Zweiklassen-Netz
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit kämpfen Swisscom, Salt und Co. um ein umstrittenes Recht zur Sonderbehandlung: Wer zahlt, soll im Internet Vorrang haben.
Von Maren Meyer, 01.05.2018
Das Thema ist wichtig, doch das Interesse in Bern scheint gering. Lediglich eine Handvoll Parlamentarier haben sich an diesem warmen Mittwoch im März ins Hotel Bellevue Palace begeben. Geladen hat Suissedigital, ein Verband von 200 Internetprovidern. Man will die Politiker beim heiklen Thema Netzneutralität auf Linie bringen, das heisst: sie davon überzeugen, dass die Branche weiterhin selber dafür sorgen kann und wird, dass alle Daten im Internet gleich behandelt werden – und es keine entsprechenden staatlichen Regeln braucht. Eine Kellnerin reicht Apérohäppchen und füllt Weingläser auf.
Der Lobbyingeffort erstaunt nicht. Auch wenn es nicht für den Stammtisch taugt: Die Netzneutralität ist eines der politischen Themen dieses Sommers. Vor wenigen Wochen hat die dafür zuständige Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen dem Nationalrat empfohlen, auf die Revision des Fernmeldegesetzes einzutreten, die der Bundesrat vorgelegt hat. Darin enthalten ist auch ein Vorschlag zu ebendieser Netzneutralität. Für April und Juni sind in der Kommission weitere Detailberatungen vorgesehen.
Das hört sich zwar technokratisch an, ist aber für fast alle Bürgerinnen von Bedeutung – schliesslich besitzen 93 Prozent aller Schweizer Privathaushalte einen Internetanschluss. Netzneutralität bezeichnet die Pflicht von Netzbetreibern wie Swisscom, Salt oder UPC zur Gleichbehandlung aller Daten bei der Übertragung im Internet. Sie müssen alle Daten mit gleicher Qualität und Geschwindigkeit übertragen, unabhängig davon, ob beispielsweise ein Riese wie Google sie ins Netz stellt oder ein Winzling wie Ihre Nachbarin mit ihrem Blog. Das schliesst insbesondere aus, dass die Netzbetreiber von Anbietern Geld verlangen, um deren Produkte gleichberechtigt zu übertragen. Und so ihre Marktmacht ausnutzen (die eine Lesart) beziehungsweise ihre Investitionen monetarisieren (die andere Lesart).
Alle Daten sind gleich – oder?
Hinter der Schweizer Grenze ist Netzneutralität seit 2015 im EU-Recht verankert, in den USA schafft Trump das unter Obama eingeführte Gesetz gerade wieder ab. In der Schweiz hat man bisher das Thema der Branche in Selbstregulierung überlassen: Swisscom, Sunrise, UPC, Salt und die Verbände Suissedigital und Asut haben sich selbst 2014 mit den «Verhaltensrichtlinien Netzneutralität» einen eigenen Kodex verpasst. Was dieser beinhaltet, beschreibt unter anderem die Swisscom in ihrem jüngsten Geschäftsbericht: «In der Schweiz sollen alle Nutzer Inhalte, Dienste, Anwendungen, Hard- und Software nach ihrer Wahl nutzen», heisst es dort. «Vorbehaltlich behördlicher Aufforderungen sperrt Swisscom deshalb keinerlei Dienste und Anwendungen; die Informations- und Meinungsäusserungsfreiheit im Web bleiben uneingeschränkt erhalten.»
Jetzt fordert der Bundesrat in seinem vorliegenden Entwurf mehr Transparenz von den Betreibern. Er hält dort fest: «Behandeln sie Informationen bei der Übertragung technisch oder wirtschaftlich unterschiedlich, so müssen sie öffentlich darüber informieren» (Art. 12a, Abs. 2). Welche Informationen die Swisscom und Co. veröffentlichen müssen, «legt der Bundesrat fest». Kritikern wie der Digitalen Gesellschaft reicht diese neue Transparenzpflicht nicht aus. Sie fordern ein eindeutiges Gesetz, in dem ausdrücklich «jegliche Unterscheidung zwischen einzelnen Internetdiensten, -inhalten, -anwendungen und -geräten» untersagt wird. Mit einer solch klaren Regelung soll unter anderem eine Praxis unterbunden werden, die Verfechter der Netzneutralität bereits als einen Verstoss gegen das Grundprinzip erachten: das sogenannte Zero Rating.
