Nerds retten die Welt!
Folge 4: Gespräch mit Odile Fillod, Ingenieurin und Kognitionswissenschaftlerin.
Von Sibylle Berg, 17.04.2018
Odile Fillod ist Ingenieurin und Kognitionswissenschaftlerin,
unabhängige Forscherin in Sozialstudien biomedizinischer Wissenschaften.
Frau Fillod arbeitet freiberuflich in Paris. Eine der letzten aufsehenerregenden Arbeiten von Frau Fillod ist das von ihr entwickelte 3-D-Klitoris-Modell und dessen Open-Source-Code.
Guten Morgen, Frau Fillod. Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Frage verstehe. Auf jeden Fall kann ich Ihnen sagen, dass ich jeden Tag um den Zustand der Welt besorgt bin.
Es scheint, Sie haben die Frage richtig verstanden. (Das Gespräch wurde in Englisch geführt, was Frau Fillod perfekt, ich so wie alles – also einigermassen – beherrsche.) Gelingt es Ihnen, Ihren Beruf in drei Sätzen zu beschreiben?
Früher hatte ich einen Beruf, aber jetzt nicht mehr: Meine Tätigkeit ist im Wesentlichen freiwillig. Ich bin freiberufliche Forscherin im Bereich wissenschaftliche Sozialstudien. Hauptsächlich untersuche ich die Erstellung und die Verbreitung von Forschungsdaten hinsichtlich biologischer Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Basierend auf meinen Forschungen schreibe ich Beiträge, ich halte Vorträge, blogge, gebe Interviews ...
«Die Sexualität von Frauen und ihre Geschlechtsorgane werden nach wie vor hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für Fortpflanzung und männliche Lust betrachtet.»
Welche Struktur haben Sie sich für Ihre Arbeit eingerichtet? Gibt es für Sie so etwas wie einen normalen Arbeitstag?
Als mein Sohn jünger war, erklärte er immer, meine Arbeit sei «computern», das heisst «etwas mit einem Computer machen». Ich denke, das fasst es ziemlich gut zusammen. Ich sitze vor meinem Computer, lese, denke und schreibe, wobei ich mit ziemlich vielen Leuten interagiere – wenn auch meistens per E-Mail – und regelmässig vergesse, zu Mittag zu essen.
Bevor wir über die Problematik der Mittagsmahlzeit reden, nach der man immer müde wird und den halben Tag verliert – können Sie mir Ihren wissenschaftlichen Werdegang erklären? Das interdisziplinäre Studium der Kognitionswissenschaft besteht, so weit ich weiss, aus Gebieten der Informatik, der Linguistik, der Neurowissenschaft und der Philosophie. Anders gefragt: Was zum Teufel lernt man da?
Mein Werdegang begann im Ingenieurwesen, und ich habe einen Master in Kognitionswissenschaft. Nach dem Abschluss meines Studiums an der Ecole centrale in Paris arbeitete ich etwa zwölf Jahre lang als Ingenieurin, zunächst als Beraterin in der Informationstechnologie, dann in einer Bank. Dann besuchte ich ein Masterstudium in Soziologie; ich hängte meinen Job an den Nagel und begann eine Doktorarbeit in Soziologie, die ich nach fünf Jahren aufgab. Einer der Gründe, warum ich meine Dissertation aufgab – und warum ich jetzt als Freiberuflerin arbeite –, war, dass es nicht mehr wirklich Soziologie war, und weil ich mich sehr tief in die interne Kritik der Bereiche, die ich studierte, vertieft habe. In diesen fünf Jahren und den folgenden Jahren wurde ich zur Spezialistin für biologische Studien über die zerebralen, kognitiven Verhaltensunterschiede zwischen Frauen und Männern. Manchmal mische ich mich sogar in die Erstellung neurowissenschaftlicher Schriftstücke auf diesem Gebiet ein.
Dann wurde ich dazu gebracht, meine Arbeit und Überlegungen auf andere tatsächliche oder vermeintliche biologische Unterschiede auszuweiten. Meine Arbeit an der politischen Nutzung dieser wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen Diskurse führte mich auch zum «Flirt» mit der Moralphilosophie.
