Sparen im Übermass ist keine Tugend
Ersparnisse sind gut, Schulden sind schlecht. Handelsüberschüsse sind gut, Handelsdefizite nicht. So denken breite Teile der Öffentlichkeit in Deutschland und in der Schweiz. Leider ist alles etwas komplizierter.
Von Mark Dittli, 30.04.2018
Deutschland ist zu beneiden. Zumindest oberflächlich betrachtet.
Kein anderes Land erzielt höhere Überschüsse im internationalen Handel mit Gütern und Dienstleistungen. Auf umgerechnet rund 287 Milliarden Dollar belief sich der Überschuss in Deutschlands Leistungsbilanz allein im vergangenen Jahr. Das ist Weltrekord, vor Japan und China.
Autos, Maschinen, Chemikalien, Lastwagen, Medikamente, Versicherungsleistungen: Produkte aus Europas grösster Volkswirtschaft sind weltweit gefragt.
Was kann daran schlecht sein?
Auf den ersten Blick nichts. Deutschlands Unternehmen sind wettbewerbsfähig, ihre Produkte stossen weltweit auf rege Nachfrage.
Doch etwas stimmt an diesem Bild nicht. Denn es ist nicht normal, wenn eine derart grosse Volkswirtschaft wie Deutschland – die viertgrösste der Welt – einen Leistungsbilanzüberschuss in der Grössenordnung von acht Prozent des eigenen Bruttoinlandproduktes erzielt.
Was also steckt dahinter?
Ein wichtiger Faktor ist die Währung. Vor zwei Wochen haben wir aufgezeigt, wie die deutschen Überschüsse seit dem Start der Europäischen Währungsunion zur Jahrtausendwende stetig gestiegen sind. Die Wirtschaft hat erheblich vom Euro profitiert: Hätte Deutschland noch eine eigene Währung, wären derart hohe Überschüsse kaum möglich. Die D-Mark hätte sich aufgewertet und die Leistungsbilanz wieder ins Lot gebracht.
Heute widmen wir uns dem zweiten Faktor, der zu den Leistungsbilanz-Überschüssen beiträgt: dem wirtschaftlichen Ungleichgewicht im Inland.
Vereinfacht gesagt: Die Deutschen sparen zu viel. Ihre Überschüsse im internationalen Handel sind nichts anderes als die logische Folge ihrer eigenen Sparwut.
Um das zu ergründen, ist etwas Theorie nötig.
Eine Volkswirtschaft lässt sich vereinfacht gesagt in vier Nachfragesektoren unterteilen:
Die privaten Haushalte
Die privaten Unternehmen
Der Staat
Das Ausland
Jeder dieser vier Sektoren hat Einnahmen und Ausgaben (in Form von Konsum und Investitionen). Zum Beispiel die Haushalte: Zu den Einnahmen des Haushaltssektors zählen vor allem die Löhne. Zu den Ausgaben zählen all die Dinge, für die Haushalte ihr Geld eben verwenden: Nahrungsmittel, Kleider, Autos, Waschmaschinen, Mieten, Versicherungsprämien etc.
Sind die Einnahmen höher als die Ausgaben, spart der betreffende Sektor. Sind die Ausgaben höher als die Einnahmen, verschuldet er sich. Jeder der vier Sektoren hat also einen sogenannten Finanzierungssaldo, der in einem bestimmten Zeitraum entweder positiv (sparen) oder negativ (verschulden) sein kann.
Und nun kommt der wichtige Punkt: Die Finanzierungssalden der vier Sektoren müssen sich in einer Volkswirtschaft per Definition auf null summieren.
Immer.
Es ist also arithmetisch unmöglich, dass alle vier Sektoren gleichzeitig sparen oder sich gleichzeitig verschulden. Wenn ein bestimmter Sektor spart (etwa die Haushalte), so müssen sich zwingend andere Sektoren verschulden (etwa die Unternehmen), damit die Finanzierungssalden ausgeglichen sind.
Schauen wir uns also die sektoralen Finanzierungssalden in Deutschland an, und zwar über den Zeitraum der letzten zwanzig Jahre:
Die dunkelblaue Kurve zeigt die privaten Haushalte. Sie haben im Jahr 2016 rund 161 Milliarden Euro gespart. Die grüne Kurve zeigt die privaten Unternehmen, die hellblaue Kurve den deutschen Staat.
Das sind die drei inländischen Sektoren. Was sofort auffällt: Alle drei haben einen positiven Finanzierungssaldo. Sie geben weniger aus, als sie einnehmen. Das heisst: Sie sparen.
Im Gegensatz dazu steht das Ausland (rote Kurve). Hier ist der Finanzierungssaldo negativ. Arithmetisch ist das logisch: Wenn alle drei inländischen Sektoren sparen, muss per Definition der vierte Sektor, das Ausland, im Verhältnis zu Deutschland einen negativen Saldo aufweisen. Es geht nicht anders, denn sonst würden sich die vier Salden nicht auf null summieren.
Doch was bedeutet es genau, wenn das Ausland gegenüber der deutschen Volkswirtschaft einen negativen Finanzierungssaldo aufweist?