Zero Rating bedeutet, dass Provider die Nutzung ausgewählter Internetdienste nicht auf das Datenvolumen der Abos ihrer Kunden anrechnen – sie liefern sie quasi als Extra in ihrem Paket mit. Zwei Beispiele: Wer ein Sunrise-Abo abschliesst, erhält Whatsapp für die Schweiz mit dazu, Salt-Kunden können den Musikstreamingdienst Spotify gratis nutzen. Konkurrenzdiensten wird nach Ansicht von Kritikern der Marktzutritt erschwert, womit auch Innovation gebremst wird. «Wir glauben, dass die aktuelle Situation für alle förderlich und nicht innovationshemmend ist», so Salt. Und Sunrise sagt: «Bis heute gibt es keine Anzeichen, dass ‹Zero Rating› die Innovation behindert.»
Zuschlag für das beste Angebot
Ein damals anwesender Branchenkenner erzählt, wie Salt 2016 die drei grössten Online-TV-Anbieter zu einem Treffen lud. Man sass zusammen und hörte zu, wie ihnen ein Salt-Mann einen Deal unterbreitete. Einer der Anbieter hätte die Möglichkeit, in ihre Abos aufgenommen zu werden; der Dienst könne dann gratis von den Kunden genutzt werden. Wer das beste Angebot unterbreitet, werde den Zuschlag bekommen. Ein Vorschlag, alle Web-TV-Dienste durchzulassen, wurde abgelehnt. Das Rennen war schnell entschieden: Gegen Zattoo hatten Wilmaa und Teleboy keine Chance. TV-Streaming kostet innerhalb eines Abovertrages viel Geld. Wer einen Dienst gratis zu seinem Abo nutzen kann, wird das mit grösster Wahrscheinlichkeit auch tun. Eine Verletzung der Netzneutralität hätten die unterlegenen Anbieter nicht einklagen können, denn es fehlt die gesetzliche Grundlage. Eine Klage wegen Wettbewerbsverzerrung hätte Unsummen gekostet, ein Verfahren Jahre gedauert. Salt nimmt zu diesem Fall keine Stellung. Die Option mit Zattoo werde so nicht mehr angeboten.
In der Schweiz ist Zero Rating legal. In ihrem Verhaltenskodex nehmen die Netzanbieter explizit dazu Stellung: «Insbesondere können Angebote für den Internetzugang so ausgestaltet werden, dass der Datenverbrauch gewisser Dienste nicht an die vertraglich vereinbarte Datenlimite angerechnet wird (zero rating, auch sponsored data genannt).» Generell halten Kritiker die Selbstregulierung der Branche für wenig hilfreich. «Sie haben den Kodex verfasst und sagen, sie seien für die Netzneutralität, aber was letztlich dort drin steht, hat damit nicht viel zu tun», sagt Simon Schlauri.
Der Rechtsanwalt ist auf die Regulierung der Netzwerkindustrie und das IT-Recht spezialisiert und Mitglied der Digitalen Gesellschaft. Durch den Kodex würden sich die Betreiber eine mögliche Verletzung der Netzneutralität selbst erlauben und vorbehalten. Anwendungsspezifische Massnahmen wie das Verlangsamen würden zugelassen. Zulässig sind auch sogenannte Spezialdienste wie Live-TV, Gaming oder Sprachübermittlung. Wer Swisscom-TV schaut und gleichzeitig etwas runterlädt, dem kann es passieren, dass die Datenübertragung verlangsamt wird, um die Qualität des Fernsehens nicht zu beeinträchtigen. Für Schlauri eine klare Verletzung der Netzneutralität. Doch um sicherzustellen, dass diese Dienste zu jeder Zeit funktionieren, müsse es möglich sein, zu priorisieren, sagt die Swisscom. «Wir bauen unsere Kapazitäten dauernd aus, sodass Staus immer weniger auftreten sollten.»
Gezieltes Lobbying
Mit einem Marktanteil von 73 Prozent besitzt die Swisscom die meisten DSL- und Glasfaseranschlüsse, die das Internet mit den Schweizer Haushalten verbinden. Der Konzern ist marktmächtig. Mehrheitseigentümer ist der Bund, er hält 51 Prozent der Aktien. Eine umstrittene Eigentümerstruktur. Denn wird die Swisscom vom Staat wegen Verfehlungen gebüsst, fliesst die Geldstrafe an den Bund, den Hauptaktionär der Netzbetreiberin. «Nicht nur wir sind gegen eine gesetzliche Regulierung», sagt Adrian Raass, Senior Regulatory Manager bei der Swisscom. «Der Bundesrat sieht ebenfalls keinen Handlungsbedarf.» Es gebe keine Anhaltspunkte, dass die Netzneutralität verletzt werde.