Wäre ich Alexander Kluge, würde ich jetzt leise raunen: «Im Deutschen wird Ethik in der Tradition Ciceros als Moralphilosophie bezeichnet.» Fragen, die vor allem die Fähigkeit des Fragenden zeigen, sich gute Stichworte zu machen. Wie und wann begann sich aus Ihrem Wissen ein konkreteres Arbeitsgebiet zu entwickeln? Gab es Schlüsselmomente?
Mitte der Neunzigerjahre begannen sich die Evolutionspsychologie, die auf das Geschlecht angewandt wurde, wie auch Neuroimaging-Studien, die angeblich die biologischen Grundlagen kognitiver, verhaltensbezogener und letztlich sozialer Unterschiede zwischen Frauen und Männern aufzeigten, in der Populärwissenschaft, den Medien und der Mainstreamkultur zu verbreiten. Mir wurde langsam klar, dass mit diesen Diskursen etwas nicht stimmte. Ich brauchte zehn Jahre, nachdem ich vergeblich nach soliden Studien über dieses Phänomen gesucht hatte, um zu erkennen, dass ich sie selbst erstellen musste, und um zu entscheiden, dass es sich lohnte, alles liegen zu lassen und mich dieser Sache zu widmen.
Und es hört nicht auf. Im Moment wird ja angeblich nachgewiesen, warum Frauen kein Interesse daran haben, IT zu studieren. Ich fand diesen Film auf Empfehlung von Julian Assange.
Der damit die Thesen des Ex-Google-Software-Ingenieurs James Damore verteidigen will.
Jedes Land erlebt gerade eine starke, oft konservativ-populistische Gegenbewegung zum Kampf der Frauen um eine menschliche Gleichberechtigung. Es werden wieder einmal klassische Frauen- und Männerbilder und die traditionelle Familie propagiert, was meiner Meinung nach immer mit Angst und Schwäche, aber auch mit wirtschaftlicher Unsicherheit und der simplen Sorge um männlich besetzte Arbeitsplätze zu tun hat. Was ist der aktuelle Stand der Konflikte in Ihrem Land?
In Frankreich verweilt die Bewegung gerade ein wenig in Bereitschaftshaltung, weil die Regierung es vermeidet, etwas zu tun, was sie wiederbeleben würde. Aber sie wäre mit Sicherheit startklar, wieder zu reagieren, wenn es darum ginge, den Kampf gegen Genderstereotypen in der Schule von neuem aufzunehmen, der unter ihrem Druck im Jahr 2014 aufgegeben werden musste.
Ferner sind Negierung, Ignoranz, Missbrauch oder Fehlinterpretation von Wissenschaft leider Teil einer breiteren Bewegung, die auch in fortschrittlichen Kreisen am Werk ist.
Apropos geschmeidige Übergänge – lassen Sie uns von der Klitoris reden.
Das Wissen um dieses Organ soll bis in die Renaissance zurückreichen. Warum ist populär über die Beschaffenheit und die Funktion der Klitoris bis heute so wenig bekannt?
Die Klitoris wird in zwei griechischen medizinischen Abhandlungen Ende des ersten, Anfang des zweiten Jahrhunderts erwähnt, wobei die zweite sogar der Ursprung des Wortes Klitoris ist; aber ihr verborgener Teil wurde in den 1550er-Jahren von italienischen Anatomen entdeckt. Tatsächlich wissen wir viel über das Wesen und die Funktion der Klitoris, welche in etwa mit Wesen und Funktion des Penis übereinstimmen. Das Problem ist, dass dieses Wissen nicht gelehrt wird, es nicht Teil der allgemeinen Kultur geworden ist. Der Grund dafür ist recht einfach, glaube ich: Es liegt daran, dass die Klitoris keinem anderen Zweck dient als der sexuellen Lust von Frauen, ohne Beziehung zur Fortpflanzung und zu dem, was Männern Freude bereitet, wenn sie Sex mit Frauen haben.
