Warum wir Geschichte neu denken sollten
Die Vergangenheit der Schweiz spielte sich nie nur auf nationalem Territorium ab. Sondern in verschiedenen Netzwerken mit zahlreichen Aussenstationen auf der ganzen Welt. Es braucht neue Perspektiven auf unsere Geschichte.
Von Bernhard C. Schär, 23.04.2018
Die Schweiz ist ein geschichtsverrücktes Land. Wenige Gesellschaften publizieren im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl prozentual so viele Bücher und Filme über ihre Vergangenheit und streiten sich dann so leidenschaftlich darüber. In einer Demokratie ist das grundsätzlich positiv.
Meine Kolleginnen und Kollegen und ich fürchten jedoch, dass viele dieser durchaus wichtigen Diskussionen über Marignano, den Gotthard, die Weltkriege, das Frauenstimmrecht oder die Verdingkinder zu stark als Insiderdebatten geführt werden: als Geschichte von, für und über eine fast ethnisch definierte, alteingesessene Schweiz – deren Vergangenheit auf einem kleinen Fleck Erdoberfläche relativ isoliert vom Rest der Welt stattgefunden habe.
Fakt ist aber: Nur wenige von uns können ernsthaft von sich behaupten, ihre Vorfahren seien allesamt Teil einer so verstandenen Geschichte gewesen. Für immer mehr von uns gilt: Unsere Lebens- und Familiengeschichten, aber auch jene unserer Bekannten und Freunde fanden nie nur zwischen Genfer- und Bodensee statt, sondern auch irgendwo zwischen Brasilien und Belgien, Deutschland und Äthiopien, Spanien und Sri Lanka, Portugal und den Philippinen, Italien und dem Iran, Tibet und der Türkei. Für viele von uns wird es zunehmend schwierig, schweizerischen Geschichtsdebatten zu folgen – bilden sie doch unsere eigenen Geschichten entweder gar nicht oder nur höchst partiell ab.
Es ist darum Zeit, Schweizer Geschichte neu zu denken. Wie könnten wir das konkret tun? Und weshalb sollten wir es tun? Ein Vorschlag.
Weshalb wir Geschichte neu denken sollten
Der Text von Bernhard C. Schär ist eine leicht redigierte Fassung eines Vortrags, den er anlässlich der Tagung «Von der Kolonisierung zur Globalisierung» in Bern hielt. Am Symposium, das am 19. und 20. April stattfand, kamen renommierte Historiker, Kulturwissenschaftlerinnen und Politiker zusammen, um einen neuen Blick auf die Geschichte der Schweiz zu wagen.
Um es vorwegzunehmen: Im Kern geht es um zwei Dinge. Erstens darum, den Raum der Schweizer Geschichte neu zu definieren. Und zweitens darum, die Frage der Teilnehmenden dieser Geschichte neu zu diskutieren. Was heisst das genau?
Wie alle Nationalgeschichten ging auch die Schweizer Geschichte lange davon aus, die Vergangenheit eines Landes spiele sich ausschliesslich auf dessen nationalem Territorium ab. Die Geschichtswissenschaft hat diese Vorstellung in den letzten rund zwanzig Jahren allerdings gründlich widerlegt. Ein breiter Konsens besagt heute: Die Merkmale unseres modernen Lebens entstanden nicht in isolierten nationalen Containern, sondern in einer global vernetzten Welt – seit dem 19. Jahrhundert, wie die einen meinen, oder bereits seit dem 16. Jahrhundert, wie andere sagen.
Die Schweiz war schon immer Teilnehmerin und Produkt einer gewaltvollen europäischen Expansionsbewegung.
Ein wesentlicher Grund dafür war, dass diese Welt bis vor wenigen Jahrzehnten keinesfalls primär von Nationalstaaten gestaltet wurde, sondern von Imperien. Die Schweiz war bekanntlich nie ein eigenes Imperium. Sie war aber sowohl in den imperialen Metropolen ihrer Nachbarn wie auch in deren Kolonien dauerhaft präsent.