Die Swisscom ist, wie Sunrise und Salt, nicht Mitglied im Verband Suissedigital. Sie fährt ihre eigene Strategie, wie ein Beispiel vom März 2015 zeigt. Da ging eine E-Mail an eine Gruppe internetinteressierter Politiker der SP: eine Einladung zur Präsentation der neuen GDI-Studie «Die Zukunft der vernetzten Gesellschaft». In der Einladung stand: «Wir haben die Möglichkeit, mit Frau Frick sowie Stefan Kilchenmann und Stefan Nünlist von der Swisscom darüber zu diskutieren, wie das Internet unsere Gesellschaft, unser Leben, unsere Arbeit verändert, wer die ‹Spielemacher› sind und was die Chancen und Risiken davon sind.» Einen Tag vor der Veranstaltung kam eine zweite Mail. Im Anhang eine Präsentation der Swisscom «Für Innovation und Wettbewerb im Netz, eine Auslegeordnung zur Netzneutralität». Im Nachhinein sei klar gewesen, dass diese Veranstaltung der Swisscom nur als Plattform dienen sollte, um die SP-Leute von ihrer Position zum Thema Netzneutralität zu überzeugen, sagt ein Politiker. Die GDI-Studie wurde ebenfalls im Auftrag des Konzerns erstellt.
Wie gut die Lobbyisten der Swisscom im Bundeshaus vernetzt sind, erlebte Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli 2012. Damals machte er den ersten Vorstoss zur gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität in der Schweiz. Mitunterzeichner waren Parlamentarier aus SP, GLP, BDP, CVP und SVP. Nach der Zustimmung im Nationalrat wurde die Motion jedoch vom Ständerat abgelehnt. Glättli erinnert sich noch genau an den Tag, an dem er seinen Vorstoss einreichte. Zwei Stunden später bekam er einen Anruf vom Chef-Lobbyisten der Swisscom, Stefan Kilchenmann, der ihn zu einem Anlass einlud, an dem er seine Motion mit dem damaligen Swisscom-CEO Carsten Schloter hätte besprechen können. «Zu diesem Zeitpunkt war mein Vorstoss noch gar nicht öffentlich einsehbar», erzählt Glättli.
Die Swisscom bietet den Parlamentariern ausserdem einen speziellen Service für «Personen aus Ereignisdiensten oder Krisenstäben». Bei einer Krise profitieren diese Personen dann von einem priorisierten Netzzugang. Die Grünen-Politikerin Aline Trede erzählt, dass eines der besten Privilegien in ihrer Zeit als Nationalrätin der direkte Draht zur Swisscom gewesen sei. Man profitiert von einem VIP-Dienst: Wenn die Parlamentarier mit ihrem Natel-Abo ein Problem haben, müssen sie nie in die Warteschlaufe. «Diese Behandlung gehört natürlich auch zur Imagepflege der Swisscom und kann das Stimmverhalten beeinflussen, wenn man sich der Wirkung dieser Sonderbehandlung nicht bewusst ist», findet Trede. Die Parlamentsdienste bestätigen das. Bis zur letzten Legislaturperiode waren sämtliche Ratsmitglieder automatisch als VIP-Kunden im System der Swisscom markiert. Heute können sie wählen, ob sie Swisscom oder einen anderen Provider nutzen wollen. «Die Ratsmitglieder sollen und dürfen sich bei Swisscom als Ratsmitglieder zu erkennen geben, damit sie als VIP-Kunden geführt und entsprechend bedient werden», heisst es auf Nachfrage.
Neue Geschäftsmodelle
Ein Branchenkenner, der anonym bleiben möchte, wirft den grossen Netzbetreibern vor, ein digitales Zollsystem aufbauen zu wollen. Jeder, der den Kunden einen Internetservice anbieten wolle, wie etwa Youtube oder Netflix, müsse zahlen. Mit der Konsequenz, dass die meistzahlenden Anbieter im Datenfluss priorisiert werden. Wer nicht zahlen kann oder will, bleibt auf der Strecke oder wird aus dem Markt geworfen. Das kann vor allem KMU und Start-ups betreffen. Langfristig würde so eine Zweiklassengesellschaft im Netz entstehen. Die Rechnung zahlt der Kunde: Die Anbieter geben ihre Mehrkosten an ihn weiter, gleichzeitig schrumpft sein Angebot im Netz. Denn er kann nur noch die Dienste nutzen, die ihren Zoll bezahlen.