Ganz einfach: Das Ausland muss sich gegenüber Deutschland verschulden, um all die deutschen Produkte zu kaufen. Das ist die Kehrseite der deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse.
Oder noch anders gesagt: Deutschland hat im Inland einen Ersparnis-Überschuss. Dieser muss ins Ausland exportiert werden, damit ausländische Käufer wiederum deutsche Güter und Dienstleistungen erwerben können.
Die Sparwut ist eine Nachfrageschwäche
Deutschlands Leistungsbilanz-Überschüsse sind also nicht bloss Ausdruck einer beneidenswerten Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit. Sie signalisieren auch eine zu schwache Binnennachfrage. Die deutschen Haushalte konsumieren zu wenig, die deutschen Unternehmen investieren zu wenig im Inland. Es bleibt der deutschen Volkswirtschaft daher nichts anderes übrig, als diese Ersparnis-Überschüsse ins Ausland zu exportieren.
Dass in diesem Umfeld auch noch der Staat spart und sich dem Ziel der «schwarzen Null» verschreibt, ist vor allem eines: unsinnig.
Die Daten zu den sektoralen Finanzierungssalden stammen aus der Ameco-Datenbank der Europäischen Kommission, mit freundlicher Unterstützung von Makroskop. Die Datenbank beinhaltet makroökonomische Daten der 28 EU-Staaten sowie weiteren Staaten der OECD. Der Finanzierungssaldo der privaten Haushalte eines jeweiligen Staates ist in der Ameco-Datenbank unter dem Code «UBLH» zu finden. Die Daten zu den privaten Unternehmen tragen den Code «UBLC», der Finanzierungssaldo des Staates ist unter dem Code «UBLG» zu finden. Der Finanzierungssaldo des Auslands lässt sich aus der Summe der drei inländischen Finanzierungssalden errechnen. Er entspricht, mit umgekehrten Vorzeichen, dem Saldo der Leistungsbilanz des jeweiligen Staates.
Es ist daher nicht unbegründet, wenn die Partnerstaaten in der Eurozone oder auch die Regierung in den USA die hohen Überschüsse in der Leistungsbilanz Deutschlands kritisieren. Denn Berlin könnte sehr wohl etwas dagegen unternehmen – beispielsweise mit staatlichen Infrastruktur-Ausgaben oder steuerlichen Anreizen für Unternehmen, ihre Investitionen im Inland zu erhöhen.
Deutschland ist aber nicht das einzige Land mit einer hohen Sparneigung. Es gibt ein weiteres Land, das seine Sparüberschüsse regelmässig ins Ausland exportiert: die Schweiz.
Bei der Schweiz fällt auf: Die Sparneigung der Haushalte (dunkelblaue Kurve) ist extrem hoch. Der Staat (hellblau) spart leicht, während sich die Unternehmen (grün) in der Summe leicht verschulden.
Als Resultat dieser drei inländischen Sektoren gilt auch im Fall der Schweiz: Das Ausland muss sich verschulden. Das heisst, die Schweiz verzeichnet einen kräftigen Überschuss in der Leistungsbilanz.
Und hier ein Extrembeispiel der anderen Art, die USA:
Die amerikanischen Haushalte und Unternehmen sparen (dunkelblau und grün), während der Staat (hellblau) markante Defizite schreibt.
Als Resultat davon liegt der Finanzierungssaldo des Auslands im positiven Bereich. Das heisst: Die Leistungsbilanz ist negativ, die USA verschulden sich gegenüber dem Ausland.
Sehr schön ist in dieser Grafik übrigens der Effekt der amerikanischen Immobilienkrise von 2008 zu sehen: Vor Ausbruch der Krise lag der Finanzierungssaldo der Haushalte im negativen Bereich. Die Amerikaner verschuldeten sich im grossen Stil, um Immobilien zu kaufen und ihren Konsum zu finanzieren. Mit dem Schock der Krise stellten sowohl die Haushalte als auch die Unternehmen in den Sparmodus um, während der Staat sein Defizit ausweitete.
In jüngster Vergangenheit sinkt die Sparneigung der amerikanischen Haushalte wieder. Gleichzeitig weitet der Staat seine Defizite aus; seit Donald Trump im Weissen Haus sitzt, hat sich dieser Trend noch beschleunigt. Die logische Folge dieser beiden Effekte: Die Verschuldung gegenüber dem Ausland (rote Kurve) steigt wieder.
Diese drei Beispiele zeigen: Sparen per se ist volkswirtschaftlich betrachtet keine Tugend, genauso wenig sind Schulden eine Sünde. Es kommt auf das Mass an. Denn allen Ersparnissen müssen entsprechende Ausgaben und Investitionen gegenüberstehen. Wenn nicht im Inland, dann im Ausland.
Was ist Ihre Meinung zu den hohen Leistungsbilanzüberschüssen Deutschlands? Sind sie ein Zeichen hoher Wettbewerbsfähigkeit oder einer zu schwachen Binnennachfrage? Und wie steht es um die Schweiz? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht»: Hier geht es zur Debatte.