Zum einen war sie dies in Form von Auswanderungskolonien, oft aus verarmten Unterschichten aus der Schweiz. Diese wurden zeitgenössisch auch explizit als Schweizer Kolonien bezeichnet. Zum anderen war sie das aber auch in Form von Niederlassungen schweizerischer Handelskompanien, von Missionsgesellschaften oder von schweizerischen Plantagenbesitzern. Hinzu kamen grössere Kontingente von Schweizer Söldnern in den Kolonialarmeen Frankreichs und Hollands in Amerika, Afrika und Asien. Viele dieser Schweizer Aussenstationen dienten als Brückenköpfe für Schweizer Exporte und Kapitalinvestitionen in Übersee. Aber auch als Basis für Expeditionen junger Schweizer Wissenschaftler, die vermeintlich unbekannte Territorien und «Völker» in Übersee erforschen wollten.
Der Punkt ist: Auch die Schweiz war nie ein europäisches Land, das friedlich in sich selber ruhte und sich selber genügt hätte. Im Gegenteil: Auch die Schweiz wurde von Beginn an Teilnehmerin und Produkt einer gewaltvollen europäischen Expansionsbewegung nach Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien. Die Schweiz fand nie nur in der Schweiz und nie nur in Europa statt, sondern in einem polyzentrischen Netzwerk mit zahlreichen Aussenstationen auf der ganzen Welt. Diese «Quasi-Kolonien» integrierten die Schweiz nicht nur dauerhaft in die Geschichte der Welt in Übersee. Sie brachten die Welt seit dem 16. Jahrhundert auch kontinuierlich in die Schweiz zurück – in Form von Rohstoffen, Konsumwaren, Briefen, Bildern, Kapitalgewinnen, Tieren, Pflanzen und nicht zuletzt Menschen.
Ein Vorteil, die Geschichte der Schweiz nicht als Geschichte eines kleinen Territoriums, sondern als Geschichte eines polyzentrischen Netzes mit globaler Reichweite zu verstehen, liegt auf der Hand. Sie lässt uns verstehen, dass die Schweiz weder ein Sonderfall in Europa noch eine radikale Alternative zur imperialen Globalisierung war. Sondern lediglich die lokale Variation einer imperialen europäischen Expansionsbewegung.
So viel also zum Raum, in dem sich Schweizer Geschichte abspielte. Um uns zweitens der Frage zuzuwenden, wer genau an dieser Geschichte teilgenommen hat, lohnt sich die Auseinandersetzung mit einer der zahlreichen Aussenstationen.
Frauen versichern den Asienhandel
Nehmen wir beispielsweise Singapur in den frühen 1870er-Jahren. Der Freihafen gehörte damals zum British Empire und war einer der zentralen Umschlagplätze für den Handel zwischen Asien und Europa. Dieser Handel ging freilich nicht von allein und schon gar nicht gewaltfrei vonstatten. Kontrolliert wurde er von chinesischen Zwischenhändlern auf der einen und europäischen Handelsmännern auf der anderen Seite. Sie organisierten den Transport, die Finanzierung und die Versicherung der Handelsware. Damit waren sie massgeblich am Aufbau eines Weltwirtschaftssystems beteiligt, das die europäischen Export-, Finanz- und Versicherungsindustrien aufs Engste mit den Märkten und kolonialen Plantagenökonomien Südostasiens verzahnte.
Eine wichtige Rolle spielte in dieser Geschichte auch eine kleine Kolonie von Schweizer Handelsleuten, wie Andreas Zangger in wegweisenden Büchern gezeigt hat.
Ein Blick auf das Leben dieser Kolonie-Schweizer zeigt schnell, dass das schweizerische «Wir» deutlich vielfältiger war, als uns in den Meistererzählungen der Schweizer Geschichte gerne weisgemacht wird. Während sich die meisten dieser Erzählungen in glorifizierender oder kritischer Absicht um die Handelspioniere drehen, gäbe es noch ganz andere Perspektiven, aus denen sich die Geschichte betrachten liesse.