Suissedigital findet ein solches Geschäftsmodell durchaus diskussionswürdig. Es könne langfristig nicht sein, dass jedes Unternehmen den Anspruch habe, über das Internet sein Geschäftsmodell gratis verbreitet zu bekommen, um dann hundert Prozent der Gewinnmarge abzuschöpfen, sagt Geschäftsführer Simon Osterwalder. Bei diesen Überlegungen gehe es darum, den Rahmen der Diskussion zur Netzneutralität zu erweitern. Sie bezögen sich gezielt auf grosse Unternehmen wie Facebook oder Amazon. Fertige Lösungen habe man bis jetzt jedoch nicht. Tatsächlich hat gerade die halbprivate Swisscom in den letzten Jahren auf vielen Geschäftsgebieten an Marge verloren, zuletzt etwa durch die Öffnung der letzten Meile und die Senkung der Roaming-Tarife. Auf dem Telekom-Markt herrscht inzwischen auch aufgrund disruptiver neuer Angebote ein beachtlicher Preisdruck.
Den Vorwurf, die Netzbetreiber seien gegen ein Gesetz, um in Zukunft die Anbieter für den Transport ihrer Daten zahlen zu lassen, findet die Swisscom «unhaltbar». «Wir könnten die Anbieter bereits heute für den Transport der Daten zahlen lassen, wenn dies lukrativ wäre und wenn in diesem Fall keine Regulierung drohen würde», so Swisscom.
Das Argument, vor allem kleine Unternehmen würden aus dem Markt gedrängt, ist aus der Sicht von UPC nicht zu Ende gedacht. Die Frage, ob «the next Google in der Schweiz entsteht», hänge nicht vom Internetzugang ab, sondern von der Qualität des Produkts und den Werbemitteln, die das Unternehmen zur Verfügung habe, um seinen Marktanteil zu vergrössern.
Transparenz statt Regulierung
Der Bundesrat will, dass die Netzbetreiber ihre Kunden aktiv informieren. So soll es im Fernmeldegesetz stehen. Wer «zero ratet», verlangsamt oder anderweitig priorisiert, muss das dem Kunden offen darlegen. Viele Provider wie UPC, Sunrise oder Salt tun das heute schon. Stellt der Kunde eine Verletzung der Netzneutralität fest, kann er sich zudem an die neutrale Schlichtungsstelle Netzneutralität wenden. Sie wird durch die Netzbetreiber finanziert. Seit 2015 wurden acht Gesuche eingereicht. Für fünf davon war die Stelle nicht zuständig, es handelte sich um Beschwerden zu Rechnungen oder Abos. Für den Endnutzer ist es fast unmöglich, zu unterscheiden, ob die Netzneutralität verletzt wird oder die Verbindung einfach schlecht ist.
Die Digitale Gesellschaft hat nun einen eigenen Vorstoss zur gesetzlichen Regulierung der Netzneutralität eingereicht. «Solange es kein bindendes Gesetz gibt, können die Netzbetreiber theoretisch machen, was sie wollen», sagt ihr Experte Andreas Von Gunten. Es könne nicht sein, dass ein Provider durch Priorisierung bestimmter Dienste dem Endkunden vorschreibe, was er zu nutzen habe, und so andere Anbieter in ihrem Wettbewerb einschränke oder sogar behindere.
Im Hotel Bellevue Palace in Bern geht die Diskussion zu Ende. Die Politiker haben ihre Argumente gebracht, der Verband seine Position verteidigt. Es ist an der Zeit zu gehen. Der harmlose und schwach besuchte Lobbyanlass zeigt, dass sich viele Politikerinnen ebenso wenig für die Netzneutralität interessieren wie der Stammtisch. Es ist zu hoffen, dass sich das bis zur nächsten Parlamentssession ändert.
Maren Meyer, Jahrgang 1986 und ursprünglich aus Hamburg, verliebte sich während ihres Journalismus-Studiums am MAZ in die Schweiz. Und blieb. Sie schreibt vor allem über Management-, Karriere- und Unternehmensthemen in der Wirtschaftswelt. Dann packte sie das Fernweh. Fünf Monate reiste sie durch die Welt und arbeitet jetzt als freie Journalistin in Zürich.