Hausverbot im Züri-WC
Ein 70-jähriger Schweizer wird innert zwei Monaten drei Mal wegen Hausfriedensbruch verurteilt. Es ist stets dasselbe Haus mitten in Zürich. Wieso sucht er es immer wieder auf?
Von Dominique Strebel, 25.04.2018
Ort: Zürich
Zeit: 21. Dezember 2017 bis 28. März 2018
Fall-Nr: STAZL B-6 STR 2017 10034343 vom 24.10.2017, 10036353 vom 20.11. 2017 und 10040203 vom 21.12.2017
Thema: Strafbefehle wegen mehrfachen Hausfriedensbruchs
In schöner Regelmässigkeit wird Erwin Küng* gegen Monatsende bestraft: Am 24. Oktober, am 20. November und am 21. Dezember 2017. Immer wegen des gleichen Delikts: Hausfriedensbruch. Der 70-Jährige hat also ein Haus betreten, obwohl er das nicht durfte.
Zuerst verurteilt ihn die Staatsanwaltschaft Zürich/Limmat zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 30 Franken. Dann zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Und das dritte Mal nochmals zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 30 Tagen. Offenbar hat er noch öfter ohne Einwilligung ein Haus betreten: Gemäss Strafbefehl weist «der Beschuldigte 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf». Was hat der Mann für ein Problem?
Wie die Republik kürzlich berichtete, kommt man an die Strafbefehle erst nach einem langen und zähen Hürdenlauf. Dann ist klar: Das Haus, das Küng trotz Verbot immer und immer wieder betritt, steht am Kreuzplatz 11 in Zürich. Es ist ein Züri-WC.
Der Beschuldigte wurde am 17. Oktober 2017, am 19. Oktober 2017 und am 7. November 2017 in der Toilette der Züri-WC am Kreuzplatz 11 in 8032 Zürich angetroffen, und es wurde festgestellt, dass der Beschuldigte die Nächte vom 16. Oktober 2017 auf den 17. Oktober, vom 18. Oktober auf den 19. Oktober 2017 sowie vom 6. November 2017 auf den 7. November in besagter Toilette verbracht hatte. Der Beschuldigte tat dies, obwohl er wusste, dass gegen ihn mit Schreiben vom 30. März 2015 (dem Beschuldigten am 30. März 2015 persönlich ausgehändigt) für sämtliche Züri-WC ein gültiges Hausverbot besteht.
Zürich ist – gemäss Rating des Beratungsunternehmens Mercer – die Stadt mit der zweithöchsten Lebensqualität der Welt. Trotzdem übernachtet ein 70-jähriger Schweizer in einem WC und wird deshalb ins Gefängnis gesperrt. Unbedingt. 30 Tage lang.
Erwin Küng ist ein «Obdachloser». Eigentlich wohnt er in einem Haus für betreutes Wohnen des Sozialdepartements der Stadt Zürich. Aber offenbar zieht er die Toilette am Kreuzplatz 11 vor. «Niemand muss in der Stadt Zürich unfreiwillig draussen übernachten», sagt Seraina Ludwig, Mediensprecherin der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich. «Grundsätzlich liegt es aber in der Entscheidung des Einzelnen, ob er oder sie unsere Angebote in Anspruch nimmt oder nicht.» Weshalb übernachtet Erwin Küng lieber in einem WC als in der städtischen Unterkunft? Weitere Angaben kann Ludwig «aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzes» nicht machen.
Pro Jahr spricht das Amt für Umwelt- und Gesundheitsschutz, das für die Züri-WC zuständig ist, ein bis zwei Hausverbote für städtische Toiletten aus. Die häufigsten Gründe: «Regelmässige Belästigungen von Kunden, Kundinnen oder Mitarbeitenden oder regelmässige, vorsätzliche Sachbeschädigungen», erklärt Mediensprecherin Bärbel Zierl. Was ist der Grund im Fall Erwin Küng? Wieso reicht Züri-WC gegen einen 70-jährigen Obdachlosen Strafanzeige ein? Auch Zierl kann aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine konkreten Angaben machen.