Etwa jene der jungen Töchter der Geschäftsleute. Sie dienten nämlich als eine Art Sicherheitsgarantie für die Geschäftsbeziehungen zwischen ihren Vätern und ihren Ehemännern. Der reiche Vater investierte typischerweise in den riskanten Asienhandel. Um den Handelsmann in der Ferne besser kontrollieren zu können, gab er diesem eine Tochter zur Frau. Ehrgeizige Handelsmänner in Übersee hatten so die Chance, durch Heirat in die reichen Familien des jeweiligen Landes aufzusteigen. Und junge Frauen ohne politische Rechte in der alten Heimat konnten so in Übersee eine zwar informelle, aber doch wichtige Rolle als Überwacherinnen der schweizerisch-asiatischen Handelsbeziehungen einnehmen.
Das wäre eine der Geschichten, die in den Meistererzählungen nicht oder kaum stattfinden.
Die Handelskolonien entfalteten auf vielfältige Art Wirkung in der alten Heimat. Sie ermöglichten etwa den Import von Rohstoffen, die im Toggenburg und andernorts von Frauen, Kindern und Männern in zehnstündigen Arbeitstagen an sechs Tagen die Woche zu Billiglöhnen verarbeitet wurden. Mit ihren Briefen, abenteuerlichen Schilderungen in Lokalzeitungen, Bildern, Fotos oder ethnografischen Sammlungen beflügelten die Auslandschweizer auch kontinuierlich die kolonialen Fantasien der schweizerischen Gesellschaft zu Hause. Die vermutlich wichtigste Rolle bei all dem spielten jedoch Menschen, deren Erfahrungen bis heute in der Schweizer Geschichte kaum erzählt werden: die malaiischen, chinesischen und anderen Menschen, die unter der Fremdherrschaft einer winzigen Minderheit von weissen Europäern lebten.
Die angebliche Überlegenheit der «weissen Rasse»
Die Kolonialisten waren einerseits existenziell auf die Kenntnisse und die Arbeitskraft dieser Menschen angewiesen. Andererseits fürchteten sie sich aber auch vor der Gewalt und dem Widerstand dieser «Heerscharen von braunen Menschen». Sie versuchten daher die angebliche Überlegenheit der «weissen Rasse» zu schützen. Das zeigt sich etwa darin, dass die braunen Männer zwar Schweizer Fahnen, nicht aber Waffen tragen durften. Absolut zentral waren auch die braunen Frauen, die vielfach nicht einmal auf Bildern oder am Rande von Erzählungen auftauchen: Ohne sie als Kindermädchen, Köchinnen und nicht selten als Konkubinen wäre der koloniale Lebensstil der weissen Schweiz in Singapur schlicht nicht möglich gewesen. Kurz: Die Geschichte der globalen Schweiz ist auch eine Geschichte des Rassismus.
Genau darum muss die Frage, wer an der Schweizer Geschichte teilnimmt, neu gestellt werden. In allen Aussenstationen spielten nicht-weisse Menschen als Sklavinnen, Sklaven oder Zwangsarbeitende auf Plantagen, als Hausangestellte, Übersetzer oder Zwischenhändler oder als Projektionsfläche für rassistische und koloniale Fantasien eine Schlüsselrolle für die Schweiz. Das gilt sowohl für die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- als auch für die Kulturgeschichte: Sie entfalteten sich allesamt nie nur in der Schweiz oder in Europa – sondern immer schon weltweit.
In allen Aussenstationen spielten nicht-weisse Menschen eine Schlüsselrolle für die Schweiz.
Zusammenfassend geht es also darum, die Geschichte der Schweiz nicht mehr länger primär als eine quasiethnische Geschichte von, über und für Alteingesessene zu begreifen, die auf einem relativ isolierten Fleck europäischen Bodens stattgefunden habe. Das «Wir» der Schweizer Geschichte heisst vielmehr «wir, die wir weltweit miteinander verbunden waren», «wir, die wir unsere gemeinsame Vergangenheit aufgrund zahlreicher Machtungleichheiten zwischen uns radikal unterschiedlich erlebt haben».