Hatten Sie, als Ihnen die Idee kam, ein Modell der Klitoris anzufertigen, direkt an die Realisierung durch 3-D-Drucktechnik gedacht, oder erwogen Sie erst 1.0-Herstellungsmöglichkeiten?
Zuerst wollte ich ein 3-D-Modell in tatsächlicher Grösse erstellen, damit ich es in einem Lehrvideo zeigen könnte. Ich bat eine befreundete Künstlerin, Marie Docher, eine nach meinen Anweisungen zu modellieren, und sie legte mir nahe, ein druckfähiges 3-D-Modell zu erstellen. Ohne sie gäbe es dieses 3-D-Modell nicht!
Interessiert Sie das 3-D-Drucken generell oder nur zweckgebunden?
Es war nur für diesen Zweck.
Wie genau haben Sie praktisch den Aufbau der Klitoris, die zum grössten Teil im Inneren des Körpers liegt, studiert? Gab es Skizzen, Präparate?
Ich habe die erhältliche wissenschaftliche Literatur zu diesem Thema sehr gründlich durchgesehen und darauf aufbauend Skizzen angefertigt. Dann bat ich das Fab Lab der Cité des sciences in Paris, mir zu helfen, diese Skizzen in ein druckfähiges 3-D-Modell umzuwandeln. Wir mussten ziemlich schnell arbeiten, und so war ich mit dem ersten Modell nicht vollauf zufrieden. Deshalb habe ich im Dezember 2016 eine verbesserte Version erstellt, mit Unterstützung eines «3-D-Geeks» und eines motivierten Naturwissenschaftslehrers.
Wie weit ist das Vorhaben gediehen, Ihr Modell in allen französischen Schulen zum Bestandteil des Sexualkundeunterrichts zu machen, und wie ist die Situation dieses Faches in Frankreich generell?
Ich hatte nie einen so ehrgeizigen Plan. «The Guardian» fabulierte, mein Modell würde an allen französischen Schulen verbreitet werden, und viele ausländische Medien griffen diese Information auf, aber sie ist nicht wahr. Ich weiss nur, dass einige es im naturwissenschaftlichen Unterricht benutzen – ich habe keine Ahnung, wie viele Leute dies tun. Der Zustand der Sexualerziehung in Frankreich ist alles andere als glanzvoll: Das Gesetz, das drei Unterrichtseinheiten pro Jahr vorschreibt, wird nicht angewandt, die Pädagogen sind schlecht ausgebildet, falsche Vorstellungen und sexistische Darstellungen werden in diesem Zusammenhang verbreitet, es gibt keine Programme, keine Evaluationen ... Und über sexuelle Lust zu sprechen, und nicht nur über Reproduktion, Verhütung und Geschlechtskrankheiten, wird immer noch als sensibler Bereich erachtet. Das ist einer der Gründe, warum Professoren wenig oder gar nicht über die Klitoris sprechen und warum das Bildungsministerium nicht den Mut aufbringt, sich in diesem Bereich zu engagieren. Nur vereinzelte Individuen tun etwas. Mancherorts. Manchmal.
Wie enttäuschend. Wenn jedes Kind in der Schule lernen würde, dass die Klitoris kein kleiner Punkt irgendwo da unten ist, den der Penis mit etwas Glück auch reizen kann, sondern ein grosses Organ, dessen Funktion der des Penis ähnlich ist, nur dass es allein der Lust dient, würde das ja vermutlich die Sexualität der nächsten Generation vollkommen verändern.
In der Tat, das glaube ich.
Mädchen würden lernen, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn sie keine befriedigende Sexualität erleben, oder sie würden auch nur eine Ahnung haben, wie man masturbiert. Sie würden lernen, dass ihre Sexualität keineswegs etwas empfangend Passives ist.
Genau.
Apropos: War es Freud, der die Legende vom Orgasmus erfunden hat? Und wem haben wir den geheimnisvollen G-Punkt zu verdanken? Statt Mädchen und Frauen zu vermitteln, wie ihre Sexualität funktioniert, nämlich relativ einfach, wurden Generationen auf die Suche nach inneren Orten geschickt, die immer mit Frustration enden musste.