Was nützen 30 Tage Knast bei einem 70-jährigen Obdachlosen, der eine Toilette einem Haus für betreutes Wohnen vorzieht? Eine Strafe soll die Leute abschrecken, eine Straftat überhaupt zu begehen. Und sie soll einen Täter davon abhalten, erneut straffällig zu werden. Beides lässt sich bei Erwin Küng wohl nicht erreichen. Wieso wird er trotzdem bestraft? Warum etwa nimmt sich kein Sozialarbeiter der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) seiner an? Die Oberstaatsanwaltschaft Zürich «nimmt keine Stellung zur Strafart und zur Strafzumessung in Einzelfällen», erklärt Christian Philipp, stellvertretender Leiter der Kommunikation.
Da zeigt sich ein Grundproblem des Schweizer Strafrechts: Urteilen Richter, müssen sie ihr Verdikt im Detail erklären. Urteilen hingegen Staatsanwälte – und das tun sie unterdessen in sagenhaften 98 Prozent aller Strafverfahren –, müssen sie ihre Strafbefehle nicht begründen. So erfährt die Öffentlichkeit nicht, weshalb genau Erwin Küng ein «Hausverbot» in Züri-WC hat und wer da genau wovor geschützt werden muss. Die unbedingte Freiheitsstrafe von 30 Tagen leitet die Staatsanwaltschaft rein formaljuristisch her:
Aufgrund des Verschuldens von Erwin Küng, seines Vorlebens und seiner persönlichen Verhältnisse (der Beschuldigte weist 8 Vorstrafen wegen Hausfriedensbruch auf) sind die Voraussetzungen für eine bedingte Strafe nicht gegeben. Vielmehr ist davon auszugehen, Erwin Küng sei nicht bereit, sich rechtskonform zu verhalten. Eine Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeit als Sanktionen kommen nicht infrage, da diese nicht vollzogen werden können, weil Erwin Küng weder über ein ausreichendes Einkommen noch über einen festen Wohnsitz in der Schweiz verfügt.
8. April 2018, 17.45 Uhr, Züri-WC am Kreuzplatz 11. «Platz» trifft es eigentlich nicht, es ist eher eine kleine Rettungsinsel im Verkehrsfluss, der sich von Zürich-Forch und Witikon in die City wälzt. Die Nummer 11 ist ein alter Sandsteinbau mit Schieferdach. Vier Säulen und eine ausgemalte Rundkuppel zeugen von altem Glanz. Unter der Rundkuppel duckt sich ein Kiosk, mit Graffiti versprayt. Und drei Züri-WC. Zwei davon sind gratis, in Vollchromstahl und hyperfunktional. Ein Trichter dient als Klosett und Lavabo in einem. Die WC-Brille schwenkt nach oben, wenn man sein Geschäft erledigt hat. Wer hier übernachten will, muss sich mit einer Grundfläche von einem Quadratmeter begnügen. Und einer Matratze aus Stahlgitter. Für den Eintritt ins dritte WC muss man einen Franken einwerfen, dafür hat es Heizung, ein separates Lavabo, eine fest montierte Klobrille und eine Grundfläche von vier Quadratmetern. An der Wand ein Schild:
INFORMATION
Benützungszeit 15 Min.
Mit Eurokey 30 Min.
Achtung!
Tür öffnet 3 Minuten nach Aufleuchten der Warnlampe automatisch.
SOS-Taste nur im Notfall drücken.
An einem Ort, wo niemand lange bleiben will, wo Klobrillen in die Höhe schwenken, um nicht viel Platz einzunehmen, und Türen sich nach einer Viertelstunde automatisch öffnen, will der 70-jährige Erwin Küng auf einem Stahlrost von einem Quadratmeter oder einem Betonboden von vier Quadratmetern übernachten. Die Vollchromstahl-Einrichtung wirkt unzerstörbar. Von tätlichen Übergriffen ist nichts bekannt. Die Öffentlichkeit kann in dieser Zeit eines der drei WC nicht benutzen, und eine Putzequipe muss danach vielleicht sauber machen. Züri-WC und Staatsanwaltschaft geht das zu weit. Erwin Küng sitzt erst einmal 30 Tage im Knast.
* Name geändert
Illustration Friederike Hantel