Lernen für die Gegenwart
Weshalb ist es wichtig, Schweizer Geschichte so zu denken? Ganz einfach: Geschichte muss ihre Fragen an die Vergangenheit immer aus der Gegenwart heraus formulieren. Einer der wichtigsten Aspekte der Gegenwart scheint uns allerdings in den Schweizer Geschichtsdebatten systematisch zu fehlen: die Tatsache nämlich, dass wir auch heute wieder eine hoch globalisierte und zugleich zutiefst fragmentierte Schweiz sind.
Jeden Tag kleiden wir uns in Textilien und ernähren uns von Produkten, die von zahlreichen Händen weltweit gefertigt und transportiert wurden. Bei unseren Banken lagert ein Viertel des grenzüberschreitend verwalteten Vermögens dieser Welt*. Unsere Grosskonzerne erwirtschaften ihre Profite auf der ganzen Welt. Unsere Direktinvestitionen im Ausland zählen jährlich zu den Top 10 weltweit. Unsere Universitäten forschen und kollaborieren mit Partnern weltweit. Schweizer Unternehmungen beschäftigen 70 Prozent ihrer Angestellten nicht etwa in der Schweiz, sondern im Ausland – davon rund die Hälfte in Asien und in den Amerikas. Das Bundesamt für Statistik schreibt 40 Prozent von uns einen sogenannten Migrationshintergrund zu.
Gleichzeitig hat jeder und jede Vierte von uns keine Schweizer Staatsbürgerschaft und damit keine politischen Rechte in diesem Land. Forschende aus den Sozialwissenschaften sagen: 25 Prozent von uns seien fremdenfeindlich, 10 Prozent gar offen rassistisch, und die Zahl gemeldeter rassistischer Gewalt nehme jährlich zu. Jene unter uns ohne weisse Hautfarbe, ohne «typischen» Schweizer Namen, ohne primär christliche Sozialisation, ohne Schweizer Muttersprache oder jene, die ein Kopftuch tragen, müssen in der Schule, bei der Arbeit, bei der Wohnungssuche oder im Gesundheitswesen strukturell höhere Hürden überwinden als der Rest von uns.
Und obschon wir allesamt eine gemeinsame Vergangenheit mit der Schweiz in der Welt teilen, erfahren unsere Kinder immer noch zu wenig darüber im Geschichtsunterricht und fast gar nichts in populären Geschichtsshows am Fernsehen, im historischen Museum, in populären Geschichtsmagazinen, in Blogs oder Zeitungsartikeln. Und auch viel zu wenig in den Geschichtsbüchern.
Das ist nicht nur für jene von uns ein Problem, die nicht vorkommen, sondern auch für jene von uns, die darin die Hauptrolle spielen. Denn gerade weil wir eine gemeinsame Vergangenheit in der Welt teilen, kommen wir nicht darum herum, auch unsere Gegenwart und Zukunft in der Schweiz gemeinsam zu gestalten.
Das kann uns aber nur gelingen, wenn wir weder die Schweiz noch Europa, sondern die Welt als Bühne der Schweizer Geschichte begreifen. Und uns vergegenwärtigen, dass dies vor allem eine imperiale Welt war. Wir müssen lernen, diese Geschichte aus der Perspektive aller weltweit daran Beteiligten zu deuten. Nur dann gelingt es uns, eine politisch aufgeklärte Haltung zum Problem zu finden, wie wir mit den massiv ungleich verteilten Privilegien, Hürden, Bürden und Miseren umgehen wollen, die uns die gemeinsame Vergangenheit vererbt hat.
Dr. Bernhard C. Schär arbeitet an der ETH Zürich am Lehrstuhl für die Geschichte der modernen Welt. 2015 erschien von ihm das Buch «Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer Imperialismus in Südostasien um 1900». Es gilt als Grundlagenwerk für die neuere globalgeschichtliche Analyse der Schweiz.
*In einer früheren Version hiess es hier: «Unsere Banken verwalten ein Viertel des Reichtums dieser Welt.»