In den 1880er-Jahren legten in Europa mindestens zwei Ärzte dar, dass die Vagina die Hauptquelle der Lust bei Frauen sei: Pierre Garnier in Frankreich und Richard von Krafft-Ebing in Österreich in seiner berühmten «Psychopathia sexualis». Von Krafft-Ebing führte die Vorstellung ein, dass bei Jungfrauen die Klitoris die Quelle der Lust sei und die Vagina und der Gebärmutterhals nach der «Defloration». Diese Theorie wurde in Freuds Theorie der Entwicklung der «Weiblichkeit» aufgenommen. Eduard Hitschmann und Edmund Bergler, zwei in die USA emigrierte österreichische Psychoanalytiker, prägten dann in ihrem 1936 erschienenen Buch über die weibliche Frigidität den Begriff «Vaginalorgasmus». Frigidität wurde von ihnen als die Unfähigkeit definiert, einen «vaginalen Orgasmus» zu erreichen, und für sie war schon die Stimulation der Klitoris ungesund und deutete auf ein psychologisches Problem hin, das im Zusammenhang mit der Weigerung stand, seinen Platz als Frau in der Gesellschaft anzunehmen.
Die Geschichte des G-Punkts ist unabhängig von der des «vaginalen Orgasmus». Im Jahr 1950 beschrieb Gräfenberg die weibliche Ejakulation, und er wies darauf hin, dass sie mit sexuellem Vergnügen und nicht mit Lubrikation verbunden sei. Es waren Frank Addiego und seine Kolleginnen, darunter Beverly Whipple, die 1981 zu Ehren von Gräfenberg den Begriff G-Punkt prägten, basierend auf der Fallstudie einer Frau, die den Orgasmus zusammen mit der Ausscheidung von Flüssigkeit aus der Harnröhre bei manueller Stimulation einer Fläche ihrer vorderen Vaginalwand beschrieb.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund dafür, dass gerade in der heterosexuellen Sexualität bis heute so eine grosse Unwissenheit über die weibliche Sexualität und die weiblichen Geschlechtsorgane herrscht?
Wir leben seit langem in einer Kultur, die phallokratisch, androzentrisch und zudem von einer gewissen religiösen Sexualmoral geprägt ist, die nicht reproduktive Sexualität verurteilt. In diesem Zusammenhang werden die Sexualität von Frauen und ihre Geschlechtsorgane im Grunde genommen nach wie vor hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für Fortpflanzung und männliche Lust betrachtet. Alles, was ausserhalb dieses Rahmens liegt, wird tendenziell ignoriert oder abgelehnt: die zentrale Aufgabe der Klitoris, die Tatsache, dass Frauen eine eigenständige und aktive Sexualität haben können und nicht nur eine reaktive oder passive, die Tatsache, dass die vaginale Penetration durch einen Penis selten die beste Methode ist, um einen Orgasmus zu erreichen, und so weiter.
Was meinen Sie: Ist das Desinteresse vieler Männer oder ihre Angst vor der weiblichen Sexualität der Grund dafür, dass immer noch eine absurde Unwissenheit über die Klitoris und ihre Funktionsweise besteht? Könnte die männliche Angst, dass ein Penis nicht zwingend erforderlich ist, damit eine Frau Orgasmen hat, ein Grund sein? Oder ist es vielen einfach zu anstrengend, trotz ihrer Erregung so komplizierte Bewegungen wie das Reiben der Klitoris durchzuführen?
Männer haben etliche Gründe, Angst vor der Klitoris zu haben: Ihre grundlegende Homologie mit dem Penis untergräbt die beruhigende Hierarchie zwischen jenen, die «etwas zwischen den Beinen haben», und jenen, die es nicht haben; sie hinterfragt eine Grundlage männlicher Identität, die um den Wert von Penisgrösse, Erektionsfähigkeit und sexueller «Macht» herum aufgebaut ist; das Verständnis ihrer zentralen Rolle zerstört die Vision des Penis als Zauberstab, der par excellence die Quelle des sexuellen Vergnügens der Frauen wäre, und droht damit, dass Frauen auf Männer verzichten – oder sie loswerden – können; sie stellt die typischen sexuellen Szenarien infrage, die sich ausschliesslich auf das männliche Vergnügen konzentrieren – die Frau soll sexuell befriedigt werden, indem in sie eingedrungen wird, das heterosexuelle Liebesverhältnis endet, wenn der Mann ejakuliert hat und seine Erektion endet ...
