Intellektuellen aus Bratislava staunen über die erst jetzt bekannt gewordenen mafiösen Praktiken, die sie eher in der Ukraine vermutet hätten als im eigenen Land. Der eigene Osten gilt für Bratislava als uninteressant, rückständig, dort herrschen Familienclans. In Bratislava, wo es kaum Arbeitslosigkeit gibt, arbeiten viele aus der ärmeren Ostslowakei, denen man mit Argwohn nachsagt, sie würden ihre Familienmitglieder und Freunde nachziehen und ihnen Posten verschaffen.
Terra incognita im eigenen Land
Die mentale und wirtschaftliche Kluft zwischen Ost- und Westslowakei ist grösser als jene zwischen Bratislava und Wien. Konfrontiert mit dem Vorwurf, er und seine Parteifreunde seien in Agrarbetrügereien in der Ostslowakei verstrickt, konterte der Noch-Premier Fico, in der Ostslowakei gebe es nichts. Und wo nichts sei, könne man auch nichts holen. In der Tat sind ganze Dörfer praktisch entvölkert. Wenn ich in Basel für slowakische Arbeitsmigranten bei Behörden, Schulen oder im Spital dolmetsche, sind es meist Ostslowaken und -slowakinnen, die diesem «Nichts», also der Arbeits- und Perspektivlosigkeit, als Bauarbeiter oder als Altenpflegerinnen in die Schweiz entflohen sind.
Um die Kluft zwischen der Ost- und der Westslowakei symbolisch zu überwinden, findet die Aprildemo nicht nur in Bratislava statt, sondern am selben Tag auch im ostslowakischen Städtchen Humenné. Das ist ein Zeichen für eine neue Ost-West-Annäherung: Wir wollen füreinander da sein. Es waren ja gerade die Demonstrationen, die die ostslowakischen Bauern dazu ermutigt haben, ihr Schweigen zu brechen, die Angst abzulegen, das jahrelange Leid öffentlich zu machen.
Wenn der Bauer Oravec auf der Bühne in Bratislava fast weinend sagt, er wolle bloss seine eigene Ernte nach Hause fahren, klingt es wie eine archaische Metapher für das angekündigte Unrecht schlechthin: Was du säst, wirst du nicht ernten. Inzwischen berichten aufgebrachte Bauern auch aus anderen Teilen der Slowakei von ähnlichen Vorfällen.
Die Medien greifen nun auf, was die lokalen Zeitungen bis jetzt aus Angst unterdrückt haben, jene in Bratislava aus Unkenntnis und wohl auch aus Desinteresse. Erst kürzlich machte sich der auf Abgründe spezialisierte, renommierte slowakische Journalist Andrej Bán aus Bratislava auf für eine Reportage aus dieser Terra incognita im eigenen Land.
Die Rolle der Medien
Als Robert Fico noch Premier war, wetterte er notorisch gegen die unabhängigen, ihn kritisierenden Medien. Er nannte die Journalisten antislowakische Prostituierte, womit er sie zum Freiwild erklärte. Er ist mitverantwortlich für ein Klima, in dem es zur Gewohnheit wurde, sich abschätzig über Medienleute zu äussern. Die slowakischen Medien sind gemäss dem Pressefreiheit-Ranking von Reporter ohne Grenzen für das Jahr 2017 vom Platz 17 auf Platz 27 zurückgefallen. Doch damit steht die Slowakei im Vergleich zu Tschechien (Platz 34), Polen (58) und Ungarn (73) immer noch am besten da. Der Mord an Kuciak und seiner Verlobten hat eine Wende eingeleitet. Die Gesellschaft fängt an, journalistische Arbeit als etwas Wesentliches für die Demokratie zu respektieren. Mit einem der in diesem Frühling in Bratislava verliehenen Journalistenpreise wurde auch Ján Kuciak posthum ausgezeichnet.
Die Demonstrationen gehen weiter. Bei der Demo am 4. Mai geht es um die durch Reorganisation und Entlassungen bedrohte Freiheit des öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsenders RTVS. Die Organisatoren appellieren: «Eine der Lektionen, die uns der Tod von Ján Kuciak erteilt hat, ist, dass sich für die Freiheit der Medien auch die Öffentlichkeit einsetzen muss. Gemeinsam lehnen wir die Normalisierung im RTVS ab.» Der Begriff normalizácia soll daran erinnern, dass im Frühling 1968 die Bevölkerung auf den aufregenden Geschmack der Medienfreiheit gekommen war, die nach der Okkupation für mehr als zwei Jahrzehnte zerstört wurde. Normalizácia ist also gleich Zensur.
Die Medienschaffenden sind sich ihrer wachsenden Verantwortung bewusst geworden. Einige der wichtigsten Zeitungen organisieren nun als Fortsetzung der Strassenproteste regelmässige Diskussionsrunden und rufen dazu auf, sich aktiv daran zu beteiligen. Die Chefredaktorin von «Sme», Beata Balogová, nimmt die Medien in die Pflicht und legt den Finger auf den wunden Punkt. Sie stellt ihren Kollegen an einer Diskussion die Kardinalsfrage, wie man das Wort slušnosť, Anstand, verstehen soll – in Harmonie oder im Streit mit dem allzu ähnlich klingenden Wort poslušnosť, Gehorsam.
Die slowakische Sprache verrät nämlich, was die konfliktscheue Mentalität unter Anstand versteht – eben: Gehorsam.
Doch das ändert sich gerade. So wird aus Anstand Aufstand.
Irena Brežná stammt aus der Slowakei und emigrierte 1968 in die Schweiz, wo sie als Journalistin und Schriftstellerin arbeitet. Für ihren letzten Roman «Die undankbare Fremde» erhielt sie den Schweizer Literaturpreis 2012. Im Juli 2018 erscheint im Rotpunktverlag in Zürich ihr neues Buch «Wie ich auf die Welt kam – In der Sprache zu Hause».
In einer früheren Version lautete der Titel «Wir sind die, auf die ihr gewartet habt». Dies war ein Versehen bei der Übersetzung.