Judo mit Sozialdetektiven
Die Sozialdemokraten waren erst gegen das Referendum zum Gesetz über Sozialdetektive. Nun sind sie dafür. Sie tun gut daran.
Von Daniel Binswanger, 28.04.2018
In der aufkochenden Debatte um das Referendum gegen Sozialdetektive hat diese Woche Rudolf Strahm im «Tages-Anzeiger» das Wort ergriffen. Ich schätze den stets exzellent informierten, pragmatischen und realistisch-konservativen Sozialdemokraten. Seiner Empörung über das Referendum gegen das Sozialdetektive-Gesetz muss ich jedoch in aller Form widersprechen. Nicht nur, weil Strahm die Problemlage politstrategisch aus meiner Sicht völlig falsch analysiert. Nein, auch weil Strahms Fehleinschätzung symptomatisch ist für einen Grundirrtum der konservativen Sozialdemokratie.
Sicherlich: Freunde des Sozialstaates haben alles Interesse, Missbrauch zu bekämpfen und keinen Zweifel daran zu lassen, dass sie zwischen Solidarität mit den Schwachen und Tolerierung von Schmarotzertum einen strikten Unterschied zu machen wissen. Pragmatische Sozialdemokraten (oder wie Strahm an dieser Stelle unfehlbar sagen würde: Politiker, die nicht durch eine höhere Bildung verdorben worden sind, sondern eine Berufslehre gemacht haben) neigen deshalb schon lange dazu, sich bei der Missbrauchsbekämpfung als scharfe Hunde zu zeigen. Das Problem ist nur, dass diese Strategie ab einem gewissen Punkt das Gegenteil ihrer beabsichtigten Effekte bewirkt. Anstatt dass die Bekämpfung des einzelnen Betrugsfalles den Sozialversicherungen im Allgemeinen eine höhere Legitimität verschafft, stellt die panische Denunzierung von schwarzen Schafen den Sozialversicherungsempfänger als solchen unter Generalverdacht.
Wer die Paranoia des Rechtspopulismus zu offensiv entschärfen will, gerät in Gefahr, sie zu beglaubigen. Mit politischem Judo kann man sich auch selber aufs Kreuz legen.
Der Missbrauchsdiskurs ist immer das Einfallstor für Sozialabbau. Auf exemplarische Weise demonstrieren dies die Auseinandersetzungen um die IV-Revision. Alles begann damit, dass die SVP im Jahr 2003 den Kreuzzug gegen «Scheininvalide» lancierte. Seither ist die vierte, die fünfte, die sechste IV-Revision ins Land gegangen. Wenn erst einmal ein Fürsorgeproblem in ein Betrugsproblem umformatiert ist, braucht es nur noch ein zusätzliches Element, um Versicherungsstandards zu schleifen: die Insinuation, dass die Mehrheit der Betrüger Ausländer sind. So geschah es mit der IV. So geschieht es heute mit der Sozialhilfe. Das Drehbuch der Senkung von Sozialversicherungsstandards ist stets exakt dasselbe. Einer Linken, die immer wieder in dieselbe Falle läuft, mangelt es tragisch an Lernfähigkeit.
Das Sozialdetektivgesetz, so wie es nun durchs Parlament gepeitscht wurde, ist ein skandalöses juristisches Monstrum. Strahm mag recht haben mit dem Argument, dass der Anwendungsbereich der Spitzelerlaubnisse relativ überschaubar bleiben würde und dass man eine verantwortliche Handhabung erwarten könne. Es dürfte durchaus zutreffen, dass viele Sozialbehörden und Versicherungen die Überprüfungen mit Augenmass vollziehen und dass sie nur mit seriösen Schnüffeldienstleistern zusammenarbeiten.
Dennoch ist nicht wegzudiskutieren, dass private Sozialdetektive weitergehende Observierungsrechte hätten als die Polizei bei strafrechtlichen Ermittlungen. Das Überwachen ohne richterlichen Beschluss von privaten Räumen, die von öffentlichem Grund aus einsehbar sind, ist ein Novum, das einigermassen grotesk erscheint. Nur weil ein Bürger Versicherungsleistungen bezieht, soll er schlechter gestellt sein als jeder Verdächtige in einer Strafuntersuchung? Nur weil jemand Sozialleistungen bezieht, soll er ein Bürger zweiter Klasse sein? Das neue Gesetz bekämpft nicht den Betrug, es stigmatisiert den Versicherten. Es wird die Sozialversicherungen nicht sichern, weit gefehlt: Es wird sie weiter delegitimieren.
Natürlich ist es zulässig, wenn eine Behörde, die Unterstützungsleistungen erbringt, die Empfänger dieser Leistungen auch kontrollieren kann. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Inspektion und Observation. Sozialämter oder Unfallversicherungen, die Überraschungsbesuche machen, sollte man akzeptieren. Verdeckte Ermittlungen jedoch sollte man der Polizei überlassen.
Dass nach dem neuen Gesetz statt Richtern Direktionsmitglieder einer Versicherung die Befugnis haben, Überwachungen auszulösen, ist ebenfalls bizarr. Versicherungen haben ein unmittelbares Interesse daran, Kunden, die Leistungen beziehen, des Betrugs zu überführen und loszuwerden. Und eben diese Versicherungen sollen nun auch ganz allein entscheiden dürfen, mit welchen Mitteln man wann auf welche Klienten losgeht? Die Parteien werden zu Untersuchungsrichtern? Hier werden fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze mit Füssen getreten.
Und all dies, um einen Betrugsnotstand zu beheben, der nicht existiert. Natürlich gibt es Sozialversicherungsbetrug, natürlich muss er bekämpft werden. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass die Betrugsrate besonders hoch wäre und finanziell besonders stark zu Buche schlüge. Das Betrugsproblem ist überschaubar, auch ohne Spitzelmethoden, die den Grundrechtsschutz aushöhlen. Das sind die Tatsachen. Aufgabe der Politik wäre es, diesen Tatsachen Gehör zu verschaffen.
Die Sozialdemokraten tun gut daran, von ihrem vermeintlichen Realismus abzurücken und das Referendum gegen die Sozialdetektive nun doch noch zu unterstützen. Auch bei den Jungfreisinnigen und überall dort, wo man sich liberalen Werten verbunden fühlt, ist die Freude über den Wildwuchs der Observierung ja alles andere als ungeteilt. Die Schweiz braucht beides: starke Sozialwerke und im Verdachtsfall rechtsstaatlich saubere Verfahren. Aus taktischen Gründen das eine gegen das andere auszuspielen, macht in der Sache keinen Sinn. Und wird politisch keinen Gewinn bringen.
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Illustration Friederike Hantel