Dass es für den Penis und die männlichen Sexualorgane wunderbare Modelle gibt und von den weiblichen Geschlechtsorganen nicht, ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass Sexualwissenschaft, wie alle Bereiche der Wissenschaft und der Gesellschaft, männlich geprägt war?
Diese Erklärung erscheint mir etwas kurz und ungenau, zum einen, weil Frauen bereits seit Jahrzehnten in der Medizin und der Biologie sehr präsent sind, zum anderen, weil es Männer waren, die die Klitoris in der Geschichte sehr detailliert beschrieben haben, wie Georg Ludwig Kobelt, der nicht zögerte zu bekräftigen, dass die sexuelle Lust bei Frauen von diesem Organ und nicht aus der Vagina kommt, oder wie Alfred Kinsey, der Mitte des 20. Jahrhunderts die wissenschaftliche Sexualforschung gründete, auf der Schlüsselrolle der Klitoris bestand und der Ansicht war, dass die Konzentration auf die Vagina das Ergebnis einer kulturellen männlichen Dominanz sei.
Meines Erachtens liegt das Problem eher in der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Gesellschaft und der allgemeinen Kultur – ein Wissen, das in diesem Fall, wie bereits gesagt, als gefährlich oder nutzlos angesehen wurde.
Ausserdem standen viele Frauen ebenfalls hinter dem Mythos des vaginalen Orgasmus und anderen sexistischen, frauenfeindlichen und konservativen psychoanalytischen Vorstellungen von Sexualität und Genitalien. Ich denke zum Beispiel an Françoise Dolto, eine in Frankreich sehr beliebte Psychoanalytikerin, und auch andere Psychoanalytikerinnen arbeiten leider heute noch in die gleiche Richtung. Hier gibt es ein Problem, das Frankreich im Besonderen betrifft, denn eine bestimmte dogmatische Psychoanalyse hat einen erheblichen Einfluss auf uns behalten, der glücklicherweise überall sonst auf der Welt verloren gegangen ist.
Aber dahinter steckt sicherlich auch eine grössere politische Bedeutung.
Tatsächlich hilft es, die Klitoris unsichtbar zu machen …
Oder sie zu entfernen …
… um eine patriarchale und heteronormative gesellschaftliche Organisation aufrechtzuerhalten, ihren Einsatz abzuwerten oder gar zu pathologisieren, wie es Hitschmann und Bergler in diesem Zusammenhang ausdrücklich getan haben. Es ist kein Zufall, dass feministische Aktivistinnen regelmässig die Initiative ergreifen, die Klitoris in den Vordergrund zu stellen, wie Ruth Herschberger in «Adam’s Rib» (1948, USA), Anne Koedt in «The Myth of Vaginal Orgasm» («Der Mythos des vaginalen Orgasmus», 1970, USA), die kollektiven feministischen Autoren von «A New View of a Woman’s Body» («Ein neuer Blick auf den Körper einer Frau», 1981, USA) oder neuerdings in Frankreich das Kollektiv Osez le féminisme! («Wagt den Feminismus!»), das 2011 eine Informationskampagne mit dem Titel «Osez le clito!» («Wagt den Kitzler!») durchführte.
In Ihrem Blog «Allodoxia – Kritisches Beobachtungsinstrument der populären Darstellung von Wissenschaft» kritisieren Sie Studien der angeblichen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Hirnen, auf deren Grundlagen Geschlechterklischees reproduziert werden, und die ungebremste Leidenschaft, mit der sich einige Wissenschaftler mit vermeintlichen naturgegebenen Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen beschäftigen.
Statistisch signifikante Unterschiede zwischen Probandengruppen werden in wissenschaftlichen Fachjournalen mit grösserer Wahrscheinlichkeit veröffentlicht als sogenannte Nullbefunde. In der Geschlechterhirnforschung sei es allerdings besonders gravierend. Cordelia Fine, die an der University of Melbourne in Australien arbeitet, berichtete von Nullbefunden. Das liege an der grossen Selbstverständlichkeit, mit der in Studien gezielt auf Geschlechterunterschiede hin getestet werde. Gibt es für die manipulative oder simplifizierte Wiedergabe von Forschungsergebnissen noch andere Gründe, als ein patriarchales Dominanzmodell aufrechtzuerhalten?
Nun, es ist ein sehr weites Thema … Ich habe gerade einen über einstündigen Vortrag gehalten, um einige Antworten auf diese Frage zu geben, und ich kann ihn in diesem Interview nicht in zwei Zeilen zusammenfassen, sondern nur sagen, dass die Dinge weitaus komplizierter sind als das. Um ein Beispiel zu nennen, das diese Komplexität beleuchtet: Es geschieht insbesondere im Namen eines bestimmten (essenzialistischen) Feminismus, dass fragwürdige Forschung über die Unterschiede zwischen Frauen und Männern produziert und falsch ausgewertet wurde.
Im deutschen Diskurs ist eines der wichtigsten Werke (dem hinteren Platz, den das Land im Europavergleich in Sachen Gleichberechtigung einnimmt, geschuldet) von einem Mann verfasst worden: Rolf Pohl’s «Feindbild Frau». Seine These ist, dass sich über die Jahrtausende an dem tief verwurzelten Hass einiger Männer Frauen gegenüber nicht viel geändert hat. Haben Sie eine These entwickelt, warum das so ist? Geht es simpel nur um Macht und deren Erhalt?
Meine Überzeugung ist, dass die Grundlage dafür weniger im Willen der Männer liegt, ihre Macht oder Privilegien konkret zu erhalten, als im Bedürfnis, ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten und das zu bewahren, was im Zentrum ihrer Identität steht: die Vorstellung, dass sie Männer sind und dass ein Mann, ein echter Mann, anders zu sein hat als Frauen und über ihnen zu stehen hat.
Erleben Sie in Frankreich auch gerade einen Rückschritt in Belangen der Gleichberechtigung und der Aufklärung, der Toleranz und des Akzeptierens von Wissenschaft durch das Erstarken der Rechtspopulisten? Und den Wunsch vieler nach klaren, bekannten Parametern zur Einordnung der Welt?
Ja, aber Negierung, Ignoranz, Missbrauch und Fehlinterpretation von Wissenschaft sind leider Teil einer breiteren Bewegung, die auch in fortschrittlichen Kreisen am Werk ist.
Der momentanen Sehnsucht nach einfachen Erklärungen geschuldet. Auch über die genaue Bedeutung von Gender und Geschlecht herrscht eine populäre Unwissenheit. Soziologisch betrachtet ist Geschlecht eine Strukturkategorie. Geschlechtszuweisungen bestimmen unsere gesellschaftliche Positionierung, demnach macht das Geschlecht einen wesentlichen Teil unserer Identität aus. Geschlecht umfasst aber auch biologische Aspekte. Wie würden Sie Geschlecht definieren?
Das hängt vom Kontext ab. Ich für meinen Teil verwende dieses Wort in zwei sehr unterschiedlichen Bedeutungen. Wenn ich von Gender als einem System spreche, beziehe ich mich auf alles, was in der Kultur, den sozialen Beziehungen und den materiellen Lebensumständen vorhanden ist, Individuen je nach Geschlecht bestimmte Funktionen, Orte, Rollen zuschreibt und sie dazu drängt, bestimmte Fähigkeiten und bestimmte Verhaltensweisen zu entwickeln und nicht andere. Wenn ich von Gender von Menschen spreche, dann meine ich damit alles, was ihnen Charakteristika zuschreibt, die gesellschaftlich als mehr oder weniger feminin oder mehr oder weniger maskulin kategorisiert sind.
Meine Gespräche mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in letzter Zeit geben mir Hoffnung. Wollt ich nur mal schnell anmerken. Ihre Arbeit verändert die Welt.
Wenn ich das nur könnte! Nett, dass Sie das sagen.
Waren Sie schon immer politisch, oder wann ist der Wille, konkret etwas zu ändern, entstanden? Und wodurch?
Seit meiner frühesten Kindheit war ich immer sowohl über Ungerechtigkeit als auch über ihre falschen Rechtfertigungen empört, wahrscheinlich, weil ich sehr früh und sehr direkt damit konfrontiert wurde. Aber es dauerte lange, bis mir klar wurde, dass ich aktiv werden und etwas bewegen konnte.
Woran arbeiten Sie im Moment?
Ich führe viele verschiedene Projekte parallel durch. Am konkretesten arbeite ich derzeit an der Analyse bestimmter Diskurse über gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern sowie an einem neurowissenschaftlichen Forschungsprojekt, das ich aufzubauen versuche. Ich muss auch bald einen Text über egalitäre Sexualerziehung liefern, Teile meiner Website Clit’info «entgiften» und die Kategorie «Geschichte» mit Unmengen von Dingen füttern, die mir auszuarbeiten bislang die Zeit fehlte. Ich arbeite in mehreren antisexistischen Erziehungsprojekten in Frankreich und im Ausland mit ...
Es ist unwahrscheinlich, dass wir noch eine wirkliche Gleichberechtigung erleben, die ja vermutlich mit einer Gleichheit der Kapitalverteilung zu tun hat. Was kann jede Frau dazu beitragen, diesen Prozess zu beschleunigen, der immer wieder mit circa 150 Jahren angegeben wird? Vermutlich, um uns zum Aufgeben zu bewegen.
Diese Art von Schätzung ist Blödsinn, keine Wissenschaft. Gleichheit tritt vielleicht niemals ein oder geschieht im Gegenteil schneller. Sozialer Fortschritt ist kein natürliches Schicksal von Gesellschaften: An ihm muss konkret gearbeitet werden, um sicherzustellen, dass er stattfindet, und Fortschritt hängt konkret von verschiedenen Machtverhältnissen ab, die sich mit der Zeit entwickeln dürften.
Es liegt an jeder Frau – und jedem Mann –, darüber nachzudenken, was sie oder er tun kann. Es kann durch die Erziehung geschehen, die Sie Ihren Kindern vermitteln wollen, durch die Verhaltensweisen, die Sie zu übernehmen oder nicht länger zu übernehmen entscheiden können, durch die Beteiligung an militanten Aktionen zugunsten von Gesetzesänderungen oder an militanten Aktionen, die einfach darauf abzielen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen, durch die Herstellung von Werkzeugen intellektueller oder konkreter Art im Dienste der Gleichheit ...
Ich bin sehr glücklich über diese Antwort. Sie macht Mut. Und der ist nötig, um aktiv zu werden. Aktiv werden ist immer mit Angst verbunden, denn man setzt sich aus. Im Moment scheint es, als befänden wir uns alle in Lars von Triers Film «Melancholia». Ein Komet rast auf die Erde zu, und wir hampeln hier unten in alten Rechts-links-Schemen herum und versuchen den Rückschritt, den Diktatoren und Autokraten mit neoliberalen nationalistischen Ideen bewirken, zu bekämpfen ...
… ja, und zugleich erscheint mir der Zustand so katastrophal – ökologisch, ideologisch, sozioökonomisch und hinsichtlich der für die Aufrechterhaltung von Demokratien notwendigen Grundlagen –, dass ich mir sage, dass dies zwangsläufig einen Rückstoss, eine gesunde Reaktion hervorrufen wird. Ich versuche, optimistisch zu sein.
Haben Sie eine Idee, wie die Menschheit zu retten wäre?
Die Zerstörung des Gendersystems würde schon viel helfen.
Frau Fillod, ich danke Ihnen für Ihren Kampfgeist und Ihre Zeit.
Illustration Alex Solman